Dass der indische Premierminister Narendra Modi eine Fernsehansprache hält, kommt selten vor. Am Abend des 24. März machte er eine Ausnahme und teilte der Bevölkerung mit, dass das Land wenige Stunden später für drei Wochen heruntergefahren werde. Nur die absolute Grundversorgung werde aufrechterhalten. Außerdem sollten die Inderinnen und Inder ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Mit dem Lockdown sollte die Ausbreitung des Coronavirus eingedämmt werden. Die indische Strategie könnte funktionieren, aber sie könnte auch scheitern. Die bestehenden Risse in der indischen Gesellschaft werden durch die Art und Weise, wie die Ausgangssperre geplant wurde und umgesetzt wird, aber mit Sicherheit tiefer.
Viele Länder in der ganzen Welt haben mehr oder weniger strenge Ausgangssperren verhängt, aber der indische Lockdown war die größte und gewagteste Unternehmung. Ein Fünftel der Weltbevölkerung nicht mehr aus dem Haus zu lassen, ist in jeder Hinsicht ein drastischer Schritt.
Trotz der immensen Tragweite der Entscheidung machte man sich allerdings über die Planung offenbar nur wenig Gedanken. Wenn ein Land heruntergefahren wird, muss die elementare Versorgung weiterlaufen. Es muss für Lebensmittel und andere Güter gesorgt sein, und der Staat muss sich der besonders Schutzbedürftigen annehmen. Nichts von alledem wurde jedoch vor der Ankündigung der Ausgangssperre in die Wege geleitet.
Das hatte zur Folge, dass der Lockdown das fragile Gesellschafts- und Wirtschaftsgefüge des Landes weit mehr strapaziert hat als nötig – weil die Regierung blind agierte, aber zum Teil auch deswegen, weil genau das beabsichtigt war.
Die Kluft zwischen denen, die an den sozialen Sicherungssystemen des Wohlfahrtsstaates teilhaben, und jenen, die dies nicht tun, ist in Indien besonders tief. Die Mittel- und Oberschicht erhält diverse Leistungen vom Staat, ebenso wie viele Menschen in ländlichen Gebieten, die bei der Sozialversicherung gemeldet sind. Doch in Indiens veraltetem Wohlfahrtsstaat klafft eine große Lücke. Sie betrifft die Armen in den Städten und in besonderem Maße die Wanderarbeiter. Sie bekamen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Ausgangssperre sofort und unmittelbar zu spüren.
Durch die Stilllegung der indischen Wirtschaft, die zum großen Teil eine Schattenwirtschaft ist, verloren Millionen von Menschen ihren täglichen Lohn und standen auf einmal vollkommen mittellos da. Viele konnten ihre Miete nicht mehr zahlen, andere sich nicht einmal Lebensmittel leisten. In ihre Heimatdörfer konnten sie auch nicht zurück – es fuhren keine Züge mehr. So drängten sich die Menschenmassen in den Busbahnhöfen, wo die sozialen Abstandsregeln zur Farce wurden, oder liefen auf verlassenen Schnellstraßen Hunderte von Kilometern zu Fuß nach Hause. Wegen der Gleichgültigkeit des indischen Staates hatte die pandemiebedingte Krise bereits eine humanitäre Tragödie ausgelöst, bevor die Pandemie überhaupt um sich griff.
Wegen der Gleichgültigkeit des indischen Staates hatte die pandemiebedingte Krise bereits eine humanitäre Tragödie ausgelöst, bevor die Pandemie überhaupt um sich griff.
Das ist allerdings kein Zufall. Für den indischen Staat waren die Arbeiter, die in der Schattenwirtschaft der Städte ihr Brot verdienen, lange Zeit ein blinder Fleck. Wer in einer großen Fabrik arbeitet oder einer Gewerkschaft angehört, steht unter dem Schutz von Recht und Gesetz; wer auf dem Land die Felder bewirtschaftet und für immer in seinem Dorf bleibt, hat Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen, die auf das dörfliche Indien zugeschnitten sind. Doch wer seine Heimat verlässt und in der Stadt Arbeit sucht, ist kaum oder gar nicht abgesichert. Und obwohl Indien eine lebendige Demokratie ist, erreichen nur wenige Binnenmigranten, dass sie ihr Stimmrecht auch in der Stadt ausüben dürfen, in der sie arbeiten. Entsprechend wenig fühlen die Politiker in den Städten sich bemüßigt, sich für sie starkzumachen.
In gewisser Weise baut Indiens Entwicklungsmodell auf der Verheißung auf, die diese Millionen von Binnenmigranten darstellen – wir nennen das die „demografische Dividende“. Sie beruht darauf, dass Indien ein junges Land mit einem großen Überhang an jungen Menschen ist, die auf Jahrzehnte hinaus für das Wachstum des Landes sorgen werden. Die Pandemie offenbart jedoch schonungslos einen der Schwachpunkte dieses Entwicklungsmodells: Genau die Menschen, die Indiens Zukunft aufbauen sollen, bekommen vom Staat keinerlei Gegenleistung.
Was das für die Zukunft des Landes bedeutet, ist politisch und wirtschaftlich eine offene Frage. Die Spannungen zwischen Stadt und Land, zwischen dem reicheren Süden und dem unterentwickelten Norden, zwischen den Globalisierten und den Aufstrebenden waren ohnehin schon stark ausgeprägt. Das einzige Bindeglied zwischen diesen auseinanderdriftenden Bevölkerungsgruppen waren die Binnenmigranten. Dadurch, dass die Wanderarbeiter genau in dem Moment im Stich gelassen wurden, in dem sie ganz besonders auf Hilfe angewiesen waren, wird dieses Bindeglied zerstört.
