Über das, was man gemeinhin als europäische Rechte bezeichnet – Politiker und Parteien jenseits der ruhigen Fahrwasser der Christdemokratie – wird zwar gerne und viel diskutiert, doch der nötige Grad an Differenziertheit stellt sich dabei aber längst nicht immer ein. Bis heute hält sich etwa die Annahme, es gäbe so etwas wie eine transnationale Allianz, obwohl sich Schlüsselakteure der Rechten oft inhaltlich uneins und persönlich spinnefeind sind.
Doch gibt es auch noch eine zweite, nicht minder problematische Verkrümmung der Linse, die weniger auf verzerrter Wahrnehmung als auf doppelten Standards fußt. Man denke zur Veranschaulichung nur an Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die seit bald drei Jahren die Geschicke ihres Landes leitet, und in dieser Zeit eine beeindruckende Wandlung erfahren hat.
Weil ihre Fratelli d’Italia einer neofaschistischen Traditionslinie entstammen (mit der sie aber längst gebrochen haben), fühlte man sich zu Beginn ihrer Amtszeit nämlich vielerorts bemüßigt, die gebürtige Römerin zu einem weiblichen Mussolini zu erklären: einer grimmig dreinblickenden Duce des 21. Jahrhunderts, deren Anhänger über kurz oder lang wieder mit dem Rutenbündel durch die Straßen paradieren.
Das war in dieser Überzeichnung schon damals ziemlicher Unsinn und ist es in der Rückschau erst recht. Der Faschismus ist lange tot, und ihn zur Beschreibung der Gegenwart aufzurufen, ein interpretatives Manöver, das allzu eng an der Grenze von Geschichtsverharmlosung und analytischer Betriebsblindheit entlangschlittert.
Inzwischen hat sich die Lage freilich beruhigt und die Angst vor einer faschistischen Renaissance ist selbst in den stark Fratelli-skeptischen Brüsseler Amtsstuben einem Gefühl der Erleichterung gewichen. Denn einerseits verläuft die Zusammenarbeit mit Meloni im Europäischen Rat reichlich unproblematisch und andererseits eilt ihr der Ruf einer begnadeten Trumpflüsterin voraus, wodurch sie eine wertvolle Scharnierfunktion in den oft diffizilen Gesprächen mit dem Weißen Haus einnimmt.
Orbán ist seit geraumer Zeit das bête noire der europäischen Politik.
Der Faschismusvorwurf ist vor diesem Hintergrund zum Geraune herabgesunken und auch das Schreckgespenst eines Italexit bereitet niemandem im Brüssler Berlaymont mehr schlaflose Nächte. Insgeheim ist man vermutlich sogar froh, dass das nach diversen Kapitäns- und Kurswechseln das heftig ins Schlingern geratene Staatsschiff Italiens dank der Stärke der Fratelli nun wieder halbwegs seetüchtig erscheint.
Und Meloni, das hat man erkannt, liebt zwar die Pose, ist zugleich aber intelligent genug, das Posenhafte nicht zur inneren Triebfeder ihres Handelns geraten zu lassen. In der Folge respektiert man die Reibungsarmut ihrer Regierungsarbeit auch in den Machtzentren des Kontinents und heißt die willensstarke „Gestaltenwandlerin“ wie eine alte Freundin willkommen, bei der jedes Lächeln und jede Umarmung dem Beobachter anzeigt: Seht her, das ist eine gute Rechte.
Anders verhält es sich mit Ungarns Langzeitpremier Viktor Orbán, der im Gegensatz zu seiner Amtskollegin mehr mit Quarz- als mit Samthandschuhen angefasst wird. Strafen, Sanktionen, harte Autokratievorwürfe: Orbán ist seit geraumer Zeit das bête noire der europäischen Politik und wird es mindestens bis zu den ungarischen Parlamentswahlen im April auch bleiben. Ein Mann, der die grauen Herren in Brüssel brüskiert und es nicht für nötig hält, die eigenen Machtambitionen mit der sonst üblichen Schicht aus rhetorischem Zuckerguss zu überziehen.
Stattdessen baut er seinen Sitz im Budapester Karmeliterkloster immer mehr zur Miniaturausgabe des Gallischen Dorfes aus der Asterix-Reihe um; wenn auch mit dem gewichtigen Unterschied, dass dieses Dorf bereits innerhalb des Reiches liegt, von dem es vereinnahmt werden soll.
Dass seine Hauspartei Fidesz jahrelang auf das Spiel mit den rechten Schmuddelkindern verzichtet und treues Mitglied der Europäischen Volkspartei gewesen war? Irrelevant. Dass der einstige Oxford-Stipendiat mehr als einmal bewiesen hat, dass er sein Ohr nah am ungarischen Durchschnittswähler hat? Geschenkt. Und dass er in verschiedenen Sachfragen keinesfalls rechts von Meloni steht, die auf heimischem Terrain ebenso zu einer gewissen Rustikalität neigt? Auch das fällt nicht weiter ins Gewicht, denn schließlich gilt Orbán schon aufgrund seiner politischen Chuzpe als Störenfried und Unruhestifter vor dem Herrn. Der Mann, den der vormalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal als Diktator bezeichnete, ist damit gewissermaßen das Negativ der um demonstrative Freundlichkeit bemühten Meloni: kein guter, sondern ein schlechter Rechter.
