„Revolution mit weiblichem Gesicht“, „weibliches Trio der belarussischen Revolution“ und „von der Hausfrau zur Präsidentschaftskandidatin“ – diese Schlagzeilen über die Massenproteste in Belarus beherrschten im Sommer 2020 die Titelseiten der internationalen Medien. Obwohl die Demonstrationen oft als Proteste der Frauen bezeichnet wurden, entsprachen die Botschaften der Demonstrantinnen den Forderungen der belarussischen Demonstrierenden im Allgemeinen. Kurz gesagt: Das weibliche Gesicht hat die Revolution nicht automatisch zu einer feministischen gemacht – zumindest noch nicht. Gleichzeitig haben charismatische Frauen an der Spitze der politischen Opposition, Frauenmärsche gegen die Polizeigewalt und die zahlreichen weiblichen Inhaftierten die Geschichten und Traumata belarussischer Frauen in den Vordergrund der sich verschlechternden politischen Situation in Belarus gerückt.

Als Swetlana Tichanowskaja bei den Wahlen 2020 anstelle ihres inhaftierten Ehemannes als Präsidentschaftskandidatin antrat, gab es sowohl in der Opposition als auch bei den Behörden Zweifel an ihren Chancen, den Präsidenten Alexander Lukaschenko zu schlagen. Lukaschenkos fataler Fehler war es, Tichanowskaja überhaupt in den Wahlkampf ziehen zu lassen. Denn die Proteststimmung und Klagen über die Regierung arbeiteten gegen Lukaschenko und viele Belarussen wandten sich Tichanowskaja als Kandidatin der vereinigten Opposition zu. Zu diesem Zeitpunkt waren den Belarussinnen die Gesichter von Maria Kolesnikowa, der Leiterin des Wahlkampfteams des bereits inhaftierten Oppositionellen Wiktor Babariko, und von Veronika Zepkalo, der Ehefrau des nicht zugelassenen Kandidaten Waleri Zepkalo, bereits vertraut. Die Geschichten dieser Frauen, die sich im politischen Wahlkampf für die Männer in ihren Familien einsetzten, rückten schnell in den Fokus vieler Medien – erst recht, nachdem sie sich zum sogenannten „Frauentrio“ zusammengeschlossen hatten.

Das weibliche Gesicht hat die Revolution nicht automatisch zu einer feministischen gemacht – zumindest noch nicht.

Nur wenige Tage nach der Wahl wurde Tichanowskaja aus dem Land vertrieben. Ähnlich erging es Kolesnikowa, die an die ukrainische Grenze gefahren und mit einer Gefängnishaft bedroht wurde, sollte sie die Grenze nicht überqueren. Doch Kolesnikowa durchkreuzte den Plan der Behörden, indem sie ihren Pass zerriss und so die erzwungene Ausreise verhinderte. Seit dem Sommer 2020 leben Tichanowskaja und Zepkalo im Exil, während Kolesnikowa zu elf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Tichanowskaja setzte ihren politischen Weg in Litauen fort, wo ihr und ihrem Team der Diplomatenstatus gewährt wurde. Seit 2020 hat sie sich mit zahlreichen Vertreterinnen demokratischer Länder getroffen und bei den Vereinten Nationen, der OSZE, der Münchner Sicherheitskonferenz und vor dem Europäischen Parlament gesprochen, um ihre Rolle als Anführerin der demokratischen Kräfte weiter voranzutreiben. Im August 2022 rief sie das Vereinte Übergangskabinett als alternative Regierung für Belarus aus. Der auf ihre Initiative hin im Jahr 2020 gegründete Koordinierungsrat ist nach wie vor aktiv und hat verschiedene Reformen und Vergrößerungen durchlaufen. Ihre Geschichte von der „Hausfrau“, die sich in eine solide Politikerin mit einem vollen Terminkalender und einer turbulenten politischen Agenda verwandelt hat, weckt noch immer das Interesse der internationalen Gemeinschaft und ihrer loyalen Wählerschaft.

Dem belarussischen Regime ist es indes nicht nur gelungen, seine Macht zu erhalten, es erlangt durch härteste Repressionen auch mehr und mehr Kontrolle über die Zivilgesellschaft. Die Zahl der politischen Gefangenen ist auf 1 463 Personen angestiegen, darunter 544 Frauen. Unabhängige Medien wurden aus dem Land getrieben. Trotzdem werden diese „extremistischen“ Medien immer noch von vielen Belarussen gelesen – allerdings unter Sicherheitsvorkehrungen. Die Strafverfolgungsbehörden haben ihre Überwachungsstrategien und -instrumente weiterentwickelt. Dies führte zur Identifizierung von Protestteilnehmern anhand von Fotos, die 2020 in den sozialen Medien veröffentlicht worden waren, sowie zur Inhaftierung derjenigen Belarussen, die Jahre nach ihrer Teilnahme an den Protesten in das Land zurückkehrten. Insgesamt nimmt Belarus also in allen Bereichen allmählich Züge eines totalitären Regimes an – mit schlimmen Folgen für die Aktivistinnen im Land.

Hunderte von Aktivistinnen wurden bereits ins Exil gezwungen.

Das „weibliche Trio“ wurde im Jahr 2020 zum öffentlichen Gesicht der Oppositionsbewegung. Gleichzeitig blieben Hunderte und Tausende belarussische Frauen, die Frauenmärsche organisierten und daran teilnahmen, der breiten Öffentlichkeit unbekannt. Journalistinnen und Bloggerinnen, die über die Entwicklung der politischen Proteste berichteten, litten ebenso wie Politikerinnen und ihre männlichen Kollegen unter Repressionen. Katsiaryna Andreeva, Darja Chultsova, Katsiaryna Barysevich, Maryna Zolatava, Kseniia Lutskina und andere prominente Journalistinnen wurden aus strafrechtlichen Gründen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Ähnlich erging es Aktivistinnen wie Nasta Lojka, einer Menschenrechtsverteidigerin, der Straftaten vorgeworfen wurden, und denen, die sich gegen den Krieg in der Ukraine aussprachen, wie der Sängerin Maryam Herasimenka. Sie wurde zu drei Jahren Hausarrest verurteilt, weil sie öffentlich ein Lied einer ukrainischen Band performt hatte.

Hunderte von Aktivistinnen wurden bereits ins Exil gezwungen, wo sie sich weiterhin in kulturellen, politischen, journalistischen und Bildungsprojekten engagieren. Viele andere bleiben im Land, trauen sich aber nicht, ihre politischen Positionen offen zu vertreten. Dabei handelt es sich oft um die Ehefrauen von politischen Bloggern, von Aktivisten aus Gewerkschaftsbewegungen und anderen politischen Gefangenen. Sie bleiben im Land, um ihre Männer zu besuchen, um Lebensmittel und Medikamente zu schicken, wenn es ihnen erlaubt wird. In einigen Fällen wurden auch sie kurz nach ihren Männern verhaftet, so wie  bei Darja Losik, der Frau des politischen Bloggers Ihar Losik.

Die öffentliche Rolle der Frauen im belarussischen Widerstand hat mit der Zunahme des Totalitarismus im belarussischen politischen System abgenommen.

Die öffentliche Rolle der Frauen im belarussischen Widerstand hat mit der Zunahme des Totalitarismus im belarussischen politischen System abgenommen. Frauen engagieren sich weiterhin in sicheren Formen des Widerstands, verbüßen Freiheitsstrafen für ihre politischen Positionen oder unterstützen ihre Verwandten in den Gefängnissen. Aber unter diesen Bedingungen bleibt ihnen einfach kein Platz, um die treibende Kraft hinter dem belarussischen Widerstand zu sein. In Zeiten, in denen der Widerstand in Belarus in Form von Partisanenaktionen wie dem Angriff auf das russische Flugzeug in Machulischtschy stattfindet, wird der Aktivismus von Frauen zusammen mit anderen stillen Formen des Widerstands weniger sichtbar.

Trotz der harten Bedingungen innerhalb von Belarus gibt es in der belarussischen Demokratiebewegung im Exil in den letzten zwei Jahren immer mehr weibliche Persönlichkeiten, die sich politischen Organisationen anschließen oder sich nicht mehr anonym, sondern mit ihrer vollen Identität zeigen. Die Präsenz dieser und anderer Frauen in Politik und Medien hat die öffentliche Diskussion über den Platz der Frauen dort und in den Strukturen der belarussischen Opposition beeinflusst. In einem Versuch, auf die Forderung nach einer stärkeren Präsenz von Frauen in der demokratischen Opposition zu reagieren, haben die politischen Gremien mehr Frauen ernannt. Einige dieser Ernennungen wurden von Kritikerinnen und Kritikern als Versuch in Frage gestellt, lediglich eine geschlechtsspezifische Lücke zu schließen, wie im Fall von Tatsiana Zaretskaya. Spätere Ernennungen durch das Vereinigte Übergangskabinett wurden jedoch von der Zivilgesellschaft eher akzeptiert, etwa als das Kabinett durch Alina Koushyk und Volha Harbunova verstärkt wurde, die für die Entwicklung der belarussischen Kultur und die Freilassung politischer Gefangener zuständig sind. Zusammen mit ihren männlichen Kollegen und Tichanowskaja nehmen sie an internationalen Treffen teil und besuchen die Ukraine, um ihre Botschaft eines pro-demokratischen Belarus zu vermitteln. Auch viele belarussische Frauen, die im Ausland in Sicherheit sind, haben ihr Interesse an der Politik bekundet und sich verschiedenen Initiativen in der belarussischen Diaspora angeschlossen.

Mit einer zunehmenden Normalisierung der Präsenz belarussischer Frauen in der Oppositionspolitik und im Aktivismus ist langfristig auch mit einem Anstieg der Forderungen nach Frauenrechten auf politischer Ebene zu rechnen. Vorerst jedoch bilden der politische Kampf für die Belarussen aus dem Exil heraus sowie der geopolitische Kontext in der Region ein eher herausforderndes Umfeld für die weitere Entwicklung des Frauenrechtsaktivismus.

Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer