In Libyen geht die politische Krise in eine neue Runde: Im Dezember 2021 wurden die Wahlen verschoben – nur 48 Stunden vor der geplanten Öffnung der Wahllokale. Emad Sayah, der Vorsitzende des Libyschen Wahlkomitees (High National Election Committee, HNEC), erklärte dies mit höherer Gewalt. Er sagte dem libyschen Repräsentantenhaus zu, die Wahlen auf den 24. Januar zu verlegen. Aber auch diese Frist ist nun abgelaufen. Anstatt die Wahlen neu zu planen und das Problem zu lösen, ernannte das Repräsentantenhaus am 10. Februar mit Fathi Bashagha einen konkurrierenden Premierminister und teilte Libyen somit in zwei rivalisierende politische Verwaltungen auf.
Libyen befindet sich nun in einer gefährlichen Lage: Miteinander konkurrierende Fraktionen klammern sich an der Macht fest und werfen Libyen in die Vergangenheit zurück, als das Land von politischen Spaltungen dominiert war. Gleichzeitig versprechen diese Fraktionen immer neue Wahltermine, um ihr politisches Überleben zu sichern und ihren politischen Rivalen zu schaden. Die Institutionen, das Wahlrecht und die Justiz des Landes sind zu Waffen in einem neuen Kampf um die libyschen Wahltermine geworden. Politische Akteure versuchen, die Wahlen entweder zu verhindern oder zu verschieben, um ihre eigene Macht zu verlängern und Rivalen kaltzustellen.
Anstatt die Wahlen neu zu planen und das Problem zu lösen, ernannte das Repräsentantenhaus einen konkurrierenden Premierminister und teilte Libyen somit in zwei rivalisierende politische Verwaltungen auf.
Die Krise begann vor über einem Jahr. Das Libyan Political Dialogue Forum (LPDF), dem 75 von den VN benannte Mitglieder angehören, war damit beauftragt worden, eine neue Interimsregierung einzusetzen und einen politischen Zeitplan zu erstellen, der in demokratische Wahlen münden sollte. Anfangs machte das LPDF dabei durchaus Fortschritte. Es ernannte eine Nationale Einheitsregierung (Government of National Unity, GNU) unter der Leitung von Abdelhamid Dbeiba. Sie trat im März 2021 an und einigte sich darauf, am 24. Dezember gleichzeitig Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abzuhalten.
Im Sommer geriet das LPDF dann allerdings in eine politische Sackgasse. Dabei ging es um die Frage, wie es mit dem gesetzlichen Rahmen für die Wahlen weitergehen solle; seit 2017 gibt es in Libyen einen Verfassungsentwurf, der jedoch als zu wenig inklusiv kritisiert wird. Gleichzeitig zeichnete sich die Gefahr eines Wahlboykotts ab, was den politischen Übergang mit Sicherheit weiter verzögern würde – insbesondere für den Fall, dass die Verfassung durch ein Referendum noch vor der Wahl abgelehnt würde. Die Debatte darüber, wie eine verfassungsrechtliche Grundlage für die Wahlen geschaffen werden könnte, wurde mit Blick auf die Dauer des politischen Übergangs in Libyen zum Realitätscheck. Fraktionen innerhalb des LPDF behaupteten, dies vor den Wahlen abschließend zu diskutieren würde den Übergang blockieren und das Interimsmandat der GNU über den 24. Dezember hinaus verlängern.
Politische Akteure versuchen, die Wahlen entweder zu verhindern oder zu verschieben, um ihre eigene Macht zu verlängern und Rivalen kaltzustellen.
In dieser Pattsituation des LPDF sah Aguila Saleh, der Sprecher des Repräsentantenhauses, eine Chance, die politische Landkarte zu ändern, die GNU zu entmachten und seine eigene Macht im Parlament zu festigen. Im September umging Saleh auf illegale Weise eine Parlamentsabstimmung und verabschiedete per Dekret ein Präsidentschaftswahlgesetz. Durch dieses Gesetz wurde der LPDF-Fahrplan insofern geändert, dass die Präsidentschaftswahlen vor den Parlamentswahlen abgehalten werden sollten. Damit sollte das Ende der achtmonatigen Amtszeit der GNU besiegelt und Salehs achtjährige institutionelle Kontrolle über das Parlament verlängert werden. Das Gesetz umging das Verfassungsreferendum und verwendete Libyens fragmentarische Verfassungserklärung von 2011. Sie schränkt die Macht des Präsidenten kaum ein und erhöht die Aussichten auf ein Wahlergebnis, bei dem der Gewinner alles bekommt.
GNU-Premierminister Abdelhamid Dbeiba kritisierte das Gesetz dafür, dass es die Voraussetzungen dafür schaffe, seine Kandidatur zu blockieren. Es sei darauf ausgerichtet, Saleh und einem seiner Hauptverbündeten – Khalifa Haftar, der als selbsternannter Anführer der Libysch-Arabischen Streitkräfte für den Bürgerkrieg im Land verantwortlich war – zu ermöglichen, als Präsidentschaftskandidaten anzutreten und im Fall einer Niederlage in ihre Positionen im Parlament und bei den Streitkräften zurückzukehren.
