Am 8. Dezember hat die neue Bundesregierung ihr Amt angetreten. Nach der Ära Merkel ist das eine Zäsur für Deutschland, aber auch für die Europäische Union. In Brüssel erwartet man neue Impulse aus dem größten Mitgliedsstaat.
Die neue Regierung versammelt die drei Parteien, die sich in ihren Wahlprogrammen am markantesten die Weiterentwicklung der EU zum Ziel gesetzt hatten. So will die SPD „die EU zur modernsten Demokratie der Welt machen“ und ein „souveränes Europa in der Welt“ schaffen. Die FDP spricht sich für einen „Verfassungskonvent“ aus, der „die Grundlage für einen föderal und dezentral verfassten Europäischen Bundesstaat“ legen soll. Und die Grünen haben eine „Föderale Europäische Republik mit einer europäischen Verfassung“ zu ihrem „Fixstern“ erklärt.
Es ist deshalb nur folgerichtig, dass es auch im Koalitionsvertrag der drei Parteien nicht an ambitionierten Formulierungen zur Europapolitik mangelt. Am auffälligsten ist zweifellos die Forderung, die bis Mai 2022 laufende Konferenz zur Zukunft Europas solle „in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung [der EU] zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“. Nach langen Jahren, in denen die deutsche Bundesregierung europäischen Visionen weitgehend aus dem Weg ging, ist diese deutliche Ansage eine erfrischende Veränderung. Vor allem unter Föderalistinnen und Föderalisten war die Begeisterung darüber groß.
Andere Reaktionen fielen hingegen skeptisch aus. Immerhin hatte auch die letzte Große Koalition 2018 durchaus prominent von einem „neuen Aufbruch für Europa“ gesprochen, diesen sogar ganz an den Anfang des Koalitionsvertrags gestellt – und dann wenige Taten folgen lassen, wenigstens bis zum historischen Beschluss des Corona-Wiederaufbaufonds im Sommer 2020. Kann man wirklich glauben, dass es der Ampel gelingen wird, die EU innerhalb von vier Jahren in einen Bundesstaat zu verwandeln? Papier ist bekanntlich geduldig.
Kann man wirklich glauben, dass es der Ampel gelingen wird, die EU innerhalb von vier Jahren in einen Bundesstaat zu verwandeln?
Auf jeden Fall aber sind die starken Worte im Koalitionsvertrag ein symbolischer Paukenschlag, der auch in anderen EU-Mitgliedstaaten vernommen wurde. Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán sagte der neuen Bundesregierung dann auch gleich in einem Essay den Kampf an; sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki bezeichnete ein föderales Europa als gefährlichen „bürokratischen Zentralismus“. Der frühere belgische Premierminister und liberale Fraktionschef im Europäischen Parlament Guy Verhofstadt begrüßte hingegen, dass Deutschland wieder eine Führungsrolle in Europa übernehme. Und in Frankreich halten nach einer Umfrage 58 Prozent der Bevölkerung die europapolitische Linie der Ampelkoalition für eine „gute Sache“ – mit großer Zustimmung in allen Lagern mit Ausnahme der extremen Rechten.
Die Erwartungen an die neue Bundesregierung sind also hoch. Selbst wenn es mit dem europäischen Bundesstaat so schnell nichts wird, hat sie mit diesem Schlagwort einen Maßstab gesetzt, an dem sie ihre praktische Europapolitik wird messen lassen müssen. Was aber kündigt der Koalitionsvertrag konkret an?
Die neue Bundesregierung hat mit dem Schlagwort „Bundesstaat“ einen Maßstab gesetzt, an dem sie ihre praktische Europapolitik wird messen lassen müssen.
In Sachen institutionelle Reform liegt die Ampel ganz auf föderalistischem Kurs: Unter anderem will sie ein stärkeres Europäisches Parlament, ein einheitliches Europawahlrecht mit transnationalen Listen und Spitzenkandidatinnen und -kandidaten sowie eine Ausweitung von Mehrheitsabstimmungen im Rat. Großen Raum nimmt zudem die Verteidigung des Rechtsstaats ein – was auch der Hauptgrund für die harschen Reaktionen aus Budapest und Warschau sein dürfte. Die Pläne in der Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik klingen weniger ambitioniert, aber auch hier gibt sich die Ampel reformbereit und für eine Vertiefung offen. Eine Neuauflage des Corona-Wiederaufbauinstruments in künftigen Krisen wird nicht versprochen, aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. In Sachen Freizügigkeit will die Koalition die „Integrität des Schengenraums“ wiederherstellen und Ausnahmeregelungen (die die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen ermöglichen) „restriktiver“ nutzen. Asylpolitisch soll es eine „faire Verteilung“ bei der Aufnahme von Geflüchteten sowie eine „europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer“ geben.
Und auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik spielt im Koalitionsvertrag eine große Rolle. Mehrfach ist von einer „strategischen Souveränität der EU“ die Rede – ein Schlagwort, das auch der französische Präsident Emmanuel Macron immer wieder gebraucht und das der Koalitionsvertrag als „eigene Handlungsfähigkeit im globalen Kontext“ sowie als eine verringerte Abhängigkeit in Bereichen wie „Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologie“ definiert. Dafür sollen außenpolitische Entscheidungen im Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit erfolgen, der Europäische Auswärtige Dienst gestärkt werden und die Hohe Vertreterin als „echte ‚EU-Außenministerin‘“ fungieren – was auch immer Letzteres genau bedeuten mag.
Für welches Vorhaben setzt die Bundesregierung wieviel politisches Kapital ein?
Aber wie das in der Europapolitik so ist: Die meisten dieser Ziele wird die Ampelkoalition nicht allein durchsetzen können, sondern nur durch Kompromisse mit anderen Mitgliedsstaaten. Dies wirft die Frage auf, für welches Vorhaben sie wieviel politisches Kapital einzusetzen bereit ist. Eine Antwort darauf kann sich erst in der Praxis zeigen, und es ist durchaus möglich, dass nicht alle Parteien der Koalition hier immer dieselben Schwerpunkte setzen werden.
Nicht zuletzt deshalb sind auch die Personen bedeutsam, die in den nächsten Jahren die europapolitische Verantwortung übernehmen werden. Wenig überraschend haben sich im Kabinett alle Koalitionsparteien relevante Ressorts gesichert: Während die SPD mit Olaf Scholz das Kanzleramt kontrolliert, liegen die für die Europakoordination zuständigen Ministerien – Auswärtiges Amt und Wirtschaftsministerium – in den Händen der grünen Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck. Die FDP wiederum holte für Christian Lindner das europapolitisch ebenfalls einflussreiche Finanzministerium.
Interessant für das Profil der Regierung ist aber auch die zweite Reihe: Mit Jörg Kukies als europapolitischem Berater im Kanzleramt sowie den Europa-Staatssekretären Carsten Pillath im Finanz- und Sven Giegold im Wirtschaftsministerium versammelt die Bundesregierung viel finanzpolitische Expertise. Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium wird auch die bisherige europapolitische Sprecherin der Grünen, Franziska Brantner. Die neue Europa-Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Anna Lührmann, hat einen Hintergrund im Bereich Demokratieförderung – ein Zeichen für den Stellenwert, den die Rechtsstaatsfrage künftig für die deutsche Europapolitik spielen soll.
Der Vorsitz im Europaausschuss des Bundestags geht ebenfalls an die Grünen. Ihn übernimmt der ehemalige Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter. Und schließlich sollen die Grünen laut Koalitionsvertrag auch das nächste deutsche Kommissionsmitglied vorschlagen, jedenfalls „sofern Deutschland nicht die Kommissionspräsidentin stellt“. Letzteres könnte passieren, falls sich Ursula von der Leyen bei der Europawahl 2024 als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei eine zweite Amtszeit sichert. Dem würde sich die neue Bundesregierung offenbar nicht in den Weg stellen.
Mehr europapolitische Debatte – auch in der Öffentlichkeit – muss ja kein Schaden sein.
Wie harmonisch das Ampel-Team in den nächsten vier Jahren zusammenarbeiten wird, muss sich zeigen. Eine Drei-Farben-Koalition auf Bundesebene gab es in Deutschland noch nie; und als SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich kurz vor dem Amtsantritt der neuen Regierung erklärte, dass deutsche Außenpolitik „insbesondere im Kanzleramt gesteuert“ würde, kam das bei den Grünen nicht allzu gut an.
Aber mehr europapolitische Debatte – auch in der Öffentlichkeit – muss ja kein Schaden sein. Der Start der neuen Regierung stimmt jedenfalls zuversichtlich, dass Deutschland in der Europapolitik und die Europapolitik in Deutschland in den kommenden Jahren an Präsenz gewinnen wird.