Im Zuge der fieberhaften Bemühungen der Europäischen Union, die durch die russische Invasion der Ukraine verursachte Gasversorgungslücke zu schließen, flog EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen letzte Woche nach Aserbaidschan – ein Land, das reich an Energieträgern und für schwere Menschenrechtsverletzungen bekannt ist.

Das Ergebnis der Reise war eine Absichtserklärung über eine „strategische Energiepartnerschaft“ zwischen der EU und Aserbaidschan. Drei Tage vor von der Leyens Baku-Besuch hatte Joe Biden den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, den der US-Präsident früher einmal wegen dessen Brutalität zum „Paria“ machen wollte, per Fistbump begrüßt. Nun will Biden Saudi-Arabien und andere Golfstaaten bewegen, durch eine deutliche Steigerung ihrer Öl- und Gasförderung die weltweite Energiekrise zu lindern.

Die Reisen des US-Präsidenten und der Präsidentin der Europäischen Kommission haben deutlich gemacht, wie verzweifelt der Westen versucht, die weltweiten Öl- und Gaspreise zu senken, um die innenpolitisch schädliche Inflation einzudämmen und die Geschlossenheit der NATO gegenüber Russland zu wahren – auch wenn dies den Schulterschluss mit eingefleischten Diktatoren bedeutet.

Von der Leyen pries ihre Reise nach Baku als Meilenstein in den Beziehungen zum „zuverlässigen Energielieferanten“ Aserbaidschan, der der EU helfen werde, ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland zu verringern. Dies ist Teil einer energiepolitischen Strategie, die von den Vereinigten Staaten voll und ganz unterstützt wird: Einer der Eckpunkte der gemeinsamen Erklärung zur europäischen Energiesicherheit, die von der Leyen und Biden am 27. Juni 2022 abgaben, ist der Ruf nach „Partnerschaften zur Diversifizierung“ der europäischen Energieversorgung. In Brüssel gilt Aserbaidschan im Rahmen dieser Strategie ganz offenkundig als wichtiger Akteur.

Trotz von der Leyens enthusiastischer Rhetorik kann das unterzeichnete Abkommen die Energiesorgen der EU nicht ernsthaft lindern.

Die mit Aserbaidschan unterzeichnete Absichtserklärung ist allerdings nicht sonderlich umfangreich. Die fünf Seiten lesen sich eher wie eine lange Liste von „Bestrebungen“ und weniger wie ein Katalog verbindlicher Zusagen. Angestrebt wird vor allem die Entwicklung gemeinsamer Ziele in den Bereichen Klimaschutz und erneuerbare Energien. Das Einzige, was sich als konkreter Vorschlag deuten ließe, ist das Ziel, „bis 2027 den bilateralen Erdgashandel einschließlich des Gashandels mit der EU über den Südlichen Gaskorridor um mindestens 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr auszubauen“. Das wäre mehr als das Doppelte der gesamten aserbaidschanischen Gasexporte in die EU, die sich 2021 auf 8,2 Milliarden Kubikmeter beliefen. Doch selbst dieses Ziel ist unverbindlich formuliert – Baku soll die Verdoppelung seiner Gasausfuhren lediglich „anstreben“ und geht mit dem Dokument keinerlei Verpflichtung ein, dies tatsächlich zu tun. Wie unverbindlich das Memorandum ist, macht die Schlussklausel deutlich. Dort heißt es, dass „mit der Absichtserklärung keine verbindlichen rechtlichen oder finanziellen Verpflichtungen“ für beide Seiten geschaffen werden.

Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob Aserbaidschan die formulierten Ziele auch tatsächlich erfüllen kann. Wie der Energieexperte David O’Byrne ausführt, hat Aserbaidschan „nur begrenzten Spielraum für Produktionssteigerungen und muss den Bedarf im eigenen Land decken“. Um das eigene Land zu versorgen, hat Aserbaidschan ein trilaterales Gasaustauschabkommen mit dem Iran und Turkmenistan geschlossen. Ironischerweise setzt also der Erfolg des Abkommens zwischen der EU und Aserbaidschan gewissermaßen voraus, dass das aserbaidschanische Abkommen mit dem Iran, den die USA mit ihren harten Sanktionen vom internationalen Energiemarkt ausschließen wollen, weiter umgesetzt wird.

Doch selbst dann, wenn Aserbaidschan seine Exporte bis 2027 erfolgreich auf 20 Milliarden Kubikmeter verdoppeln würde, wäre das Land nach Einschätzung von David O’Byrne als Energielieferant bei Weitem zu klein, um schon im kommenden Winter den möglichen Ausfall von 150 Milliarden Kubikmeter russischen Erdgases auszugleichen.

Trotz von der Leyens enthusiastischer Rhetorik kann das unterzeichnete Abkommen die Energiesorgen der EU also nicht ernsthaft lindern. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew kann es jedoch ganz klar als diplomatischen Erfolg für sich verbuchen, denn er sieht in Russlands Krieg in der Ukraine die Chance, sein Land als unverzichtbaren Partner der EU in Stellung zu bringen. Die regimetreue Presse in Baku begrüßte überschwänglich Aserbaidschans „wachsenden geopolitischen und geoökonomischen Einfluss“.

Doch wenn schon „europäische Werte“ aufgegeben werden müssen, dann sollte dies wenigstens in einem Land geschehen, das seine Versprechen halten kann.

Aus Rücksicht auf Alijew vermied von der Leyen jegliche Kritik an Aserbaidschans katastrophaler Menschenrechtsbilanz und seiner unnachgiebigen Haltung im Berg-Karabach-Konflikt mit Armenien. Aserbaidschan weigert sich nach wie vor, den Karabach-Armeniern auch nur eine begrenzte kulturelle Autonomie zuzugestehen. Diese Problematik war vor 30 Jahren die eigentliche Konfliktursache. Dass von der Leyen sich zu diesem Thema ausschwieg, wurde von etlichen Mitgliedern des europäischen Parlamentsscharf kritisiert, die erst im März 2022 in einer Resolution die aserbaidschanische Politik der Zerstörung des armenischen Kulturerbes in Karabach verurteilten. 600 Abgeordnete hatten für die Resolution und nur zwei dagegen gestimmt.

Dass solche kritischen Äußerungen in Baku für Unmut sorgten, zeigte sich in Alijews Umgang mit einer Delegation des Europäischen Parlaments, die zufälligerweise einen Tag nach Ursula von der Leyen in Aserbaidschan zu Gast war und von Alijew beschimpft wurde, weil sich die Parlamentarier angeblich für die Interessen der „armenischen Lobby“ einspannen ließen.

Die Europäische Kommission mag die menschenrechtspolitische Kritik mit Verweis auf den bedauerlichen, aber unvermeidlichen Preis abtun, den sie für die Realpolitik zu zahlen hat. Wer würde angesichts des bevorstehenden kalten Winters in Abrede stellen, dass die Beheizung der europäischen Wohnstuben oberste Priorität hat? Doch wenn schon „europäische Werte“ aufgegeben werden müssen, dann sollte dies wenigstens in einem Land geschehen, das seine Versprechen halten kann. Aufgrund des Beitrags, den Aserbaidschan maximal zur Energieversorgung leisten kann, zählt es nicht zu diesen Ländern.

Im Gegensatz dazu könnte der Iran – auch ein Land mit reichen Energiereserven und erschreckender Menschenrechtsbilanz – aufgrund seiner weitaus größeren Gasreserven (den zweitgrößten der Welt) eine viel bedeutendere Rolle spielen. Hätte nicht der ehemalige US-Präsident Trump das Atomabkommen JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action) von 2015 einseitig aufgekündigt, sähe die energiepolitische Zukunft der EU heute viel besser aus. Nach Abschluss des JCPOA hatte der französische Energieriese Total zugesagt, 4,8 Milliarden Dollar in die Erschließung von South Pars zu investieren, das als größtes Offshore-Gasfeld der Welt gilt. Der Konzern hatte seine Pläne jedoch aufgeben müssen, nachdem Trump das Abkommen aufgekündigt und Sekundärsanktionen gegen ausländische und auch gegen europäische Unternehmen verhängt hatte, die im Iran investieren. Weil die Regierung Biden es versäumt hat, das Atomabkommen wiederzubeleben, stehen die reichen iranischen Gasreserven dem Markt nicht zur Verfügung, sondern können nur in den Mengen nach Aserbaidschan exportiert werden, die das trilaterale Tauschabkommen der beiden Länder mit Turkmenistan vorsieht.

Mit anderen Worten: Die USA erklären zwar, sie fühlten sich der Energieversorgungssicherheit der EU verpflichtet, aber in Wahrheit gefährden sie diese. Die EU-Vertreter dürfen unterdessen um die Welt reisen, um ein paar Kubikmeter Gas zusammenzukratzen, und verschaffen dafür ausgesprochen fragwürdigen Regimes eine politische Legitimation.

Die englische Originalversion des Artikels erschien zuerst bei Responsible Statecraft.

Dieser gibt die persönliche Meinung des Autors wieder und entspricht nicht zwangsläufig der Auffassung der S&D-Fraktion oder des Europäischen Parlaments.

Aus dem Englischen von Christine Hardung