Salehs Gesetz sorgte auch unter Parlamentariern und Mitgliedern des LPDF für Empörung. Doch anstatt zu vermitteln und das Gesetz abzulehnen, entschied sich der damalige VN-Sonderbeauftragte Jan Kubis dafür, es zu akzeptieren, damit eine der Wahlen – aber nicht beide – am 24. Dezember abgehalten werden könne. Als Kubis einen Monat vor den Wahlen zurücktrat und durch Stephanie Williams ersetzt wurde, war klar, dass das Vertrauen in die VN-Vermittlung und den Wahlprozess unter seiner Schirmherrschaft verloren war. Es wurde der für die Ausrichtung der Wahlen verantwortlichen HNEC überlassen, die Neuigkeiten zu übermitteln – ohne dabei ihre unpolitische Ausrichtung zu kompromittieren.
Als der VN-Sonderbeauftragte Jan Kubis einen Monat vor den Wahlen zurücktrat, war klar, dass das Vertrauen in die VN-Vermittlung und den Wahlprozess unter seiner Schirmherrschaft verloren war.
Die Zukunft der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bleibt angesichts des neuen politischen Zeitplans des Repräsentantenhauses unklar. Die politische Krise wird sich mit Sicherheit vertiefen. Vollständige Wahlen könnten sich um Jahre verzögern. Die internationale Gemeinschaft hat bereits ausgeschlossen, eine neue GNU anzuerkennen, bevor Wahlen abgehalten wurden. Die aktuelle Ernennung einer Parallelverwaltung unter Fathi Bashagha ist daher ein zynischer Versuch seiner Fraktion, die Macht an sich zu reißen. Dieser Schritt geschah durchaus im Wissen darum, dass er Libyen in die spannungsreichen Jahre der politischen Spaltung zwischen Ost und West zurückwirft, die der Grund für Haftars Krieg gegen Tripolis 2019 waren. Außerdem ist er ein schwerer Rückschlag für den Berlin-Prozess: Die VN müssen nun ihren demokratischen Fahrplan revidieren. Beim Versuch, Termine für Wahlen zu finden, muss der aktuelle Machtkampf der Elite mitgedacht werden.
Der Fahrplan des Repräsentantenhauses bleibt insofern eine politische Waffe, als dass er Meilensteine enthält, die die momentane politische Lage auf Jahre verlängern könnten. In der Zwischenzeit wird er Rechtsstreitigkeiten auslösen, die Libyen in eine neue komplexe Krise stürzen. Saleh hat beantragt, es dem Repräsentantenhaus zu ermöglichen, eine neue Verfassung zu entwerfen, anstatt vor den Wahlen ein Referendum über den bestehenden Entwurf abzuhalten. Salehs eigener Verfassungsprozess soll es ihm ermöglichen, die Parlamentswahlen zu verzögern, bis die Arbeit des Repräsentantenhauses an einer neuen Verfassung beendet ist. Angesichts der Tatsache, dass der Verfassungsentwurf von einer demokratisch gewählten Versammlung erarbeitet wurde, fehlt Salehs Vorschlag die Legitimation.
Die politische Krise wird sich mit Sicherheit vertiefen. Vollständige Wahlen könnten sich um Jahre verzögern.
Die heutige Krise ist größtenteils einer Fehlannahme geschuldet. Allen Gegenanzeichen zum Trotz geht man noch immer davon aus, dass die für Libyens Kriege und politische Krisen Verantwortlichen uneigennützig handeln und dass sie die politischen Institutionen und die militärische Macht, an denen sie seit Jahren hängen, durch einen von ihnen entworfenen Plan für Wahlen bereitwillig aufgeben würden.
Die Berlin-Roadmap der VN bot der internationalen Gemeinschaft die Möglichkeit, die Macht der Störenfriede zu bremsen, indem die für den Krieg verantwortlichen politischen und militärischen Institutionen abgebaut und in einen vereinigten neutralen Staat überführt werden sollten. Den führenden Akteuren sollte es nicht ermöglicht werden, ihre politischen Karrieren durch Wahlen wieder in Schwung zu bringen.
Jetzt ist es für Deutschland und die VN höchste Zeit, Führungsstärke zu zeigen und die Ziele des Berlin-Prozesses wiederzubeleben. Es muss ein neutraler politischer Plan folgen, der über sinnvolle Kompromisse und institutionelle Reformen nüchterne Wahltermine anstrebt. Es darf nicht aufgrund politischer Berechnung auf Zeitplänen beharrt werden, mit denen Konflikte verschleiert werden und Störenfrieden die Herrschaft über Libyens Zukunft anvertraut wird.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff




