Anfang der Woche sorgte die Asahi Shimbun für Aufregung: „Die Regierungskoalition könnte ihre Mehrheit verlieren“, titelte Japans zweitgrößte Tageszeitung und bezog sich auf eine Umfrage vom letzten Wochenende vor der Parlamentswahl am 27. September. Die als Seniorpartnerin regierende konservative Liberaldemokratische Partei (LDP) könnte demnach 50 ihrer bisher 247 Sitze im Unterhaus verlieren. Auch ihre buddhistische Juniorpartnerin New Komeito käme nur noch auf knapp 30 Sitze. Damit würde die konservative Koalition, die seit zwölf Jahren Japan regiert, in der mächtigeren Kammer des Parlaments die Mehrheit verfehlen. Und schon das wäre einigermaßen sensationell. Denn seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat die LDP das ostasiatische Land fast immer regiert. Sie gilt als Architektin eines jahrzehntelangen Wirtschaftswunders und Vertreterin des Establishments – gerade wegen ihrer langen Zeit an der Macht hat sie aber auch längst einen Ruf als Nährboden für Korruption.

Es steht also viel auf dem Spiel, wenn die Japanerinnen und Japaner am kommenden Wochenende die Wahllokale aufsuchen. Aber die realistische Möglichkeit, dass LDP und New Komeito diesmal womöglich knapp an ihrer Mehrheit vorbeischrammen werden, ist in Wahrheit kaum Anlass zu Euphorie, wie sie in der Asahi Shimbun zwischen den Zeilen zu lesen war. Vielmehr ist es erschütternd, dass die LDP nach den vergangenen Jahren wohl trotzdem noch als stärkste Kraft abschneiden und erneut den Premier stellen wird. Denn unabhängig von den Lösungen, die die LDP jetzt für diverse Probleme bietet – niedrige Geburtenrate, prekärer Arbeitsmarkt, geopolitische Lage –, hätte Japans historisch übermächtige konservative Partei einen Denkzettel verdient. Gewissermaßen sehen das die Wahlberechtigten in dem ostasiatischen Land sogar selbst so: Eine Umfrage des Forschungszentrums für Meinungsumfragen ergab im Frühjahr, dass 75 Prozent der Politik nicht trauen, wobei das Misstrauen gegenüber der LDP klar am größten war.

In Japan herrscht schon lange eine tief verwurzelte Politikverdrossenheit.

In Japan herrscht schon lange eine tief verwurzelte Politikverdrossenheit, die zuletzt durch einen besonders gravierenden Skandal weiter angeheizt wurde: Zahlreiche Politikerinnen und Politiker – vor allem aus der LDP – haben über Jahre Spenden einer Sekte angenommen, die ihre Mitglieder auf kriminelle Weise finanziell ausnutzte. Im Gegenzug für großzügige Unterstützungen sah die Politik beim Gebaren der Sekte offenbar wohlwollend weg. Im Juli 2022 erschoss dann der Sohn eines der Opfer der Sekte den damaligen Ex-Premierminister  Shinzo Abe. Die Bestürzung über das Attentat – zumal im ansonsten als sicher geltenden Japan – bescherte dessen LDP dann einen Kantersieg bei der nächsten Wahl. Doch als herauskam, wie durchtränkt gerade die LDP mit unbekannten Spenden war, musste Abes Amtsnachfolger Fumio Kishida flugs sein halbes Kabinett entlassen. Trotzdem gelang es ihm nicht, seine Glaubwürdigkeit zu retten. Denn Skandale um Korruption und Vetternwirtschaft kennt man von der LDP seit Jahren – nein, Jahrzehnten.

Allein der von 2012 bis 2020 regierende Shinzo Abe, der das Bild der LDP weiterhin prägt, hatte sich nicht nur mit der nun verbotenen Sekte „Wiedervereinigungskirche“ ablichten lassen. Auch für Vetternwirtschaft geriet Abe in die Kritik. Es folgten vertuschte Spendengelder, die weiterhin die ganze LDP belasten. Und dann waren da noch die von Abe nach Tokio geholten und wegen Corona erst im Folgejahr abgehaltenen Olympischen Spiele 2020, im Zuge derer mehrere Verantwortliche wegen Korruption verurteilt wurden. Die Liste ließe sich fortführen.

Nachdem im August Fumio Kishida angesichts seiner geringen Popularität seinen Rückzug eingeleitet hatte, gewann im LDP-internen Rennen um die Nachfolge als Premier der 67-jährige „Außenseiter“ Shigeru Ishiba. Als „Außenseiter“ gilt Ishiba, weil er keinem der in der LDP einflussreichsten Flügel angehört und sich zudem als Kritiker des einst sehr mächtigen Nationalisten Shinzo Abe profiliert hat. Dennoch ist auch Ishiba kein Unbekannter: Er war bereits Verteidigungsminister, Landwirtschaftsminister und Minister für Bevölkerungsentwicklung – ist also durchaus fest im politischen Establishment verankert.

Auch inhaltlich wirkt Ishiba kaum wie ein Umkrempler. Gegenüber China und Südkorea bemüht er sich zwar mehr als Abe um Austausch, aber auch Ishiba – wie Abe und dann Kishida – will Japan deutlich aufrüsten. Möglich, dass er für die Finanzierung der Verdopplung des Wehretats anderswo im Haushalt kürzen wird, zum Beispiel an der ohnehin kargen Familienpolitik. Das würde allerdings kaum jemand bemerken, da eine Erhöhung der Unterstützung junger Familien erst kürzlich beschlossen worden war, von der noch niemand profitiert hat. Der Wahlfavorit Ishiba steht also vor allem für Kontinuität. Unterschiede zu den Vorgängern zeigen sich eher in Nuancen. Doch im Wahlkampf gibt er sich auf nahezu groteske Weise als Erneuerer. „Ein neues Japan!“, ruft er in seinem Wahlkampf immer wieder, „eine neue LDP!“ Mit ihm sei seine Partei geläutert, und damit sei dann auch ganz Japan geläutert. Es werde wieder Wirtschaftswachstum geben und mehr Sicherheit. Wie genau das geschehen soll? Da bleibt der gerade erst gewählte Premier vage.

Unter jüngeren Menschen – auch dies ein Armutszeugnis für Regierung wie Opposition – ist die Wahlbeteiligung sehr niedrig.

Eigentlich müsste so etwas bestraft werden, zumal bei einer Partei, die regierend das Vertrauen der Menschen verspielt hat – nicht nur durch Korruption, sondern auch durch die immer wiederkehrenden Versprechen von Wirtschaftswachstum, die sich in den vergangenen zwölf Jahren de facto nicht verwirklicht haben. Doch die Oppositionskräfte, auch wenn sie gerade zu erstarken scheinen, schlagen daraus viel zu wenig Kapital. Die Parteien links der Mitte sind stark zersplittert. Bis 2012 regierte die linksliberale Demokratische Partei (DPJ), die 2009 vor allem deshalb gewann, weil viele Wähler der korrupten LDP überdrüssig waren. Doch 2011 wurde Japan von der Dreifachkatastrophe in Tohoku erschüttert: Ein schweres Erdbeben, ein massiver Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima Daiichi brachten das Land in eine Krise. Die DPJ gab eine schlechte Figur ab, 2012 verlor sie die Wahl. Kurz darauf änderte die DPJ ihren Namen, formierte sich neu, änderte wieder ihren Namen. So geben die Oppositionsparteien links der LDP seit Jahren ein inkohärentes Bild ab. Gleichzeitig formieren sich rechts von der LDP neue Kräfte, die eine noch rigidere Haltung gegenüber Einwanderung und Geflüchteten fordern. Diese Zerstrittenheit der Opposition – sowohl links als auch rechts – spielt der LDP in die Hände, die dadurch ungestört weitermachen kann wie bisher.

Doch nicht nur die schwache Opposition ist ein Grund für die verblüffende und kaum verdiente Stärke der LDP. Auch die Wählerdemografie spielt ihr in die Karten. Japans alternde Bevölkerung begünstigt konservatives oder gar nostalgisches Wahlverhalten, die Erinnerung an das einstige Wirtschaftswunder hilft den Konservativen. Unter jüngeren Menschen – auch dies ein Armutszeugnis für Regierung wie Opposition – ist die Wahlbeteiligung hingegen sehr niedrig: Sie lag zuletzt bei rund 36 Prozent für die 20- bis 29-jährigen.

Und das ist die größte Gefahr der Wahl an diesem Wochenende: Selbst wenn die LDP nur mit einem blauen Auge davonkommt, wird sie ein für ihre Verhältnisse schlechtes Ergebnis wohl trotzdem noch als Wahlsieg verbuchen können. Dann wird mit Shigeru Ishiba ein Politiker regieren, der schon dreimal Minister war und sich dennoch als Außenseiter inszenieren kann. Am Ende wird sich voraussichtlich wenig ändern in Japan. Bis auf ein stärkeres Militär. Wofür an anderen Stellen wohl gespart werden wird.