Quer durch die Bank beschreiben Vertreter von Think Tanks, Diplomaten, Journalisten und Wahlbeobachter den Wahlgang in Afghanistan als essentiell  für die Stabilität des Landes.

Sie haben gute Gründe. Eine erfolgreiche Wahl wäre ein demokratischer Meilenstein. Zum ersten Mal würde Afghanistan einen friedlichen Machtwechsel erleben. Eine legitime neugewählte Führung, vor allem eine, die als effektiv und sauber wahrgenommen wird, könnte die Afghanen davon überzeugen, dass diese Regierung eine bessere Alternative zu den Taliban darstellt - und dadurch den Zulauf von Widerstandskämpfern abschwächen.

Die Wahlen dürften auch einen Mann an die Macht bringen, dessen Name nicht Hamid Karsai lautet. Und dieser dürfte ein bilaterales Sicherheitsabkommen mit Washington unterzeichnen und somit sicherstellen, dass ein Rest der internationalen Militärpräsenz auch nach diesem Jahr in Afghanistan bleibt.

Doch ungeachtet der Frage, ob die Wahlen frei, fair, glaubhaft und legitim sind (oder nicht), hat Afghanistan noch einen langen Weg vor sich, bevor es sich in einen stabileren Staat verwandelt. Hier sind vier Gründe, weshalb dies so ist.

1. Das afghanische Militär bleibt „work in progress“

In Anbetracht sinkender Gewaltniveaus in verschiedenen Gegenden, die von Afghanen kontrolliert werden, verweisen optimistische Beobachter darauf, dass die afghanischen Sicherheitskräfte sich besser schlagen, „als irgendjemand erwartet hat“. Zugleich jedoch bleiben ihre Kapazitäten begrenzt. In einer Anhörung vor dem US-Kongress im Februar verwiesen führende Experten aus dem Pentagon darauf, dass die afghanischen Truppen zwar zu taktischen Siegen in der Lage seien, aber zugleich Schwierigkeiten hätten, befreite Territorien zu halten. Zugleich machten sie deutlich, dass Sie weiterhin Unterstützung in Sachen Transport und Aufklärung benötigen.

Und dann ist da noch das Problem der grundsätzlichen Verteidigungsbereitschaft. Schätzungen zufolge war im Jahr 2012 die Hälfte der afghanischen Armee von Drogen abhängig. Im vergangenen Jahr wurden 65 Angestellte des Nachrichtendienstes wegen ihres Opium-Missbrauchs gefeuert. Zugleich sind erschreckende 95 Prozent des Militärs und der Polizei offenbar nahezu Analphabeten. Einer Untersuchung des US-Generalinspektors für den Wiederaufbau Afghanistans zog im Januar den Schluss, dass die Hälfte des afghanischen Militärs und die Hälfte der Polizei bis zum Ende des Jahrzehnts Analphabeten bleiben werde -  trotz eines 200 Millionen US-Dollar starken Programms für Alphabetisierung. Schließlich - und dies ist vielleicht am verstörendsten - leidet die afghanische Armee unter einer Schwundquote von 33 Prozent im Jahr. Das heißt, jedes Jahr verliert sie ein Drittel ihrer Soldaten. Laut James Klepper, dem Direktor der US-Geheimdienste, desertierten im vergangenen Jahr 30.000 Soldaten - von insgesamt 185.000. All dies führt nicht gerade zu großer Hoffnung, dass das afghanische Militär in der Lage sein wird, den Talibanaufstand zu bezwingen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass eine internationale Mission von Militärkräften einiger der stärksten Staaten der Welt dies in fast 13 Jahren nicht gelungen ist.

