Die Fragen stellte Alexander Isele.

Ihre Schwester, die inhaftierte belarussische Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa, wurde kürzlich operiert und auf eine Intensivstation verlegt. Wie geht es ihr und was ist passiert?

Maria ist jetzt bei Bewusstsein, aber ihr Anwalt darf sie nicht sehen. Wir wissen nicht, seit wann es ihr schlecht geht, und wir kennen weder den Grund für die Operation noch die Diagnose. Unbestätigten Quellen zufolge könnte Maria einen Magendurchbruch erlitten haben. Inzwischen konnte unser Vater mit einem Arzt im Krankenhaus in Gomel sprechen. Die Polizei war bei dem Gespräch anwesend. Marias Zustand ist immer noch ernst, aber die Ärzte sagten, die Operation sei erfolgreich verlaufen. Weitere Informationen werden selbst unserem Vater verweigert.

Als ihr Anwalt Maria zuletzt am 17. November besuchte, teilte sie ihm mit, dass ihr eine strafrechtliche Isolationshaft drohe. Seit dem 22. November hat er versucht, sie zu besuchen, wurde aber immer wieder abgewiesen, weil Maria angeblich keine schriftliche Erlaubnis gegeben hat – in Einzelhaft darf sie nicht schreiben, nicht einmal einen Stift haben. Wie ihm damals mitgeteilt wurde, befand sich Maria wegen des angeblichen Missbrauchs der Vorschriften und angeblich wegen „unhöflichen Verhaltens ihrerseits“ in strafrechtlicher Isolationshaft. Zuvor hatte sie dem Anwalt auf die Frage, ob sie sich gegenüber irgendjemandem unhöflich verhalten habe, gesagt, dass dies nicht der Fall sei und niemals der Fall sein werde.

Ihre Schwester ist seit 2020 im Gefängnis, vergangenes Jahr wurde sie unter anderem wegen einer angeblichen „Verschwörung zur Ergreifung der Macht“ zu elf Jahren Haft verurteilt. Wie halten Sie Kontakt?

Wir haben hauptsächlich über die Anwälte Kontakt, die sie regelmäßig besuchen. In der Regel finden diese Besuche einmal pro Woche statt und dauern 30 bis 60 Minuten. Bei diesen Treffen können sie sich über die Geschehnisse in Belarus und in der Welt austauschen und auch einige Neuigkeiten aus der Familie berichten. Seit Maria im Januar dieses Jahres in eine Strafkolonie verlegt wurde, kann sie auch Telefonanrufe machen. Seitdem kann sie mit unserem Vater sprechen, der in Minsk ist. Bis August konnte ich einige Videotelefonate mit ihr führen; ich habe in diesem Jahr sechs Mal mit ihr gesprochen. Es sind meist sehr kurze Gespräche, maximal fünf bis sechs Minuten. Wir dürfen nicht über die politische Lage sprechen, weder in Belarus noch im Ausland. Seit August kann ich Maria jedoch nicht mehr erreichen.

Maria hilft, dass sie für eine Weile Post aus der ganzen Welt erhalten hat.

Was ihr hilft, ist, dass sie für eine Weile Post aus der ganzen Welt erhalten hat und dass sie wusste, dass an ihrem Schicksal Anteil genommen wird und sie unterstützt wird. An einem Tag im Oktober 2020 kamen 400 Briefe auf einmal. Das hat in den vergangenen Monaten jedoch aufgehört, sie erhält jetzt nur noch Briefe von engen Verwandten. Alle Briefe an sie durchlaufen die Zensur. Das ist nicht nur bei Maria so, sondern seit dem Frühjahr dieses Jahres bei allen politischen Gefangenen. Vor allem aber werden von politischen Gefangenen geschriebene Briefe nicht mehr zugestellt. Obwohl Maria jeden Monat mehr als 100 Briefe schreibt, erhalten nur unser Vater und ich sie, andere nicht. Sie kämpft weiter, sie schreibt immer wieder.

Der sogenannte Koordinierungsrat, die belarussische Regierung im Exil, hat Sie zur Beauftragten für politische Gefangene ernannt. Wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben?

Während des Wahlkampfs 2020 war ich bereits für Viktor Babariko aktiv und unterstützte später die Kampagne von Swetlana Tichanowskaja. Als Maria nach der Wahl inhaftiert wurde, begann ich im September 2020, mich für ihre Freilassung einzusetzen. Ich sprach mit Parlamentsabgeordneten und Prominenten, hauptsächlich aus Deutschland, um für Unterstützung für Maria zu werben. Diese Menschen schrieben zu diversen Anlässen Briefe an den Untersuchungsausschuss, an die Staatsanwaltschaft und an das Gericht, während der Ermittlungen und während Marias Inhaftierung, um ihre Freilassung zu fordern. Wir organisierten außerdem eine Reihe von öffentlichen Aktionen, um über ihren Gesundheitszustand zu informieren.

Es geht nicht nur um die Freilassung von Maria – ihre Freilassung wird die politische Krise in Belarus nicht lösen.

Zum Zeitpunkt von Marias Verhaftung gab es etwa 70 politische Gefangene. Ein paar Monate später waren es bereits Hunderte. Mir wurde klar, dass es nicht nur um die Freilassung von Maria geht – ihre Freilassung wird die politische Krise in Belarus nicht lösen. Es gibt noch viele andere politische Gefangene, deren Situation bekannt gemacht werden muss. Also begann ich, mich für die Freilassung aller politischen Gefangenen einzusetzen und über die Lage in Belarus zu informieren. Zusammen mit der Organisation Libereco haben wir uns an Abgeordnete aus vielen Ländern gewandt, um sie in Medienkampagnen einzubeziehen und sie zu den Stimmen der politischen Gefangenen in Belarus zu machen. In den vergangenen zwei Jahren habe ich vor dem Menschenrechtsausschuss des Kongresses der Vereinigten Staaten, dem Europäischen Parlament, dem Europarat und vor den Parlamenten zahlreicher europäischer Länder gesprochen. Unsere Aufgabe, die Menschen an die Situation in Belarus und an die politischen Gefangenen dort zu erinnern, hört niemals auf. Seit Februar ist es noch schwieriger geworden, weil jetzt besonders viel Aufmerksamkeit auf die Ukraine gerichtet ist. Es ist wichtig, die Ukraine zu unterstützen, aber die politische Krise in Belarus ist nicht gelöst und die Menschen sind nach wie vor inhaftiert.

Was müsste geschehen, damit alle oder zumindest einige politische Gefangene aus der Haft entlassen werden? 

Im Moment sieht es nicht so aus, als sei Lukaschenko gewillt, mehr Menschen freizulassen – auch wenn einige wenige politische Gefangene freigelassen wurden. Beispielsweise kam vor zwei Monaten ein Journalist von Radio Free Liberty zusammen mit einigen anderen auf freien Fuß. Letztlich kann es sein, dass alle politischen Gefangenen freigelassen werden, auch wenn dies noch lange dauern dürfte. Größere Verhandlungen können ohnehin erst beginnen, wenn Lukaschenko sich irgendwann entschließt, dem Druck der Sanktionen nachzugeben oder sich von Russland loszusagen. Die russischen Truppen in Belarus dürften eine Rücknahme der Sanktionen aber erschweren.

Die Menschen sind so verängstigt und haben in den vergangenen zwei Jahren unter so massiven Repressionen gelitten, dass es schwer vorstellbar ist, was neue Proteste auslösen könnte.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass es eine Art Übergangsperiode gibt. Ich würde aber sagen, dass dies im Moment unwahrscheinlich ist. Dies könnte wahrscheinlich nur als Folge des Drucks weiterer Sanktionen oder von weiteren Protesten in Belarus passieren. Allerdings sind die Menschen so verängstigt und haben in den vergangenen zwei Jahren unter so massiven Repressionen gelitten, dass es schwer vorstellbar ist, was neue Proteste auslösen könnte. Die Menschen wissen, dass jeglicher Versuch zu einer Inhaftierung führen kann.

Natürlich kann es auch zu einer Art internem Wechsel innerhalb der Regierung kommen. Doch es gibt keine wirklichen Kandidaten für die Nachfolge Lukaschenkos. Lukaschenko selbst hat sich gerade erst mit der neuen Verfassung und der Allbelarussischen Volksversammlung, deren Vorsitzender er ist, seinen dauerhaften politischen Einfluss gesichert.

Nachdem Lukaschenko die Proteste im Zuge der Präsidentschaftswahl 2020 niedergeschlagen hatte, leitete er den von ihm sogenannten Prozess des Wandels ein. Dies führte in diesem Jahr zum Referendum über eine neue Verfassung. Was halten Sie von dieser neuen Verfassung und vom ausgerufenen Prozess des Wandels?

Niemand glaubt, dass der in der neuen Verfassung vorgesehene Übergang stattfinden wird, ganz zu schweigen davon, dass er die politische Krise lösen wird. Daher hat das Referendum auch nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit bekommen. Da das Referendum am 27. Februar abgehalten wurde – drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine –, nutzten die Menschen in Belarus diese Gelegenheit, um gegen den Krieg zu protestieren. Sie stimmten ab und protestierten anschließend gegen die belarussische Unterstützung für Russlands Angriff. Die Proteste waren jedoch nicht so groß wie im Jahr 2020: Die Menschen protestierten lokal, in der Nähe der Wahlbüros in ihren Heimatstädten oder in ihren Stadtteilen. Mehr als 1000 Menschen wurden festgenommen.

Zu Beginn des Kriegs in der Ukraine wurden Schienenanlagen in Belarus sabotiert, um es den russischen Truppen zu erschweren, durch Belarus in die Ukraine einzumarschieren. Wie wurde und wird diese Sabotageaktion in Belarus bewertet?

Es gab mehrere Sabotageversuche, von denen einige erfolgreich waren und Bahnverbindungen tatsächlich unterbrochen wurden. Die Regierung reagierte brutal. Dutzende Menschen wurden verhaftet und verprügelt, einigen wurde sogar in die Knie geschossen. Aufgrund dieser Versuche, die Bahnverbindungen zu unterbrechen, wurden im Mai die Bestimmungen zur Todesstrafe geändert. Sie kann nun auch bei versuchten terroristischen Handlungen verhängt werden. Damit soll den Menschen Angst eingejagt werden. Niemand soll es mehr wagen, solche Sabotageakte zu verüben.

Der Krieg hat der belarussischen Regierung einen weiteren Grund geliefert, Menschen zu inhaftieren.

In Umfragen zum Krieg gibt es gemischte Ansichten. Einige Menschen unterstützen die Ukraine, andere Russland. Wieder andere unterstützen Russland, sind aber der Meinung, Russland hätte die Ukraine nicht angreifen dürfen. Etwa zehn Prozent sind der Meinung, dass Belarus sich Russland bei dem Angriff anschließen sollte. Klar ist somit, dass die Stimmung in Belarus insgesamt völlig anders ist als die öffentliche Meinung in Russland, wo die Mehrheit der Bevölkerung Putins Krieg unterstützt. In Belarus äußern viele Menschen ihre Haltung gegen den Krieg in den sozialen Medien – was verboten ist. Die Strafen dafür liegen zwischen einem und drei Jahren Gefängnis, und es gibt viele Fälle, in denen Menschen entsprechend verurteilt wurden. Der Krieg hat der belarussischen Regierung also einen weiteren Grund geliefert, Menschen zu inhaftieren.

Bisher hat sich die belarussische Führung dem Druck Moskaus widersetzt, sich direkt in den Krieg gegen die Ukraine einzubringen. Wird die Regierung diese Haltung aufrechterhalten können?

Das weiß niemand. Die Lage ändert sich sehr schnell. Bislang befinden sich keine belarussischen Streitkräfte in der Ukraine, wobei es nun aber mehr russische Truppen in Belarus gibt, wo gemeinsame militärische Aktivitäten durchgeführt werden. Wie ich bereits sagte, unterstützt die große Mehrheit der Bevölkerung ein belarussisches Engagement in diesem Krieg nicht. Ich hoffe, dass die russischen Behörden dies wahrnehmen und respektieren. Es gibt Gerüchte, die belarussische Führung habe Angst, die Streitkräfte in die Ukraine zu schicken, da sie befürchtet, dass die Armee sich nicht an die Anweisungen aus Minsk halten würde. Indes gibt es überhaupt nicht so viele belarussische Einheiten, die in die Ukraine entsandt werden könnten, als dass diese die Situation vor Ort drastisch verändern würden.

Wie kann die politische Krise in Belarus überwunden werden?

Es gibt mehrere Lösungsansätze. Einer davon ist die Einführung weiterer Sanktionen gegen Belarus und gegen die belarussischen Behörden, was den Druck auf Lukaschenko erhöhen würde. Dies könnte zu gewissen Verhandlungen mit dem Westen führen, wobei aber die große Zahl politischer Gefangener, die anhaltende Unterdrückung und die russischen Truppen in Belarus eindeutig große Hindernisse darstellen. Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass Lukaschenko seine Unterstützung für Putin und Russland aufgeben wird, aber irgendwann kann es dazu kommen. Umso mehr, als Belarus immer schwächer wird.

Belarus steuert auf eine immer größere Abhängigkeit von Russland zu – und das ist nicht im Interesse von Lukaschenko.

In der Vergangenheit wurden belarussische Waren auch in die Ukraine und in die EU exportiert. Inzwischen hat Minsk seinen Handel auf Russland und einige andere postsowjetische Länder umorientiert. Damit können jedoch nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden. Niemand kann vorhersagen, was in der Zukunft passieren wird, nicht einmal im nächsten Monat. Im Moment sieht es aber so aus, als ob Belarus auf eine immer größere Abhängigkeit von Russland zusteuert – und das ist nicht im Interesse von Lukaschenko. Auf diese Weise wird Belarus seine politische und wirtschaftliche Souveränität und Unabhängigkeit irgendwann vollständig verlieren. Das ist auch nicht im Interesse der belarussischen Bevölkerung, obwohl wir seit mehr als 20 Jahren eine enge Zusammenarbeit mit Russland und sogar eine Union haben. Doch die Belarussen teilen nicht die Idee eines russischen Imperiums. Die russische Propaganda mag bei der russischen Bevölkerung gut funktioniert haben, aber nicht so sehr bei den Belarussen. Das gibt Anlass zur Hoffnung.

Aus dem Englischen von Tim Steins