Der Haftantritt des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma am 7. Juli hat Südafrika in eine neue Welle gewalttätiger Proteste gestürzt. Mindestens 200 Menschen sind dabei bisher ums Leben gekommen, knapp 2 600 wurden festgenommen. Zumas Inhaftierung mag hierfür der Auslöser gewesen sein, ist aber nicht ihre alleinige Ursache und ist auch nicht das, was die Bevölkerung eigentlich umtreibt.

Die aktuelle Krise ist ein Kulminationspunkt in einem sozioökonomischen und politischen Enteignungsprozess in Südafrika, der seit zwei Jahrzehnten im Gang ist und einen fruchtbaren Boden für Auflehnung geschaffen hat – sei es bei Enteigneten, bei politisch motivierten Anstiftern oder bei Opportunisten. Die Krise muss vor dem Hintergrund dieser Enteignung und der Ungleichheit bewertet werden, die klassenübergreifend und über ethnische und geschlechtliche Grenzen herrschen und die ein tiefgreifendes Machtungleichgewicht geschaffen haben. Diese Faktoren verhindern – verstärkt durch Arbeitslosigkeit und Armut –, dass sich die Demokratie in Südafrika vollständig entwickeln kann. Sie drohen sogar sie zu destabilisieren.

Nach beinahe drei Jahrzehnten Demokratie ist Südafrika mit mehreren Krisen konfrontiert. Für die Mehrheit der Bevölkerung funktioniert das südafrikanische Gesellschaftsmodell nicht. Bei der Einkommensverteilung verzeichnet Südafrika einen Gini-Koeffizienten von 0,7 und gehört damit zu den Ländern mit der stärksten Ungleichheit überhaupt. Die Vermögensverteilung ist noch einseitiger und rangiert im Gini-Index bei 0,95. Schätzungen zufolge befindet sich die Hälfte des Gesamtvermögens in den Händen des reichsten Prozents der Bevölkerung; das wohlhabendste Zehntel besitzt mindestens 90 bis 95 Prozent.

Infolge des fehlenden Strukturwandels war Südafrikas Wirtschaftslage schon vor der Pandemie prekär.

Infolge des fehlenden Strukturwandels war Südafrikas Wirtschaftslage schon vor der Pandemie prekär. Die Arbeitslosenquote war dauerhaft hoch; im vierten Quartal 2019 lag sie bei 29,1 Prozent. Armut ist weit verbreitet. 2015 lebten 30,4 Millionen Menschen – 55,5 Prozent der Bevölkerung – unter der offiziellen Armutsgrenze. In weiblich geführten Haushalten lag der Anteil dabei deutlich höher als in Familien mit männlichem Haushaltsvorstand. 13,8 Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung, lebten in extremer Armut und konnten sich nicht genügend Lebensmittel leisten, um ihre materiellen Grundbedürfnisse zu decken.

Südafrikas Wachstumskurve bewegt sich seit mehr als zehn Jahren nach unten. Zwischen 2011 und 2018 betrug das Wirtschaftswachstum im Durchschnitt gerade einmal 1,7 Prozent. 2019 stürzte das Land zum dritten Mal seit 1994 in eine Rezession. Mehrere Faktoren waren dafür verantwortlich – unter anderem der weltweite Abschwung nach der globalen Finanzkrise, sinkende Rohstoffpreise, die Deindustrialisierung, Staatsvereinnahmung (sprich: die systemische Korruption), Haushaltskürzungen, eine restriktive makroökonomische Politik sowie eine sinkende Investitionstätigkeit infolge der wirtschaftlichen Stagnation und der unzuverlässigen Stromversorgung.

Immer mehr Menschen entdecken den Staat als Instrument zur rücksichtslosen Selbstbereicherung. Staatliche Institutionen werden ausgeplündert und ausgehöhlt. Diese Realität ist der Nährboden für die akute Staatsführungskrise in Südafrika. Die Verbindung von wirtschaftlichen und politischen Krisen lässt das Vertrauen in die verfassungsmäßige Ordnung zusehends schwinden.

Immer mehr Menschen entdecken den Staat als Instrument zur rücksichtslosen Selbstbereicherung und werden dabei von korrupten Akteuren in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Sektor unterstützt.

Als die Corona-Krise begann, befand sich Südafrika bereits in einer Rezession. Im April 2020 kündigte Präsident Cyril Ramaphosa ein Rettungspaket an, das Arbeitnehmern, Unternehmen und privaten Haushalten durch die Pandemie helfen sollte. Das Paket im Umfang von mehr als 27 Milliarden Euro war für das Land ein Hoffnungsschimmer, der allerdings rasch verblasste. Bei der Umsetzung des Rettungsprogramms gab es etliche Probleme, so dass bis Juli 2021 lediglich 41 Prozent des Pakets umgesetzt wurden.

Das veranschlagte Budget war nämlich im Haushalt gar nicht vorhanden. Der Nachtragshaushalt von 2020 deckte nur einen Bruchteil ab. Der größte Teil des Rettungspakets wurde aus vorhandenen Mitteln oder außerbudgetären Töpfen bestritten. Dass den Bürgerinnen und Bürgern dennoch weisgemacht wurde, es würden mehr als 27 Milliarden Euro als bares Geld in die Wirtschaft gepumpt, hat die gewaltsamen Proteste angeheizt. Die Öffentlichkeit gewann den Eindruck, dass der „Stimulus“ weitgehend zusammengeplündert wurde.

Derzeit erlebt Südafrika seine dritte Corona-Welle. Die meisten Hilfsmaßnahmen sind mittlerweile ausgelaufen. Während die Regierung gerade ihr Impfprogramm startet, steigt die Zahl der Corona-Infizierten weiter. Die dritte Welle und die damit verbundenen Lockdowns treffen Südafrika zu einer Zeit, in der die sozial schwächsten Bevölkerungsgruppen Einkommensverluste erlitten haben und enorm belastet sind. Im Januar 2021 hatten nach einer aktuellen Erhebung 39 Prozent der Haushalte kein Geld mehr, um Lebensmittel zu kaufen, und 17 Prozent der Haushalte litten Woche für Woche unter Hunger. Das Corona-Hilfsprogramm Social Relief of Distress (SRD) – eine im Rahmen des ersten Entlastungspakets eingeführte Barzuwendung für erwerbslose Erwachsene, die keine anderen Sozialleistungen beziehen –, ist inzwischen beendet. Die Inflation der Lebensmittelpreise wächst. Schulspeisungsprogramme, auf die viele Kinder angewiesen sind, wurden eingestellt. Wegen der Unruhen werden in manchen Gegenden die Lebensmittel knapp.

Es wird damit gerechnet, dass die dritte Welle – verstärkt durch die Proteste – zu sinkender Wirtschaftstätigkeit führen wird. Nachdem das BIP 2020 um 7 Prozent schrumpfte, baut die Wirtschaft weiter Arbeitsplätze ab. Die Erwerbslosenquote erreichte den Rekordwert von 32,6 Prozent. Es ist ein Teufelskreis: Unruhen und Krisen verschärfen sich gegenseitig.

Ungeachtet dessen hält Südafrikas Finanzministerium an seiner Austeritätspolitik fest, die der Internationale Währungsfonds (IWF) und weite Teile der Wirtschaftspresse befürworten. Die Zivilgesellschaft kritisiert die harten Sparmaßnahmen, mit denen die südafrikanische Regierung seit einigen Jahren versucht, die Staatsverschuldung zurückzufahren und die Ratingagenturen zu beschwichtigen. Dies geht massiv zulasten wesentlicher sozialer Versorgungsleistungen und der Umsetzung sozialer und wirtschaftlicher Rechte.

Die südafrikanische Regierung schlittert von einer Krise in die nächste, setzt sich aber mit den tieferen politischen und wirtschaftlichen Ursachen dieser Krisen nicht gründlich auseinander.

Südafrikas Regierung wird wohl an ihren Konsolidierungsplänen festhalten und – wie im Februar 2021 angekündigt – die nicht für den Schuldendienst benötigten Ausgaben jedes Jahr real um durchschnittlich 5,2 Prozent zurückzufahren. Haushaltskürzungen führen zu niedrigeren Pro-Kopf-Ausgaben und zu realen Einschnitten in staatliche Leistungen wie Gesundheitswesen, Bildung und Kultur. Der Präsident erklärte kürzlich, dass jede neue Nothilfemaßnahme sich innerhalb des vorhandenen Haushaltsrahmens bewegen werde. Angesichts des drängenden sozialen Bedarfs, der durch Corona und nun auch durch die gewalttätigen Proteste enorm verschärft wird, ist dies zutiefst verantwortungslos.

Die südafrikanische Regierung schlittert von einer Krise in die nächste, setzt sich aber mit den tieferen politischen und wirtschaftlichen Ursachen dieser Krisen nicht gründlich auseinander. Die parteiinternen Streitigkeiten innerhalb des regierenden African National Congress (ANC) beispielsweise sind eine schwere Belastung für das Land und müssen mit Entschiedenheit beigelegt werden. In diesem Zusammenhang braucht es auch ein erneutes Bekenntnis zur Freiheitscharta von 1955 und zur Verfassung Südafrikas, die eine gerechtere Wirtschaftsordnung als entscheidenden Faktor der politischen Befreiung betrachten.

Kurzfristig muss Südafrikas Regierung die Existenzgrundlagen sichern und die Wirtschaft stützen. Die ausgelaufenen Hilfsmaßnahmen für Unternehmen, Arbeitnehmer und private Haushalte müssen erneuert und so nachjustiert werden, dass sie der Pandemie und der aktuellen Krise im Land gerecht werden.

Mit der bisherigen Sparpolitik sind solche Maßnahmen nicht möglich. Der Austeritätskurs muss beendet werden und die sozialen und wirtschaftlichen Rechte müssen priorisiert werden. Dies muss mit einer effektiven ökonomischen Transformation verknüpft werden, die der Mehrheit der Bevölkerung zugutekommt. Der Status quo in Südafrika lässt sich noch nicht einmal ansatzweise als politische Befreiung bezeichnen.