Wer als Rechter mit dem blaugoldenen Sternenfläggchen wedelt und in den kontinentalen Aufrüstungschor einstimmt, gilt als vernünftig, pragmatisch und mitunter gar respektabel.
Je tiefer man den Vergleich treibt, desto deutlicher wird, dass der Unterschied zwischen Meloni und Orbán weniger in der Art ihrer Regierungsführung zu bestehen scheint, als darin, ob sie als politisch domestizierbar gelten. Und domestizierbar bedeutet in diesem Zusammenhang: Ist in entscheidenden Fragen auf sie Verlass? Ist eine Berechenbarkeit gegeben, eine gesamteuropäische Verträglichkeit, die Möglichkeit zur Einbindung in die strategische Frontlage?
Michael Meyer-Resende brachte diese Geisteshaltung vor dem Hintergrund ausbleibender Kritik an Melonis umstrittener Verfassungsreform einst mit bestechender Direktheit auf den Punkt: „Wie haben schon zu viele Krisen. Wir brauchen [sie] in der Flüchtlingspolitik. Immerhin ist sie pro-europäisch, gegen China und für die Ukraine.“ Anders gesagt, die Italienerin spielt eine Rolle, mit der man sich anderswo auf dem Kontinent arrangieren kann und die sich immer mehr zum eigenen Charakterfach entwickelt.
Wer als Rechter mit dem blaugoldenen Sternenfläggchen wedelt und in den kontinentalen Aufrüstungschor einstimmt, gilt als vernünftig, pragmatisch und mitunter gar respektabel. Wer dagegen Fußangeln auswirft und die Ukrainesolidarität in einer Weise untergräbt, die über bloßes Wahlkampfgetöse hinausgeht, bürdet sich schnell das Stigma des gefährlichen Putinisten und störrischen Westentaschenautokraten auf.
Doch nicht nur für die Brüsseler Bürokratie, sondern auch für die Öffentlichkeit stellen außenpolitische Kampflinien hier einen zentralen Bewertungsmaßstab dar. In gewisser Weise wird damit die gerne Richard Nixon zugeschriebene, tatsächlich aber nicht verbürgte Einsicht umgekehrt, alle Außenpolitik sei im Grunde Innenpolitik: Das Innere wird nach seinem Außengehalt bewertet, also danach, wie es auf die große Bühne der Weltpolitik ausstrahlt.
In der Folge gilt selbst für einen so kontroversen Politiker wie US-Präsident Donald Trump, dass die Abschiebungs- und Kürzungsvorhaben seiner Regierung anderswo zwar für betretene Gesichter sorgen, am Ende aber doch Themen bleiben, um die man sich als Europäer nicht weiter zu kümmern braucht. Was den Entscheidern in Berlin und Paris an ihrer Stelle den Schweiß auf die Stirn treibt, sind jene Salti der US-Administration, die unmittelbar die eigenen Interessen berühren: Zölle auf hiesige Einfuhren, Zögerlichkeit bei Rüstungslieferungen oder die Verve, mit der Elon Musk Parteien jenseits des Tabugrabens bewirbt.
So sortiert sich die politische Landschaft am Ende weniger nach ideologischer Deckungsgleichheit als nach der Logik strukturellen Selbsterhalts.
Blendet man diese transatlantischen Erschütterungen aus, erscheint auch Trump letztlich als bloßes Paradiesgewächs, das im fernen Amerika Dinge treibt, die man den Amerikanern ohnehin zugetraut hat. Blendet man sie aber ein, wird aus dieser comichaften Figur sogleich der Totengräber der freien Welt. Ein wirklich guter Rechter im Stile Melonis hätte Trump zwar nie werden können, dafür ist er zu vulgär und ignorant gegenüber der diplomatischen Form. Und doch bestand auch bei ihm die Hoffnung, er könne vielleicht doch domestiziert werden – und ablassen von seinem erratischen Handeln.
So sortiert sich die politische Landschaft am Ende weniger nach ideologischer Deckungsgleichheit als nach der Logik strukturellen Selbsterhalts. Wann immer eine rechte Regierung an die Macht kommt, erfolgt sogleich die Prüfung: Soll lediglich ein konservativer Politikwechsel eingeläutet werden? Oder geht die angestrebte Veränderung darüber hinaus und rüttelt an den Erwartungsdynamiken der bestehenden Ordnung? Wer sich wie Meloni dem Status quo unterwirft, kann sich schnell so manche Sympathie erwerben, während Politiker vom Schlage Orbáns damit leben müssen, dass ihnen fortan bei jeder noch so unbedeutenden Gesetzesregung kritisch auf die Finger geschaut wird.
Das mag man für wenig konsistent halten, es spiegelt aber die Befindlichkeiten eines Kontinents, der seit dem Brexit gelernt hat, wie wacklig das mit ganz unterschiedlichem Werkzeug zusammengezimmerte Projekt Europa doch ist.
Und wenn der designierte tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš neuerdings Anstalten macht, sich mit Orbán zu einem Anti-Migrationsbündnis zusammenzuschließen, dann drängt sich – unabhängig davon, ob man dieses politische Chamäleon überhaupt rechts nennen kann – der Verdacht auf, man habe es erneut mit einem schlechten Rechten zu tun. Die schweren Geschütze sind also vermutlich nur eine Frage der Zeit.




