Als Odessa am 24. Februar von Raketen getroffen wurde, konnte man den Einschlag der Artilleriegeschütze bis in die 160 km entfernte moldawische Hauptstadt Chişinău hören und riechen. Die apokalyptischen Bilder aus den vom Krieg betroffenen ukrainischen Städte sorgten in der Republik Moldau für eine Mischung aus Schock und Horror. Inzwischen sind 370 000 aus der Ukraine geflüchtete Menschen dort angekommen. Ein Drittel will bleiben. Die moldawischen Behörden versichern, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Geflüchteten mit allem Nötigen zu versorgen. Die Bevölkerung reagiert mit grenzenlosem Mitgefühl und tatkräftiger Unterstützung.

Die meisten Moldawier verurteilen den Krieg und sehen die russische Führung als verantwortlich. Bei einer Umfrage bewerteten 61 Prozent den Krieg in der Ukraine als einen Angriffskrieg Russlands. Lediglich 26 Prozent gaben an, es könne sich auch um eine „Sonderoperation“ handeln – so wie der Krieg in der russischen Propaganda etikettiert wird. Aus einer weiteren Befragung vom 10. März 2022 geht hervor, dass 51 Prozent voll und ganz auf Seiten der Ukraine stehen, während 20 Prozent die russische „Sonderoperation“ als gerechtfertigt erachten und 21 Prozent sich zu dieser Frage gar nicht äußern wollen. In beiden Umfragen wurde Wolodymyr Selenskij als der bei weitem beliebteste ausländische Regierungschef bezeichnet (50 Prozent). Damit überholte er Wladimir Putin (25 Prozent), der vor dem Krieg ganz oben auf der Beliebtheitsskala gestanden hatte.

Wolodymyr Selenskij wurde mit 50 Prozent als der bei weitem beliebteste ausländische Regierungschef bezeichnet. Damit überholte er Wladimir Putin (25 Prozent), der vor dem Krieg ganz oben auf der Beliebtheitsskala gestanden hatte.

Die vom Krieg ausgelöste Sorge und Wut, das Entsetzen und der Schmerz zeigen weitreichende Auswirkungen auf die politische Landschaft. Die politisch Verantwortlichen werden entsprechend ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine bewertet. Einige von ihnen beziehen klar Stellung und bezeichnen Russland als den Aggressor, dessen Kriegsverbrechen verfolgt werden müssen. Das ist die gemeinsame Linie der meisten pro-europäischen, nationalen und reformwilligen Parteien, die in vielen grundsätzlichen Fragen übereinstimmen. Zum Beispiel würden einige unter ihnen die europäische Integration des Landes gerne durch einen Zusammenschluss mit Rumänien beschleunigen, das bereits vollwertiges Mitglied der EU und der NATO ist. Andere wollen den EU-Beitritt lieber ohne Abkürzung, sondern mit kontinuierlichen Reformen erreichen.

Erhebliche Unterschiede gibt es mit Blick auf die Frage, wie ein russischer Versuch verhindert werden kann, Moldau mit Gewalt oder mit einer Kombination aus externen und innenpolitischen Taktiken einzunehmen. Einige – wie die Regierungspartei PAS – sprechen sich für eine Linie strikter Neutralität aus. Diese müsse mit großer Zurückhaltung bei politischen Erklärungen und Maßnahmen einhergehen – also einer Vermeidung all dessen, was Russland als Provokation auffassen könnte. Das gab den Ausschlag dafür, dass Chişinău sich nicht an den internationalen Sanktionen gegen Russland beteiligte. Die Regierung gab als Grund allerdings an, dass Sanktionen nicht mitgetragen werden könnten, da sie mit unzumutbaren „wirtschaftlichen Kosten“ einhergingen. Sich von der Sanktionspolitik gegen Russland komplett abzugrenzen, könnte jedoch Zweifel an den wahren Absichten Chişinăus hervorrufen. Die Strategie der Risikovermeidung der moldawischen Präsidentin Maia Sandu deckt so manche Widersprüche in ihrer Politik auf. Etwa in anderslautenden Äußerungen zur Ukraine in der Vergangenheit, die sich nun nicht mit ihrer „ausgewogenen Außen- und Sicherheitspolitik“ decken.

Die russische Invasion in der Ukraine hat mehrere kremlfreundliche Netzwerke in der Republik Moldau reaktiviert. Es gibt mehrere Torwächter des Ruski mir, des „russischen Friedens“ in der Republik Moldau. Sie tragen zur Verbreitung von Putins Idee bei, die Stücke des ehemaligen Russischen Reiches wieder einzusammeln. Dazu gehört auch die russisch-orthodoxe Kirche, die größte Konfession Landes. Fast 60 Prozent der Medien in Moldau, die teilweise aus verschiedenen undurchsichtigen Offshore-Jurisdiktionen, teilweise direkt aus Russland finanziert werden, verbreiten pro-russische Positionen. Im Parlament sind mit dem Block aus Sozialistischer und Kommunistischer Partei sowie der Shor-Partei zwei Fraktionen vertreten, die Russland „legitime Rechte“ zuerkennen, die einstige Einflusssphäre wiederherzustellen. Sie werfen der NATO vor, Russland einzukreisen, und der Ukraine, im Donbass die russischsprachige Bevölkerung zu diskriminieren.

Die Regierungspartei PAS spricht sich für eine Linie strikter Neutralität aus. Diese müsse mit großer Zurückhaltung bei politischen Erklärungen und Maßnahmen einhergehen – also einer Vermeidung all dessen, was Russland als Provokation auffassen könnte.

Die große Mehrheit der Menschen würde es – im Einklang mit der 1994 verabschiedeten Verfassung – vorziehen, dass Moldau ein neutraler Staat bleibt. Im Januar gaben bei einer Umfrage über 56 Prozent der Bürgerinnen und Bürger an, dass sie die Neutralität bevorzugen. Nur 16 sprachen sich für einen NATO-Beitritt aus. Neutralität als Abschreckungsmaßnahme gegen einen russischen Angriff ist jedoch kein sonderlich vertrauenswürdiges Argument. Trotz der selbsterklärten Neutralitätspflicht ist es Moldau nicht gelungen, Russland zum Abzug seiner Truppen zu bewegen, die seit dem von Moskau 1992 begonnenen Krieg in der abtrünnigen Region Transnistrien stationiert sind. Russland nutzt die Separatistenregion als Druckmittel, um die Republik Moldau unter Kontrolle zu halten und deren europäische Ambitionen zu untergraben. Moskau will Chişinău zwingen, Transnistrien als gleichberechtigten Teil eines föderalen moldawischen Staates anzuerkennen. Es setzt somit seinen Stellvertreter Transnistrien ein, um das Assoziierungsabkommen der Republik Moldau mit der EU zu blockieren.

Die moldawische Regierung versichert, dass kaum etwas auf einen bevorstehenden russischen Angriff auf das Land hinweist. Viele Menschen befürchten jedoch, dass dies nichts weiter als eine Kommunikationsmasche ist, um zu verhindern, dass in der Bevölkerung Angst und Panik ausbricht.

Am 15. März 2022 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarats mit absoluter Mehrheit eine Resolution zum Krieg in der Ukraine, in der Russland für Kriegsverbrechen, großflächige Zerstörungen und menschliche Opfer verantwortlich gemacht wird. Die Resolution beinhaltet einen Zusatz, in dem Transnistrien erstmalig als ein von Russland „besetztes Gebiet“ bezeichnet wird. Dies stieß nicht nur in Russland auf lautstarken Widerspruch, sondern auch bei mehreren seiner „Stellvertreter“ in Chişinău. Die Resolution geht weit über eine „politische Erklärung“ hinaus, sondern legt auch künftige moldawische Regierungen darauf fest, sich nicht auf eine „russische Lösung“ für Transnistrien einzulassen.

Der Krieg bedeutet enorme wirtschaftliche Kosten für die Republik Moldau. Zum einen sind die Unterbringungskosten für die Geflüchteten gewaltig. Zum anderen hat die vollständige Blockade der Schwarzmeerhäfen Odessa, Mykolajiw und Cherson schwere Auswirkungen auf sämtliche Lieferketten. Viele der zuvor über die Häfen von Tschornomorsk und Odessa eingeführten Güter, darunter auch Ölprodukte und Flüssiggas, werden mindestens bis Kriegsende nicht an die Republik Moldau verkauft. Das wird hohe Preissteigerungen zur Folge haben. Es könnte aber auch alternative Märkte und Lieferanten fördern.

Die russische Invasion in der Ukraine hat mehrere kremlfreundliche Netzwerke in der Republik Moldau reaktiviert.

Der Krieg hat den letzten Anschub dafür gegeben, dass sowohl die Ukraine als auch die Republik Moldau sich endlich dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber für Elektrizität (ENTSO-E) angeschlossen haben. Damit wurde eine Entscheidung, die möglicherweise noch jahrzehntelang aufgeschoben worden wäre, nun ganz schnell getroffen worden. Sie ermöglicht beiden Ländern die volle Integration in den europäischen Strommarkt. Die Anpassung wird einige Zeit brauchen und erhebliche Kosten verursachen. Aber die Republik Moldau wird davon enorm profitieren. Auf diese Weise kann sie die Monopolstellung des Kraftwerks Kuchurgan in Transnistrien umgehen, das dem russischen Unternehmen RAO UES gehört. In der vergangenen Woche verkündete der moldawische Minister für Infrastruktur, dass die Republik Moldau schon an den rumänischen Strommarkt angekoppelt sei und ein Drittel seines Strombedarfs vom europäischen Markt gedeckte werde.

Am 1. März 2022 stellte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij einen Antrag für die Aufnahme der Ukraine in die EU. Es wäre ein großer Fehler, diesen mit der technischen Begründung abzulehnen, dass ein Aufnahmeverfahren nicht verkürzt werden könne. Es hat sich schon mehrfach gezeigt, dass eine beschleunigte Integration möglich ist. Es wäre die Möglichkeit für die Europäische Union, einen Riesenschritt in Richtung Frieden zu machen. Allein deshalb verdient das ukrainische Volk schon heute die Mitgliedschaft in der EU.

Gleiches gilt für Georgien und die Republik Moldau, die nur Tage nach der Ukraine ebenfalls einen Beitrittsantrag stellten. Auch deren Bevölkerung muss auf den Mut und die Fähigkeiten ihrer politischen Führung vertrauen, die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen. Eine EU-Mitgliedschaft ist die politische Investition, die jetzt gebraucht wird, um in der ganzen Region eine europäische Widerstandskraft aufzubauen.

Aus dem Englischen von Ina Goertz