Was für eine Tragödie. Was für eine Farce. Der Mann, der seinem Land Hoffnung und Widerstandskraft gab, als es von Russland überfallen wurde, und der wie kein anderer den ukrainischen Freiheits- und Widerstandswillen verkörpert, wird vor der Weltöffentlichkeit bloßgestellt – und soll sich dann auch noch bei Donald Trump entschuldigen. Der neue starke Mann im Weißen Haus fordert seinen Skalp. Wer nun behauptet, Wolodymyr Selenskyj hätte sich besser so unterwürfig wie Emmanuel Macron oder Keir Starmer verhalten sollen, glaubt offenbar, er hätte den Eklat vermeiden können. Doch für Trump, J.D. Vance und ihre Verbündeten ist die öffentliche Demütigung Selenskyjs kein Zufall, sondern Kalkül: Sie ebnen den Weg für eine rasche Einigung mit Wladimir Putin. Putin will einen Regierungswechsel in der Ukraine – und Trump scheint bereit, das für ihn zu erledigen. Vor laufenden Kameras wird eine weitere seiner Forderungen für ein Kriegsende erfüllt. Selbst wenn Selenskyj Trump die Füße geküsst hätte, wäre dieser „Eklat“ nicht zu verhindern gewesen. Mittlerweile hat Trump die Militärhilfe für die Ukraine ausgesetzt und damit nochmals den Druck auf Selenskyj erhöht.
Das vehemente, mitunter fast aggressive Einfordern von Solidarität war lange eine Erfolgsstrategie der ukrainischen Diplomatie. Die Ukraine reklamierte nicht nur Unterstützung, sondern ein Recht auf Solidarität. Wer für die Freiheit stirbt, so die Botschaft, muss nicht bitten – er kann fordern. In Deutschland trieb der damalige ukrainische Botschafter mit Unterstützung der Medien den Bundeskanzler vor sich her.
Donald Trump nutzt das unterschwellige Unbehagen gegenüber einer fordernden, statt bittenden Ukraine, um Wolodymyr Selenskyj mangelnde Dankbarkeit vorzuwerfen – sehr zur Freude seiner MAGA-Anhänger. Trump & Co. wissen, dass es kurzfristig keine Alternative zur US-Macht gibt und sie sich entsprechend viel erlauben können. Doch gerade weil die neue amerikanische Aggressivität globale Gegenallianzen hervorbringen könnte, setzen die USA auf „Blitzsiege“. Ihr Ziel: machtpolitische Fakten schaffen, bevor sich alternative Bündnisse formieren können.
Mit der faktischen Schwäche Europas schwindet nach dem politischen Kurswechsel in den USA auch die europäische Solidarität – nicht in Worten, aber in der Realität. Der britische Premierminister Keir Starmer erklärte, das Vereinigte Königreich werde nur dann Friedenstruppen entsenden, wenn die USA Sicherheitsgarantien geben – was faktisch bedeutet, dass es keine Entsendung geben wird. Emmanuel Macron reist in die Ukraine, um Frankreich noch schnell einen Anteil an den Rohstoffen des Landes zu sichern. Donald Tusk hat eine Beteiligung polnischer Truppen an einer möglichen Friedenstruppe umgehend ausgeschlossen. Und Friedrich Merz wird sich hüten, in dieser Lage die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern zu ermöglichen.
Die Bitten Macrons und Starmers in Washington, die Ukraine – und letztlich Europa – nicht im Stich zu lassen, verhallten ungehört. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, die sich kritisch zu Trumps Ukraine-Politik geäußert hatte, wurde vom US-Außenminister gar nicht erst empfangen. Am Ende einer Woche voller diplomatischer Rückschläge wurde dann Selenskyj vor laufenden Kameras abgekanzelt – und mit leeren Händen nach Hause geschickt. Die Solidaritätsbekundungen Europas wirken derzeit vor allem hilflos.
Europa ist derzeit weder ernsthaft willens noch in der Lage, die amerikanische Militärhilfe zu ersetzen oder Russland ohne die USA militärisch die Stirn zu bieten.
Europa ist derzeit weder ernsthaft willens noch in der Lage, die amerikanische Militärhilfe zu ersetzen oder Russland ohne die USA militärisch die Stirn zu bieten. Angesichts wachsender Zweifel, ob die USA ihren NATO-Verpflichtungen weiterhin nachkommen werden, erhält eine russische nukleare Drohung gegenüber Europa ein neues Gewicht. War es in den vergangenen Jahren umstritten, ob Putins nukleare Drohungen real oder bloßer Bluff sind, zeigt die europäische Zurückhaltung, sich ohne den amerikanischen Nuklearschirm einem Konflikt mit Russland auszusetzen, dass sich die Einschätzung unter den veränderten Bedingungen verschoben hat – und die Gefahr nun ernster genommen wird.
Europa und Deutschland müssen schnell handeln, um mittelfristig handlungsfähiger zu werden. Doch schnell bedeutet nicht übereilt. Es wäre ein fatales innenpolitisches Signal mit antidemokratischen Untertönen, wenn abgewählte Abgeordnete nun noch kurzfristig Hunderte von Milliarden für die Bundeswehr bewilligen würden. CDU und SPD haben keine andere Wahl, als mit aller Kraft eine Einigung mit der grünen und linken Opposition zu suchen – einen „Pakt der Vernunft“, der über eine Reform der Schuldenbremse die finanziellen Spielräume schafft, um gleichzeitig in Infrastruktur, Wohnungsbau, Verteidigung und ökologische Modernisierung zu investieren. Last-Minute-Deals ohne breite demokratische Legitimation wären ein Fehler – sie würden nur die Politikverdrossenheit weiter befeuern.
Anders als Europa hat die Ukraine keine Zeit. Sie steckt in einer nahezu ausweglosen Situation. Zwar kann sie mit verzweifeltem Heldenmut weiterkämpfen – doch wer will für eine verlorene Sache sterben? Die abrupte 180-Grad-Wende der USA wird unweigerlich die Moral an der Front schwächen. Damit die Opfer nicht vergeblich waren, bleibt der Ukraine kaum eine andere Wahl, als bei den russisch-amerikanischen Verhandlungen zumindest das Schlimmste zu verhindern.
Doch ein ukrainischer Präsident, der in Washington zur Persona non grata geworden ist, kann seinem Land in dieser Lage kaum noch dienen. Selenskyj hatte bereits zuvor seinen Rücktritt angeboten, sollte dies Sicherheitsgarantien für die Ukraine ermöglichen. Jetzt braucht das Land eine Führungspersönlichkeit, die das Vertrauen der Ukrainer genießt, von den USA als Gesprächspartner akzeptiert wird und zugleich keine Marionette Putins ist. Selenskyj sollte helfen, diese Person zu finden – bevor ihm das Heft des Handelns völlig entgleitet. Es ist bitter und ungerecht, aber es sieht so aus, als würde Selenskyj selbst von Trump nur dann noch an den Verhandlungen beteiligt werden, wenn er sich vorher öffentlich entschuldigen und sich Trumps Verhandlungsstrategie unterordnen würde.
Langfristig arbeitet die Zeit gegen Russland.
Eine Finnlandisierung (statt einer Belarusifizierung) der Ukraine wäre unter den gegebenen Bedingungen ein Erfolg. Es würde bedeuten, dass die Ukraine entlang des Frontverlaufs geteilt wird. Die freie Ukraine verpflichtet sich zur militärischen Neutralität, erhält jedoch den Status eines assoziierten EU-Mitglieds mit einer klaren Perspektive auf Vollmitgliedschaft. Gleichzeitig behält sie die vollständige Hoheit über die Stärke und Ausrüstung ihrer Streitkräfte. Zur Sicherung eines Waffenstillstands würde eine internationale Friedenstruppe unter UN-Führung – finanziert von Europa und mit einem Mandat sowohl von Russland als auch der Ukraine – die Einhaltung der Vereinbarungen überwachen. Selbst dieses Minimalziel erfordert jedoch ein entschlossenes Europa, das seine begrenzten, aber keineswegs unbedeutenden Möglichkeiten zur Unterstützung der Ukraine voll ausschöpft.
Wären solch weitreichende Zugeständnisse für Wladimir Putin ausreichend? Angesichts der hohen russischen Verluste sollte dies nicht von vornherein ausgeschlossen, sondern getestet werden. Doch schützt ein solches Entgegenkommen die Ukraine vor einem erneuten Angriff in den kommenden Jahren? Eine Garantie dafür gibt es nicht. Doch welche realistische Alternative bleibt? Langfristig arbeitet die Zeit gegen Russland – vorausgesetzt, Europa ist bereit, sowohl den Wiederaufbau der Ukraine wirtschaftlich zu unterstützen als auch die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Die europäische Wirtschaft ist um ein Vielfaches größer als die russische, und den 144 Millionen Russen stehen 450 Millionen Europäer gegenüber. Europa darf sich nicht kleinmachen.
Die russische Armee hat in den letzten zwei Jahren nur 0,2 Prozent des ukrainischen Territoriums erobert. Angesichts dieser mediokren militärischen Leistung erscheint ein konventioneller Krieg gegen Europa als etwas, das Putin vielleicht wollen könnte – aber kaum ernsthaft führen kann. Zudem spielt die Zeit weder wirtschaftlich noch demografisch noch innenpolitisch für Russland. Je länger ein fragiler Waffenstillstand hält, desto größer ist die Chance, dass er sich verfestigt – und sich zu einer stabileren Lösung entwickelt.
Selenskyj und das kämpfende ukrainische Volk haben darauf vertraut, dass ihr Freiheitskampf auch im amerikanischen und europäischen Interesse liegt. Doch die neue US-Außenpolitik setzt andere Prioritäten. Washington scheint darauf abzuzielen, mit Russland ins Geschäft zu kommen, um es in der Auseinandersetzung mit China zu neutralisieren. Wie realistisch diese Strategie ist, steht auf einem anderen Blatt. Doch dass dabei die Ukraine unter die Räder kommt, stört die USA offenbar wenig. Und wenn sie gleichzeitig Europa zu spüren geben, dass die Zeiten des „luxuriösen Protektorats mit Mitbestimmung“ (Egon Bahr) vorbei sind – umso besser.
Für die Menschen in der Ukraine ist die Lage bitter. Umso wichtiger ist es, dass Europa neben begrenzten militärischen Möglichkeiten unbedingt weiter die Kraft zur humanitären und wirtschaftlichen Solidarität aufbringt. Für Europa selbst steht eine grundlegende Weichenstellung an: Es muss den Sprung vom multilateralen Hühnerhaufen zu einem föderalen Staat schaffen – wenn es der Ukraine helfen und nicht selbst zur nächsten Ukraine werden will. Und zwar schnell.