Zur Rechenschaft gezogen wird deswegen allerdings niemand. Das Perverse an populistischer Politik in Indien und anderswo ist, dass die starken Männer sich eklatante Fehler leisten können und ihre Wählerinnen und Wähler ihnen trotzdem keinen Vorwurf machen. Stattdessen werden andere Sündenböcke ausfindig gemacht.
In Indien kommt die Sündenbockrolle traditionell den religiösen Minderheiten zu. Die Pandemie und der Lockdown brachen just zu einem Zeitpunkt über Indien herein, als für die Muslime landauf, landab die offizielle und inoffizielle Regierungspolitik ohnehin schon bedrohliche Formen angenommen hatte. Die Regierung hatte das Staatsbürgerschaftsrecht reformiert und eine große Registrierungsoffensive angekündigt. Beides zielte darauf ab, Millionen indischer Muslime zu Staatenlosen zu machen.
Gleichzeitig begann die Regierung mit dem Bau riesiger Internierungslager und brandmarkte in ihrer politischen Rhetorik die Muslime pauschal als illegale Einwanderer. Die lautstarken, aber gewaltlosen Proteste gegen das neue Gesetz erwiderten organisierte rechte Gruppierungen mit gezielter Gewalt. De facto handelte es sich um Pogrome.
Das Perverse an populistischer Politik in Indien und anderswo ist, dass die starken Männer sich eklatante Fehler leisten können und ihre Wählerinnen und Wähler ihnen trotzdem keinen Vorwurf machen.
Traurigerweise wird sogar die Pandemie als Gelegenheit genutzt, die Spaltungsagenda weiter voranzutreiben, die nicht nur für das ideologische Programm des rechten Establishments, das derzeit am Ruder ist, sondern auch für dessen geplanten Sieg bei den nächsten Wahlen eine entscheidende Rolle spielt. Wenn Rechte eine Wahl gewinnen wollen, sorgen sie dafür, dass der Wahlkampf durch das Prisma einer einenden Gruppenidentität ausgefochten wird – in Indien bedient man sich dazu der Hindu-Identität. Die eigenen Reihen schließen und Polarisierung betreiben kann das rechte Establishment am besten, wenn es immer wieder in die Kerbe haut, dass Muslime anders sind und man ihnen nicht über den Weg trauen kann. Das Vertrauen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften ist in Indien derzeit leider im Schwinden begriffen.
Pandemien können sich durch Infektionsherde ausbreiten – an Orten wie Skihütten, Kreuzfahrtschiffen oder Hotels, wo Menschen sich auf engem Raum drängen und über einen beträchtlichen Zeitraum mit infizierten Personen in Berührung kommen. In Indien war einer dieser Infektionsherde ein Hostel, in dem Anfang März – also vor der landesweiten Ausgangssperre – Konferenzteilnehmer der länderübergreifenden muslimischen Missionsgesellschaft „Tablighi Jamaat“ (TJ) untergebracht waren. Anschließend schwärmten infizierte Teilnehmer ins ganze Land aus und steckten, wie nicht anders zu erwarten, einige andere an. Nach TJ-Konferenzen in Pakistan und Indonesien kam es zu ähnlichen Problemen.
Natürlich hat der Staat die Aufgabe, die Infizierten unter Quarantäne zu stellen, die Kontaktpersonen ausfindig zu machen und sie alle auf Covid-19 zu testen. Die indischen Behörden gingen aber noch einen Schritt weiter: Das Hostel wurde in offiziellen Verlautbarungen als einziger Grund dafür genannt, dass die Krankheit sich nach wie vor ausbreitete. Mit tendenziösen statistischen Aussagen wurde die indische Bevölkerung, was die Bedeutung des Hostels als Infektionsherd anging, in die Irre geführt. Wenn man nur muslimische Missionare und ihre Kontaktpersonen testet, hat man die Statistik natürlich auf seiner Seite, wenn man behauptet, die Muslime hätten überproportional stark zur Ausbreitung des Virus beigetragen.
Die Folge ist, dass Muslime im ganzen Land weiter ghettoisiert und Ziel von Angriffen werden. Selbst die etablierten Medien verbreiteten Fake News und Gerüchte und behaupteten, Muslime würden andere Menschen – auch Polizisten, Ärzte und Pflegekräfte – durch Anspucken vergiften. Wie bei zahllosen früheren Pandemien wird den „Außenseitern“ vorgeworfen, sie würden das gemeine Volk vergiften; die Parallelen zur Verfolgung der jüdischen Gemeinschaften zu Zeiten der Pest in Westeuropa liegen auf der Hand.
In Pandemien wächst die Akzeptanz für Einschränkungen der Bürgerrechte und insbesondere der Bewegungsfreiheit. Das ist nicht verwunderlich. Dennoch besteht die sehr reale Möglichkeit, dass rechte Regierungen dies nutzen, um die Minderheiten, die sie sowieso als „infektiös“ verdammen, noch weiter in die Isolation zu treiben. Wenn die indische Regierung die Ausgangssperre aufhebt, hat sie einen perfekten Vorwand, um die Niederlassungsfreiheit von Muslimen in Städten und Dörfern weiter einzuschränken. Dies wäre der nächste Schritt der Ghettoisierung, die mit gezielter Gewaltanwendung ihren Anfang nahm. Wir können nur hoffen, dass die ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für Recht und Ordnung diejenigen, die die Pandemie für ihre Zwecke missbrauchen, zum Rückzug bewegt, bevor es zu spät ist.
Eine Welt, die in Angst vor der Pandemie erstarrt, bringt nur sehr wenig Aufmerksamkeit für anderes auf. Die Gefahr ist allerdings, dass die Ausgrenzung und Einengung der Armen, der Benachteiligten und derer, die anders sind, sich noch lange fortsetzen wird, wenn das Virus schon lange besiegt ist.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld