Kaum ein Land hat die Corona-Pandemie bislang so gut gemeistert wie Taiwan. Die erfolgreiche Bewältigung der Corona-Krise, die ohne den Einsatz brachialer Mittel effizient und gleichzeitig transparent erfolgte, hat der Präsidentin und ihrer Regierung nach innen und außen hohe Anerkennung eingebracht. Es ist eine bemerkenswerte Leistung, bei dem engmaschigen Reise- und Geschäftsverkehr mit China und den rund eine Million Taiwanern, die in der Volksrepublik leben, die Zahl der registrierten Infektionsfälle nach derzeitigem Stand auf insgesamt weniger als 500 und die der Corona-Toten einstellig zu halten. Sie wurde möglich, weil die Regierung aus den bitteren Erfahrungen mit der SARS-Pandemie 2002/03 gelernt hatte und diesmal gut genug vorbereitet war. Ein kompletter Lockdown wie in weiten Teilen Europas konnte durch die rechtzeitige Schließung der Grenzen und die strikt kontrollierte Einhaltung der Hygienevorschriften bis hin zur weitgehend widerspruchslos hingenommenen Smartphone-Überwachung der zur Quarantäne verpflichteten Verdachtsfälle verhindert werden.
Für die Selbstbehauptung der seit dem Ausschluss aus den Vereinten Nationen 1971 diplomatisch ausgehungerten und unter der von Xi Jinping kompromisslos verfolgten Vereinigungsstrategie weiter in die Isolation getriebenen Insel ist die internationale Aufmerksamkeit ein Gewinn. Der Dank, den das in der „Masken-Diplomatie“ mit China konkurrierende Land für die nach Europa geschickten Hilfslieferungen auch von offizieller Seite bekommen hat, ist willkommen. Viel wichtiger aber ist die politische Unterstützung, die Taiwan von der deutschen Regierung, weiteren westlichen Staaten sowie vom Europäischen Parlament erhielt. Taiwan ist nicht Mitglied der WHO, möchte aber an deren Beratungen beteiligt werden und wenigstens einen permanenten Beobachterstatus in der Weltgesundheitsversammlung (WHA) erhalten – ein Anliegen, das von Peking regelmäßig abgewiesen wird. Umso wichtiger ist die internationale Unterstützung.
Taiwans im Januar mit satter Mehrheit wiedergewählte Präsidentin Tsai Ing-wen sprach beim Antritt ihrer zweiten Amtszeit am 20. Mai von „enormen Herausforderungen und Problemen“, vor denen Taiwan stehe. Wie recht sie hatte, zeigte sich bereits zwei Tage später bei der Eröffnung der Sitzung des Nationalen Volkskongresses (NVK) in Peking. Mit dem von Ministerpräsident Li Keqiang angekündigten und vom NVK-Plenum grundsätzlich beschlossenen Sicherheitsgesetz für Hongkong zur Abwehr von „Verrat, Aufruhr, Subversion und Separatismus“ planiert Peking den vertraglich verbrieften Sonderstatus für das politische und das Rechtssystem Hongkongs. Dabei war dieser vor der Rückgabe der ehemaligen britischen Kronkolonie 1997 für die Dauer von 50 Jahren festgeschrieben worden. Was bedeutet nun dieser Schritt? In Zukunft läuft jeder, der sich in dem Sonderverwaltungsgebiet aktiv für Freiheitsrechte und demokratische Reformen engagiert, Gefahr, genauso behandelt zu werden wie Dissidenten im Rest von China.
Die chinesische Führung machte unmissverständlich klar, wie sie im Zweifelsfall mit der ursprünglich für den Anschluss Taiwans an die Volksrepublik erfundenen Blaupause „Ein Land, zwei Systeme“ umzugehen gedenkt.
Die chinesische Führung machte mit diesem Schritt unmissverständlich klar, wie sie im Zweifelsfall mit der ursprünglich für den Anschluss Taiwans an die Volksrepublik erfundenen Blaupause „Ein Land, zwei Systeme“ umzugehen gedenkt. Damit treibt der Konflikt mit dem Inselstaat, der seit 2016 von der für die autonome Selbstbestimmung Taiwans kämpfenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) regiert wird, weiter in Richtung konfrontativer Unversöhnlichkeit. Wo Grundsatzpositionen aufeinanderstoßen, die wechselseitig nur noch als Provokation verstanden werden, gibt es kaum noch Spielraum für die pragmatische Geschmeidigkeit früherer Verständigungsbemühungen. Das gilt für den von Tsai im Namen der „Koexistenz“ angebotenen Dialog auf der Basis der Gleichberechtigung und des Gewaltverzichts ebenso wie umgekehrt für den in der Antwort Pekings ultimativ und unkonditioniert geltend gemachten Souveränitätsanspruch über die Insel.
Trifft also zu, was auf Transparenten bei Protestaktionen in Hongkong zu lesen ist – „Today`s Hong Kong, Tomorrow´s Taiwan“? Die akute Gefahr, dass der Konflikt zwischen Peking und Taipeh ins Unkalkulierbare eskaliert, ergibt sich aus zwei Umständen, auf die auch die EU im wohlverstandenen Eigeninteresse reagieren muss. Denn das selbst auf dem Höhepunkt der Corona-Krise in China fortgesetzte und von militant nationalistischer Rhetorik in den sozialen Medien begleitete Säbelrasseln gegenüber Taiwan zeigt, dass die Volksrepublik China nicht auf einen neuen Anlauf zur Verständigung setzt. Sie strebt vielmehr eine nicht länger auf unbestimmte Zeit verschiebbare Entscheidung in diesem zum nationalen Kernanliegen erklärten Konflikt an.
Dieser Wille wird umso stärker und aggressiver, je mehr US-Präsident Donald Trump in dem durch Corona weiter verschärften sino-US-amerikanischen Konflikt an der Eskalationsschraube dreht. Dabei macht er Taiwan zum Faustpfand im geopolitischen Machtpoker um die Vorherrschaft im Pazifik. 1979 haben sich die USA als Ausgleich für den aufgekündigten bilateralen Sicherheitsvertrag Taiwan Relations Act (TRA) zum Schutz der Insel – sprich zu Waffenlieferungen – verpflichtet. Dennoch war die amerikanische Politik insgesamt von dem Bemühen bestimmt, die Annäherung zwischen beiden Seiten und eine friedliche Konfliktlösung nicht zu erschweren. Mit der schrittweisen Aufwertung der inoffiziellen politischen und militärischen Beziehungen mit Taiwan und ihrer beabsichtigten Umgestaltung zu einer gegen China gerichteten quasi-strategischen Partnerschaft haben Trump und der Kongress einen Richtungswechsel vollzogen. Damit droht der Sicherheitsanker USA für die Insel zum Verhängnis zu werden.
Der Sicherheitsanker USA droht für die Insel zum Verhängnis zu werden.
Was folgt daraus für den Umgang Deutschlands und der EU mit Taiwan als glaubwürdiger Vermittler im Konflikt? Die europäische Politik sollte sich an den folgenden drei Leitplanken orientieren:
Bei der Zukunft Taiwans geht es um weit mehr als bloß um den Ausgang eines chinesisch-chinesischen Familienstreits. Es stehen auch europäische Interessen auf dem Spiel. Zum einen ist da die Bedeutung, die dem Inselstaat in strategisch exponierter Lage für die Sicherheit und eine stabile Friedensordnung in der Region zukommt. Außerdem ist abzuwägen, was höher zu bewerten ist: der weit in die Geschichte zurückgreifende Souveränitätsanspruch Chinas oder das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung eines Landes, das sich trotz der permanenten Bedrohung durch den übermächtigen Nachbarn zu einer der stabilsten Demokratien in Asien entwickelt hat und die von der EU gern beschworenen Werte teilt.
Zweitens ist das „Ein-China-Prinzip“, mit dem Peking seinen bedingungslosen Souveränitätsanspruch über Taiwan begründet und die Lösung des Konflikts zu einer ausschließlich innerchinesischen Angelegenheit erklärt, nicht das gleiche wie die „Ein-China-Politik“, zu der sich die diplomatischen Partner der Volksrepublik verpflichtet haben. Darin wird die Regierung in Peking zwar als einzig rechtmäßige Vertretung Chinas anerkannt. Es wird ihr aber kein Blankoscheck für die Einverleibung Taiwans ausgestellt. Wie die Arbeit der inoffiziellen bilateralen Vertretungen, so auch der deutschen in Taipeh und der taiwanischen in Berlin zeigt, eröffnet das Handlungsspielräume für den Dialog und für zwischenstaatliche Vereinbarungen.
Und drittens ist die regelmäßige Anmahnung einer friedlichen Lösung des chinesisch-taiwanischen Konflikts unvollständig, solange sie sich nur auf den Einsatz reiner militärischer Gewalt bezieht und nicht ebenso Mittel einschließt, die Peking zur Destabilisierung der Insel einsetzt: von der möglichst vollständigen internationalen Isolation über die zur Verunsicherung der Bevölkerung eingesetzten Desinformationskampagnen bis hin zu der zermürbenden Wirkung der seit Jahresbeginn deutlich erhöhten Taktzahl militärischer Provokationen.
Nachdem sich das Europäische Parlament in jüngster Zeit mehrfach für die Bewahrung des Status quo und den Einbezug Taiwans in die Beratungen multilateraler Organisationen starkgemacht hat, kommt nun auch etwas Bewegung in die deutsche Politik – jedenfalls im Bundestag. So hat der Menschenrechtsausschuss zur Belebung des parlamentarischen Dialogs als erster Ausschuss überhaupt einen Besuch in Taiwan beschlossen. Ursprünglich war er für August 2020 fest eingeplant, nun muss wegen Corona ein neuer Termin vereinbart werden. Da Delegationsreisen ins Ausland der Genehmigung des Bundestagspräsidenten bedürfen, dürften sich die zu erwartenden chinesischen Proteste auch an ihn richten. Die Antwort darauf könnte ein Wort des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping zitieren, das in der 2013 in Peking erschienenen Sammlung „Brilliant Quotations from Xi Jinping“ enthalten ist und sich in Taiwan bewahrheitet hat: „Whether a pair of shoes fits, only the feet can tell. Whether a country´s development path (is suitable), only people in that country will know“.