Fünf Jahre können eine politische Ewigkeit sein, man frage nur mal im Vereinigten Königreich nach. Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Britinnen und Briten dafür, die EU zu verlassen. Der Brexit war vom politischen Schlagwort einer Randpartei zum wichtigsten Tagesordnungspunkt der britischen Politik geworden.

Aber vom Votum zum Faktum dauerte es nahezu fünf Jahre, dazwischen lagen zwei Parlamentswahlen, eine turbulente Phase parlamentarischer Blockaden und ein Verhandlungsmarathon zwischen London und Brüssel. Es gab am Ende zwar ein Abkommen, aber das Feintuning des britisch-europäischen Verhältnisses wird wohl auf Jahre auf der Tagesordnung bleiben. Die Basis für ein konstruktives Miteinander ist dabei dünner denn je, weil viel Vertrauen ineinander verloren gegangen ist.

Aber auch wenn der eigentliche Brexit erst wenige Monate zurückliegt, kann man jetzt schon einige Schlüsse aus dem Prozess ziehen, der vor fünf Jahren in Gang gesetzt wurde. Dabei muss der Blick über das Vereinigte Königreich hinausgehen und auch die EU mit einbeziehen. Denn kurz nach dem Referendum überwogen die Befürchtungen, dass der Brexit ein Spaltpilz für die EU sein würde, der im einen oder anderen Land seine Nachahmer finden würde.

Die Bilanz ist für beide Seiten bisher trüb. Der Brexit war in den Worten von Jean-Claude Juncker eine Zeit- und Energieverschwendung, er hat daneben aber auch Einfluss und Prosperität gekostet. Der Handel zwischen der EU und dem UK ist zurückgegangen. Was im Vorfeld des Referendums noch als „Project Fear“ verunglimpft wurde, ist heute „Project Fact“, wie der Economist treffend feststellt. Auf internationaler Bühne dagegen steht London nun eher allein da und der EU fehlt das Gewicht des UK.

Die Bilanz ist für beide Seiten bisher trüb.

Trotz der anfänglichen Bedenken ist es der EU gelungen, einen erstaunlichen Zusammenhalt in den Verhandlungen zu zeigen und den eigenen Laden zusammen zu halten. Die Befürchtungen eines Domino-Effekts haben sich nicht bewahrheitet, ganz im Gegenteil. Die teils stümperhaften Anstrengungen Londons, die EU-Staaten gegeneinander auszuspielen und den Brexit im eigenen Land als Gewinn zu verkaufen, haben die Gefahr eines weiteren Abbröckelns zumindest mittelfristig unwahrscheinlicher gemacht.

Diese positive Folge darf aber nicht übertünchen, dass die demokratischen Defizite der EU unbearbeitet bleiben. Denn das britische Argument, dass Souveränität immer auch mit demokratischer Kontrolle und Rechenschaftspflicht einhergeht, trifft in einer EU, die zunehmend intergouvernemental agiert, eine offene Wunde. Die Rolle des Europäischen Parlaments, die Begründung dafür, warum die Mitglieder der EU bewusst Souveränität an Brüssel abgeben und wie das europäische Projekt auch in Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Mitsprache erlaubt, bleiben weiterhin unerledigte Hausaufgaben der EU aus dem Brexit.

Auf der anderen Seite des Kanals sieht es dagegen noch komplizierter aus. Der erhoffte Spaltpilz für die EU hat sich als ansteckend für das Vereinigte Königreich erwiesen. Die schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen sind durch den Brexit wiederbelebt worden. Die Zwitterrolle Nordirlands als Teil des Vereinigten Königreichs, das aber weiterhin Teil des europäischen Binnenmarktes ist, sorgt für eine Zunahme der Spannungen auf der irischen Insel. Eine Vereinigung scheint nicht mehr auszuschließen zu sein.

Dies hängt auch mit einem Aspekt des Brexitversprechens zusammen, der sich zunehmend als Knallcharge entpuppt. Der griffige Slogan „Take back control“, mit dem die Kampagne gewonnen wurde, suggerierte, dass im Gegensatz zur EU, Entscheidungen im UK, demokratischer und bürgernaher gefällt werden würden. Die Umsetzung erfolgte aber eher im Sinne „Take back control to London“, da mit dem Brexit die Entscheidungsbefugnisse der Regierung gestärkt wurden und regionale Akteure an Gestaltungsfreiheit verloren.

Der Brexit ist in der Folge zum Vehikel einer Mutation der konservativen Partei geworden, die sich zunehmend nationalistischer und immigrationsfeindlicher gebärdet.

Politisch hat der Brexit für massive Turbulenzen gesorgt und das Vertrauen in Institutionen wie Regierung, Parteien und ganz allgemein das Parlament zusätzlich verringert. Das Referendum, das in der Wahl zwischen Status quo und einem mehr als vagen Versprechen eines glücklichen UK außerhalb der EU per se schon hochproblematisch strukturiert war, wirkte dabei wie eine Art Brandbeschleuniger. Die inhärente Spannung zwischen direkter und repräsentativer Demokratie wurde den Bürgerinnen und Bürgern in Form eines entscheidungsunfähigen Parlaments vor Augen geführt.

Warum die Volksvertreter so lange nicht in der Lage waren, den anscheinend im Referendum zu Tage getretenen Volkswillen umzusetzen, war vielen nicht erklärlich, da die Vertreter des Brexit und die mit ihnen verbündeten Medien den Austritt aus der EU als Gewinn ohne Kosten angepriesen hatten. Nichts sei leichter als ein Abkommen mit der EU

Das war der Nährboden für eine radikalisierte konservative Tory-Partei unter Boris Johnson. Als sichtbarster Mainstream-Vertreter des Leave-Votums konnte er die in sich zerstrittene Partei unter dem Slogan „Get Brexit Done“ vereinen und damit 2019 einen historisch hohen Wahlsieg einfahren. Dabei gelang es ihm, Wahlkreise zu erobern, die jahrzehntelang Labour-Stammland waren. Hier beschleunigte das Referendum den Abbau langjähriger Parteiloyalitäten, weil viele dieser Wahlkreise mehrheitlich für den Brexit gestimmt hatten. Die Vereinigung dieses Stimmenblocks in allen Landesteilen durch Johnson war 2019 der entscheidende Faktor für den hohen Wahlsieg.

Johnson und seine Brexiteer-Tories nutzen die Freiheiten gnadenlos aus, die ihnen die antiquierten Traditionen und Bräuche ermöglichen.

Der Brexit ist in der Folge zum Vehikel einer Mutation der konservativen Partei geworden, die sich zunehmend nationalistischer und immigrationsfeindlicher gebärdet. Ökonomisch hat sie sich von der neoliberalen Thatcher-Partei zu einer britischen Variante der ungarischen Fidesz oder der polnischen PiS entwickelt. Staatliche Gelder werden für politische Zwecke freigebig eingesetzt, eigene Wahlkreise großzügig bedacht und das alles unter dem Union-Jack-Banner als Teil eines britischen Wiederaufbauprogramms deklariert.

Mit den Debatten rund um den Brexit und dem bröckelnden Vertrauen in die Institutionen sind die Standards der britischen Politik, die schon immer auf ungeschriebenen Absprachen und Gentlemen’s Agreements beruhte, erodiert. Johnson und seine Brexiteer-Tories nutzen die Freiheiten gnadenlos aus, die ihnen die antiquierten Traditionen und Bräuche ermöglichen. Die Missachtung des ministeriellen Kodex, das Abladen von Verantwortung auf Beamten, anstatt durch politische Amtsträger und ungezügelte Günstlingswirtschaft sind die Folge.

Durch die Brille eines konservativen Parteistrategen geblickt, ist der Brexit daher ein politischer Goldesel. Er hat die Macht der Tories gefestigt und potentiell auf Jahre hinaus stabilisiert, indem er der Partei eine Wandlung vom Sparsaulus zum britischen Wohlfahrtspaulus ermöglicht hat. Gleichzeitig erlaubt er es der Partei immer wieder neue Streitigkeiten mit der EU vom Zaun zu brechen und sich als Fackelträger britischer Souveränität und Selbstbehauptung zu gerieren. Nichts eint die eher disparate Wählerschaft der Tories mehr, als europhobe Slogans.

All das lässt den Blick auf die kommenden fünf Jahre eher pessimistisch ausfallen. Denn sie werden geprägt sein von stetigen Scharmützeln zwischen Brüssel und London, die rein innenpolitisch motiviert sind. Die Lösung gemeinsamer Probleme, sei es ein erfolgreiches Klimaabkommen, die Weiterentwicklung der NATO oder der Umgang mit Russland wird von atmosphärischen Eintrübungen behindert werden. Und der Brexit wird vor allem für die „Versprecher“ von Get Brexit Done zur Schweizer Vorhölle werden – unendliche Verhandlungen, die uns die kommenden Jahrzehnte beschäftigen werden.