Im Oktober 2016 wurde es unruhig am New Yorker Amtssitz der Vereinten Nationen. Kanada startete eine Initiative zur Behandlung des Themas Syrien in der UN-Generalversammlung. Beim Generalsekretär ging Mitte Oktober ein Brief mit 70 Unterschriften ein, in dessen Folge die Generalversammlung am 20. Oktober zusammentrat und ein Ende der Bombardierung Aleppos, die Wiederherstellung der Waffenruhe und Zugang für humanitäre Helfer forderte. Die breite Unterstützung für die Einberufung der Generalversammlung (auch Deutschland zeichnete den kanadischen Brief) und für die drei Forderungen setzten ein Zeichen gegen die weit verbreiteten Gefühle von Wut und Hilflosigkeit im Anblick der in Aleppo täglich verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Vorher waren in UN-Kreisen stärkere Signale diskutiert worden. Die Liste reichte von Suspendierung der syrischen Stimmrechte über einen Ausschluss von Damaskus aus der UN-Familie bis hin zum Einsatz des Internationalen Strafgerichtshofs zur Verfolgung möglicher Kriegsverbrechen. Die Kanadier wollten zunächst in der Generalversammlung auch die Frage diskutiert haben, ob in Sachen Syrien nicht auch die Einberufung einer „Notstandssondertagung“ (Emergency Special Session) der Generalversammlung auf der Grundlage der Resolution „Uniting for Peace“ von 1950 infrage käme. Offensichtlich gab es dafür keine ausreichende Unterstützung.
In den aktuellen Krisen von der Ukraine über Syrien bis nach Afrika spielen die UN keine überzeugende Rolle.
In der gegenwärtigen weltweiten Krisensituation bräuchte die Welt eigentlich starke, handlungsfähige Vereinte Nationen, die ihrer Verantwortung für den Weltfrieden gerecht werden. Ganz offensichtlich ist die Weltorganisation mit ihren 193 Mitgliedstaaten aber im Moment nicht imstande, die auf sie gerichteten Erwartungen auch nur annähernd zu erfüllen. In den aktuellen Krisen von der Ukraine über Syrien bis nach Afrika spielen die UN keine überzeugende Rolle. Die Dauerblockade aller Reformvorschläge macht sich schmerzlich bemerkbar.
Schon seit dem Jahr 2005 bemüht sich Deutschland im Rahmen der „G4“ – zusammen mit Brasilien, Indien und Japan – beharrlich um eine Reform und Modernisierung des Sicherheitsrats. Es ist grotesk, dass dort die offiziellen Atomstaaten China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA als ständige Mitglieder das Sagen haben, während die zwei Kontinente Afrika und Lateinamerika überhaupt nicht vertreten sind. Mit ihrem Vetorecht sind die „P5“ faktisch nicht sanktionierbar und können bei einer Kollision mit ihren nationalen Interessen jeden unliebsamen UN-Beschluss verhindern. Es ist gut, dass sich Deutschland weiter für die Sicherheitsratsreform einsetzt, auch wenn die bisherigen Erfolge eher entmutigend wirken.
Aber das reicht nicht, und das wird besonders am Beispiel der syrischen Tragödie sichtbar. Zwischen dem 4. Oktober 2011 und dem 8. Oktober 2016 lagen dem UN-Sicherheitsrat fünfmal Resolutionen zum Nahen Osten und Syrien vor. In allen fünf Fällen hat ein russisches Veto die Resolutionen vom Tisch gefegt, viermal dabei assistiert von China. Deutlicher kann ein Abschied von der Verantwortung für den Weltfrieden und für einen Mindestschutz von Menschen, die sich wehrlos barbarischsten militärischen Angriffen ausgesetzt sehen, wie die Bewohner Aleppos im Herbst 2016, nicht ausfallen. Der Missbrauch des Vetorechts, in diesem Fall durch Russland, ist unübersehbar.
Die „Vereint für den Frieden“-Resolution ermöglicht, bei Handlungsblockaden eine Notstandssondertagung der Generalversammlung einzuberufen.
Blockade des Sicherheitsrats und Missbrauch des Vetorechts: Das gab es schon früher, nämlich 1950 im Kontext des Korea-Kriegs. Und danach wurde ein Instrument entwickelt, um über die Generalversammlung aus einer solchen Blockadesituation herauszukommen: Die „Vereint für den Frieden“-Resolution 377 (V) der Generalversammlung vom 3. November 1950 schuf die Möglichkeit, in solchen Fällen mit einer Mehrheit der Stimmen des Sicherheitsrats oder mit einer Mehrheit der Mitgliedstaaten innerhalb von 24 Stunden eine Notstandssondertagung der Generalversammlung einzuberufen. Damals traf die Generalversammlung den Beschluss, „dass in allen Fällen, in denen eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorzuliegen scheint und in denen der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder seine Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht wahrnimmt, die Frage unverzüglich von der Generalversammlung behandelt wird, mit dem Ziel, den Mitgliedern geeignete Empfehlungen für Kollektivmaßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu geben, die im Falle eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung erforderlichenfalls auch den Einsatz von Waffengewalt einschließen können“.
Direkt anschließend regelte der Beschluss die Einberufung der Notstandssondertagung: „Sollte die Generalversammlung zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht tagen, so kann sie binnen vierundzwanzig Stunden nach einem entsprechenden Antrag zu einer Notstandssondertagung zusammentreten. Eine derartige Notstandssondertagung wird auf Antrag des Sicherheitsrats mit den Stimmen von sieben Mitgliedern oder durch die Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen einberufen.“ Mehrheit der Mitglieder würde gegenwärtig bedeuten, 97 Länder für einen solchen Antrag gewinnen zu müssen.
Auf einer solchen Sondersitzung dürfen keine rechtsverbindlichen Beschlüsse gefasst, aber Empfehlungen an den Sicherheitsrat formuliert werden – bis hin zum Vorschlag, militärische Zwangsmaßnahmen in einer Situation der Gefährdung des Friedens und der Sicherheit zu veranlassen. Für eine solche Empfehlung bedarf es allerdings einer Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung.
„Uniting for Peace“ ist bisher relativ selten als Instrument zur Umgehung von Blockaden im Sicherheitsrat angewandt worden.
„Uniting for Peace“ ist bisher relativ selten als Instrument zur Umgehung von Blockaden im Sicherheitsrat angewandt worden – zum Beispiel zwischen 1956 und 1997 nur in zehn Fällen, insgesamt bis heute nicht häufiger als in 16 Fällen. Zwischendurch fällt dieses wichtige Recht der UN-Familie offenbar immer wieder in längere Phasen des Winterschlafs. Das ist bedauerlich. Denn ein starkes politisches Signal der Generalversammlung, etwa in Fällen wie Syrien, ist auch ohne Rechtsverbindlichkeit allemal besser als die Offenbarung vollständiger Handlungsunfähigkeit. Es geht nicht um eine inflationäre, sondern um eine gezielte Anwendung. Dabei ist die bewusste Beleuchtung des überlebten Vetorechts der ständigen Ratsmitglieder mit seinen fatalen Folgen im Missbrauchsfall ein gewünschter Nebeneffekt. Wo die Mitgliedstaaten unmissverständlich zeigen, dass sie bereit sind, bei Blockaden das „Uniting für Peace“-Instrument zu nutzen, erhöhen sie zugleich den Druck, die überfällige Reform des Sicherheitsrats nicht weiter auf die lange Bank zu schieben.
Der Status quo mit dem Missbrauch des Vetorechts und der Handlungsblockade in einem Fall wie Syrien kann nicht länger hingenommen werden.
Die Bundesrepublik handelt in dem Bewusstsein, dass unsere Weltordnung und in ihr besonders die weniger potenten Staaten auf eine starke und handlungsfähige Weltorganisation angewiesen sind. Deswegen ist Deutschland zum viertgrößten Beitragszahler der UN insgesamt und auch für UN-Friedensmissionen geworden. Die Nutzung der Resolution „Uniting for Peace“ birgt Risiken. Das Verhalten der Generalversammlung lässt sich schwer voraussagen, es kann zu hilfreichen oder zu weniger hilfreichen Empfehlungen an den Sicherheitsrat kommen, der immer das letzte Wort hat, und auch die Generalversammlung kann bei dem „Vereint-sein“ für den Frieden scheitern.
Aber der Status quo mit dem Missbrauch des Vetorechts und der Handlungsblockade in einem Fall wie Syrien kann nicht länger hingenommen werden. Aktuelle Initiativen zur stärkeren Einbringung der Generalversammlung und der „Uniting for Peace“-Instrumente verdienen unsere Unterstützung. Deutschland darf bei dieser Entwicklung nicht abseits stehen.
5 Leserbriefe
Wenn für Sie verantwortungsvolles Abstimmungsverhalten im UNSC so aussieht, dass man radikalen Kampfgruppen einen Freifahrtschein zum Sturz von unliebsamen Regierungen und zum Angriff auf souveräne Staaten ausstellt, ist das eine Logik, die sich wohl nur Ihnen erschließt.
Ausdrücklich fällt mir dazu als
- No. 1 die seit 50 Jahren anhaltende Besatzung Palästinas durch Israel und dessen historisch-notorische Nicht-Kooperationsbereitschaft zur Erreichung eines fairen, dauerhaften Lösung des I-P-" Konfliktes"ein.
Die Bundesregierung hat zB. sich nicht einmal unterstützend für die von Frankreich geplante Paris-Konferenz Ende dieses Jahres geäussert....
- No. 2 : der Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan.