Narendra Modi reiste diese Woche nach Russland, der erste Besuch bei Wladimir Putin seit fünf Jahren. Drei Dinge sind dem indischen Premierminister besonders wichtig: Indiens weltpolitische Rolle, die indische Konkurrenz mit China und die wirtschaftliche und militärische Partnerschaft mit Russland. Die beiden Regierungschefs trafen sich zuletzt bilateral 2021 bei einem Besuch Putins in Neu-Delhi. Nach seiner Ankunft in Moskau hob Modi auf der Plattform X die „spezielle und strategische Partnerschaft“ zwischen Indien und Russland hervor, die „unserer Bevölkerung zugutekommen wird.“

Was ist so „speziell“ an dieser „strategischen Partnerschaft“? Modi zeigt mal wieder, dass er sich geopolitisch nicht einfach einem Block anschließen will, sondern eine eigenständige Politik verfolgt. Eine ausbalancierte Politik, wie die indische Regierung gerne hervorhebt. Trotz der in den beiden letzten Jahrzehnten enger geknüpften indisch-US-amerikanischen Beziehungen und obwohl Indien ein begehrter Partner in der EU, in Japan und in Australien ist, wendet sich die indische Regierung keineswegs von Russland ab. Auch Moskaus Aggression gegen die Ukraine hat das nicht geändert. Der Versuch des Westens, Indien nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine zu einer harten Haltung gegenüber Russland zu bewegen, ist kläglich gescheitert. Modi würdigte in Moskau das bilaterale Verhältnis zu Russland, das auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitigem Respekt basiere. Er vermied es, die russische Aggression zu verurteilen und sprach stattdessen nur sehr allgemein von der Notwendigkeit, Frieden zu schaffen.

Der Versuch des Westens, Indien nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine zu einer harten Haltung gegenüber Russland zu bewegen, ist kläglich gescheitert.

Gute Beziehungen zu Moskau reichen weit zurück bis in die Zeit des Kalten Krieges. Die Annäherung an die USA und deren Verbündete erfolgte erst in den letzten beiden Jahrzehnten. Und obwohl es schon lange her ist, haben Indiens politische Führer bis heute nicht vergessen, dass die Nixon-Regierung 1971 im Unabhängigkeitskampf Bangladeschs auf der Seite Pakistans gegen Indien stand, während die damalige Sowjetunion Indien politisch und militärisch stützte. Damals schlossen Indien und die UdSSR einen 25-jährigen „Vertrag für Frieden, Freundschaft und Kooperation“. Weil Indien heute ein begehrter Partner ist, kann es sich den diplomatischen Drahtseilakt leisten, je nach Interessenlage sowohl mit dem Westen als auch mit Russland zu kooperieren.

Vor der jetzigen Reise nach Moskau hatten indische Offizielle ausdrücklich betont, dass dieses Gipfeltreffen und die indisch-russischen Beziehungen nicht gegen Dritte gerichtet seien. Damit knüpft die indische Regierung an die Politik der Blockfreiheit an, die schon Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru vor über sieben Jahrzehnten praktizierte und die Indiens Unabhängigkeit betonen soll. Heute spricht Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar nicht mehr von Blockfreiheit; er betont Indiens eigene Interessen, die es in „multiplen Bündnissen“ zu wahren gilt. Obwohl die Regierung Modi innenpolitisch durch die jüngste Parlamentswahl geschwächt ist, wird sich an der selbstbewussten und möglichst selbstbestimmten Außenpolitik vermutlich nichts ändern.

Indiens Annäherung an den Westen dient auch dazu, Verbündete gegen China zu finden.

Indiens Annäherung an den Westen dient auch dazu, Verbündete gegen China zu finden. Indien ist wegen Chinas Politik aufs Äußerste besorgt und hofft, seine Position gegenüber China zu stärken, in dem es im Indopazifik mit den USA kooperiert, auch in der Sicherheitspolitik. Die beiden asiatischen Großmächte Indien und China konkurrieren um Einfluss – in Asien und der Welt. Die gemeinsame Grenze im Himalaya ist seit Jahrzehnten umstritten. Nach dem indo-chinesischen Krieg um ein unbewohntes Territorium 1962, mit traumatischen Verlusten für Indien, kam es immer wieder zu Grenzscharmützeln, zuletzt mit Toten auf beiden Seiten im Jahr 2020. Alle Versuche, den Grenzkonflikt beizulegen, scheiterten. Derzeit herrscht zwischen Neu-Delhi und Peking Eiszeit.

Mit Sorge und großem Missfallen beobachtet die indische Regierung Chinas Vormarsch im Indischen Ozean. China hat stark in die Infrastruktur vieler Häfen in den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans investiert. Hochrangige indische Marineoffiziere warnen vor Chinas großem Fußabdruck in Indiens Interessensphäre. Einige sehen sogar eine strategische Einkreisung Indiens durch China. Sie betrachten den Indischen Ozean als „Indiens Hinterhof“ und sprechen in Bezug auf die fast zwei Dutzend Häfen, an denen China beteiligt ist, von einer chinesischen „Perlenkette“. Mit dem Besuch in Moskau sendet Modi auch ein Signal an Xi Jinping, dass nicht nur China mit Russland eine „strategische Partnerschaft“ pflegt. Indien hat in den letzten Jahren stark aufgerüstet, um gegen China gewappnet zu sein.

Seit Jahrzehnten kooperiert Indiens Rüstungsindustrie mit Russland (beziehungsweise früher mit der Sowjetunion). Rund 60 Prozent des Waffenbestandes der indischen Streitkräfte stammen aus dieser Kooperation. Die Streitkräfte sind nach wie vor von russischen Waffenlieferungen und Ersatzteilen abhängig. Aber Indien ist bemüht, diese Abhängigkeit zu reduzieren. Seit der Annäherung an den Westen haben die USA nicht nur eine generelle Zusammenarbeit mit der indischen Rüstungsindustrie versprochen. Sie liefern jetzt auch modernste Rüstungstechnologie. Kampfjets kommen aus Frankreich, Raketen und Elektronik aus Israel. Indien versucht offensichtlich, seine Waffenquellen zu diversifizieren. Beim jetzigen Besuch in Moskau bekräftigten Russland und Indien, auch weiterhin bei der Rüstung zu kooperieren. Aber die Zusammenarbeit mit westlichen Partnern ist für die künftige Rüstung Indiens bedeutsamer, weil die Streitkräfte die Priorität für russische Waffen deutlich abbauen wollen. Außerdem verwendet die russische Rüstungsindustrie derzeit fast sämtliche ihrer Kapazitäten auf die Versorgung der eigenen Streitkräfte für den Krieg gegen die Ukraine.

Indiens Streitkräfte sind nach wie vor von russischen Waffenlieferungen und Ersatzteilen abhängig.

Indiens Handelsbeziehungen mit Russland sind beträchtlich und sie haben im Gegensatz zum Rüstungssektor seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine deutlich zugenommen. Denn die Regierung in Neu-Delhi hat sich konsequent geweigert, die vom Westen verhängten Sanktionen gegen Russland mitzutragen. Zwar ist der indische Export nach Russland kaum gestiegen, aber seit dem 24. Februar 2022 haben sich Indiens Importe aus Russland versechsfacht. Die Rohstoff- und Energieimporte aus Russland sind erheblich. Indien wurde nach China zum zweitwichtigsten Abnehmer russischen Öls, das Russland nur schwer auf den internationalen Märkten verkaufen kann. Russisches Öl wird in Indien verarbeitet und von dort exportiert, auch nach Europa. Indiens Import von verbilligtem russischem Erdöl hat dazu beigetragen, Russlands Kriegskasse zu füllen.

Und was ist für Russland an der Beziehung zu Indien von Bedeutung? Der Besuch Modis ist vor allem eine Möglichkeit für den Kreml zu zeigen, dass es weiterhin enge und starke Partnerschaften mit Ländern außerhalb des eigenen Einzugsbereichs gibt. Die vom Westen zugedachte Rolle des internationalen Parias kann Putin so vermeiden. Indien versteht sich auch als Sprachrohr des Globalen Südens und hat dessen Anliegen sowohl innerhalb der Gruppe der BRICS-Länder als auch während des G-20-Gipfels im September 2023 in Neu-Delhi auf die Tagesordnung gesetzt. Hier verlaufen die Interessen Russlands, Indiens, aber auch Chinas und generell des Globalen Südens parallel. Putin spricht oft von einer neuen, „multipolaren Weltordnung“, in der die internationalen Handels- und Finanzbeziehungen nicht mehr vorrangig von den USA beziehungsweise vom Westen bestimmt werden. Diese Forderung kann man sowohl in Peking als auch in Neu-Delhi, in Brasilia, in Pretoria und in vielen anderen Hauptstädten im Globalen Süden hören. Modis Besuch in Russland ist also auch eine Möglichkeit für den Kreml, die vom Westen angestrebte Isolation Russlands zu konterkarieren.