2. Die Rückzugsgebiete der Taliban in Pakistan bleiben ein Problem

Der Aufstand in Afghanistan wäre nicht möglich ohne die Rückzugsgebiete der von afghanischen Taliban und dem Hakkani-Netzwerk angeführten Kämpfer im Nord-Pakistanischen Wasiristan. Seit Jahren hat Washington sich vergeblich bemüht, Pakistan dazu zu bewegen, die Nutzung dieser Gebiete als Terroristenhafen zu unterbinden. Anfang des Jahres kündigte Islamabad an, dass eine große Operation anstehe. Doch zugleich machte die Regierung klar, dass nur „Anti–Staatsmilizen“ wie die pakistanischen Taliban (die den Staat Pakistan attackieren) Ziel der Operation sein würden. Mit der Aufnahme von Friedensverhandlungen zwischen Pakistan und den pakistanischen Taliban scheint diese Operation nun jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben worden zu sein.

Pakistan unternimmt nichts gegen diese Schutzzonen weil es die afghanischen Taliban und das Hakkani-Netzwerk als strategischen Trumpf betrachtet, mit dem der Einfluss Indiens in Afghanistan eingedämmt werden kann. Solange die Beziehungen Islamabads mit Indien nicht auf wundersame Art und Weise normalisiert werden, dürfte sich dieses pakistanische Ziel kaum ändern. Dies auch vor allem angesichts engerer Beziehungen zwischen Indien und Kabul in den letzten Jahren, die auch ein strategisches Partnerschaftsabkommen zur Ausbildung und Unterstützung des afghanischen Militärs beinhalten.

Ein Schließen dieser Rückzugsgebiete würde Pakistan auch einer zentralen Einflussmöglichkeit über die afghanischen Taliban berauben und der Gruppe die Möglichkeit geben, sich gegen ihren Sponsor zu wenden. In Anbetracht der Feindschaft zahlreicher afghanischer Taliban-Mitglieder gegenüber dem pakistanischen Sicherheitsestablishment ist dies alles andere als ein unwahrscheinliches Szenario. Die Bedeutung Pakistans für die afghanischen Taliban würde außerdem sinken, wenn das Sicherheitsvakuum in Afghanistan nach dem Rückzug der internationalen Truppen den Taliban ermöglichen würde, pakistanische Rückzugsgebiete durch Rückzugsgebiete in Afghanistan zu ersetzen. Wahrscheinlich dürften die Taliban-Rückzugsgebiete in Pakistan also bestehen bleiben, sofern sie nicht nach Afghanistan verlegt werden. Beide Szenarien sind der Stabilität Afghanistans nicht gerade förderlich.

3. Afghanistan bleibt  ein Magnet für Milizen und Kämpfer in der Region

Viel ist darüber geschrieben worden, dass der Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan anti-indische Extremisten wie die Laschkar-e-Taiba dazu ermutigt, ihre jüngsten Aktivitäten in Afghanistan nach Indien zurück zu verlegen. Doch bis heute und wahrscheinlich auch in der absehbaren Zukunft werden Widerstandskämpfer weiterhin nach Afghanistan ziehen. Offizielle afghanische Stellen und Taliban-Kommandeure verweisen darauf, dass seit der Unterschrift eines Waffenstillstandsabkommens mit Islamabad am 1. März die pakistanischen Taliban, die ohnehin im Nachbarland schon sehr aktiv sind, Kämpfer in das Land geschickt hätten. Zugleich haben pakistanische Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass sich „Hunderte“ von Milizen aus der pakistanischen Provinz Punjab, von intra-islamischen Extremisten bis hin zu anti-indischen Dschihadisten, in die Stammesgebiete Afghanistans verlagert hätten, um dort einen Angriff auf Afghanistan vorzubereiten. Vertreter des indischen Militärs haben bestätigt, dass ihre größte einheimische islamistische Bedrohung, die indischen Mudschahidin, Ableger in Afghanistan gegründet haben, um an der Seite der afghanischen Taliban zu kämpfen.

Sechs der elf Präsidentschaftskandidaten, inklusive der beiden Favoriten Ghani und Abdullah, haben einen Warlord auf ihrer Seite.

Zugleich haben Extremisten aus Zentralasien Nordafghanistan in den Blick genommen. Die islamische Bewegung Usbekistans (IMU) bemüht sich darum, in der Stadt Kundus eine Basis zu etablieren. Der Journalist Ahmed Raschid, der sich intensiv mit Zentralasien befasst, verweist darauf, dass sich die IMU gemeinsam mit pakistanischen und afghanischen Kämpfern darum bemüht, möglicherweise den gesamten Nordostkorridor Afghanistans unter Kontrolle zu bringen, um eine Operationsbasis gegen Kabul zu erlangen. Da sich Moskau aktuell um eine Verstärkung seiner Präsenz in Afghanistan durch eine Reihe von Entwicklungsprojekten bemüht, könnten zentralasiatische Milizen, die in der Regel sowohl Kabul als auch Moskau misstrauen, stärkere Anreize haben, ihre Operationen in Afghanistan zu intensivieren.

4. Die Taliban sind nicht die einzigen destabilisierenden Kräfte in Afghanistan

Bei der aktuellen Aufmerksamkeit auf die Gewalt der afghanischen Taliban und ihrer Verbündeten wird leicht vergessen, dass auch anti-Taliban-Gruppen die Instabilität befördern. In vielen Gegenden Afghanistans, vor allem im Norden und Westen, wo die Taliban-Präsenz geringer ausfällt, haben militante Kommandeure (viele von ihnen mit US-Unterstützung) die lokale Bevölkerung terrorisiert. Sie attackieren und töten nicht nur Menschen, sondern machen das Leben auch durch subtilere Maßnahmen für die lokale Bevölkerung unerträglich: Sie zwingen junge Männer in den Kampf gegen die Taliban, beschlagnahmen Land, oder stehlen Wasser.

Hinzu kommt: Einige dieser Kommandeure sind in den Wahlen als Kandidaten aufgestellt. Sechs der elf Präsidentschaftskandidaten, inklusive der beiden Favoriten Ghani und Abdullah, haben einen Warlord auf ihrer Seite. Einige Beobachter argumentieren, dass die Beteiligung an den Wahlen friedliche Intentionen veranschaulicht. Doch die ersten Anzeichen sind nicht ermutigend. In den vergangenen Wochen kam es zu Zusammenstößen zwischen den Unterstützern von Ismail Khan, einem Warlord auf der Seite von Abdoul Rassoul Sayyaf, und Unterstützern von Abdullah. Es gab mehrere Tote.

All dies sollte natürlich nicht dazu führen, die Wahlen in Afghanistan als irrelevant für die Stabilität und Zukunft des Landes zu begreifen. Doch eine erfolgreiche Wahl alleine wird Afghanistan nicht sicherer machen. Nichtsdestotrotz kann sie potentiell eine notwendige Bedingung für zukünftige Stabilität hervorbringen: eine starke Führung.

Damit ist eine unkorrumpierbare Führung gemeint, die grundlegende Dienstleistungen anbieten kann und gerechte Justiz möglich macht. Eine solche müsste auch ein unerschütterliches Bekenntnis dazu umetzen, das afghanische Militär und die afghanische Polizei in eine nachhaltige Truppe zu verwandeln, die zumindest grundsätzlich funktioniert und die Aufstände einhegen kann. Zugegebenermaßen wird das ein großes Maß an internationaler Unterstützung erforderlich machen. Zugleich müsste diese starke Führung auch delikate Diplomatie betreiben. Die Partnerschaften mit internationalen Geldgebern und Verbündeten müssen aufrecht erhalten werden, Meinungsverschiedenheiten mit verschiedenen Akteuren in der Region - in erster Linie Islamabad - und die Versöhnung der zahlreichen sich bekämpfenden Fraktionen zu Hause stehen auf der Agenda. Zu den Gruppen, die im Land zusammengebracht werden müssen gehören in letzter Konsequenz auch die Taliban. Das Problem ist jedoch, dass eine starke Führung so unerreichbar sein könnte wie stabile Verhältnisse selbst.