Der diesjährige G20-Gipfel in Neu-Delhi ging mit großem Tamtam zu Ende. Indien, vertreten durch Premierminister Narendra Modi und seine Regierungsmannschaft, glänzte nicht nur durch seine Rolle als freundlicher Gastgeber und durch die effiziente Planung, sondern vor allem durch seine konsensbildende Kraft. Indiens bedeutendste Leistung ist die Aufnahme der Afrikanischen Union als Vollmitglied der G20. Das Eintreten für die Agenda des Globalen Süden, für ein verantwortungsvolleres globales Finanzsystem und eine gerechte internationale Regelung zum Beispiel des Klimaschutzes zählte zu den tragenden Säulen der indischen G20-Präsidentschaft.

Einige wichtige Kernpunkte verdienen eingehendere Betrachtung. Erstens gilt es zu unterscheiden zwischen der Tatsache, dass Indien zentrale Aspekte der Agenda des Globalen Südens erfolgreich in den Fokus gerückt hat, und einer Führungsrolle Indiens für den Globalen Süden. Letztere als Fazit festzuhalten, wäre womöglich allzu bequem, auch wenn es hilfreich sein kann, um sich geeinte Positionen zu globalen Fragen vorzustellen. Doch auch wenn Indien im Rahmen der G20-Agenda des Globalen Südens als Vorkämpfer für die Agenda des Globalen Süden agiert, setzen politische Veränderungen durch die betreffenden Akteure nach wie vor voraus, dass sie ein Interesse an diesen Veränderungen haben und entsprechend handeln.

Die Einigung auf eine Schlusserklärung ist für Indien und auch für den Westen ein diplomatischer Erfolg.

Zweitens ist die Einigung auf eine Schlusserklärung für Indien und auch für den Westen ein diplomatischer Erfolg. Unter anderem ist in der Erklärung von der Notwendigkeit die Rede, „gefährdete Bevölkerungsgruppen durch die Förderung von gerechtem Wachstum zu schützen“, „beschleunigte Anstrengungen zur schrittweisen Reduzierung der Stromerzeugung aus Kohle (...) im Einklang mit den nationalen Gegebenheiten“ zu unternehmen und „Schuldenanfälligkeiten in Ländern der unteren und mittleren Einkommensgruppe auf wirksame Weise anzugehen“. Da Diplomatie die Kunst ist, genug zu sagen und gleichzeitig nicht viel auszusagen, ist auch das Gegenteil wahr. Manches Dokument, in dem für jeden etwas dabei ist, bleibt vor lauter Vieldeutigkeit wirkungslos. Ein einmal erzielter Konsens mündet zudem nicht zwangsläufig in eine Politik im Geiste des diesjährigen G20-Mottos „Eine Erde, eine Familie, eine Zukunft“ – schon gar nicht in einer Welt, in der die Polarisierung immer mehr zunimmt. Dies lässt vermuten, dass auf die G20 als Forum in Zukunft einige Herausforderungen zukommen.

Getreu ihrem Gründungsauftrag sind die G20 von ihrer Geschichte her ein Forum, das bei regionalen und globalen Krisen in Aktion tritt. In relativ stabilen Zeiten hört man von den G20 keine großen Verlautbarungen. Heute ist die Welt voller geopolitischer, geoökonomischer, ökologischer und technologischer Instabilitäten. Deshalb ist der Auftrag der G20 heute sehr viel relevanter als in der Frühzeit des Staatenverbundes. Diesem Auftrag kommt auch deswegen mehr Bedeutung zu, weil wir es inzwischen mit sektorübergreifenden Instabilitäten zu tun haben. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat nach wie vor Auswirkungen auf die Ernährungs- und Energiesicherheit auf der ganzen Welt. Die ökologische Instabilität hat unmittelbare Folgen für die Sicherheit von Menschen, wobei die Menschen im Globalen Süden diese Folgen am intensivsten zu spüren bekommen. Der geopolitische Konkurrenzkampf zwischen dem Westen und China hat zur Folge, dass Länder sich strategisch und wirtschaftlich neu ausrichten.

Während der Westen den nötigen Willen und die erforderlichen Kapazitäten hat, um mit solchen gigantischen Umwälzungen umzugehen, ist der Globale Süden in dem Dilemma gefangen, sich für eine Seite entscheiden zu müssen, die eigenen Ressourcen in die Waagschale zu werfen und sich an den Abwärtsdruck anzupassen, der sich durch all diese Veränderungen aufbaut. Die Unterstützung für den Globalen Süden mit dem Ziel, dass global gehandelt wird, ist deshalb eine systemische Notwendigkeit und nicht bloß ein Punkt im Forderungskatalog der indischen G20-Präsidentschaft. Das wissen sowohl Indien als auch der Westen.

Indien ist die Brücke, die die heutige Welt braucht.

Für die Aufgabe, diese Unterstützung zu mobilisieren und dem Globalen Süden angedeihen zu lassen, ist Indien ein in jeder Hinsicht geeigneter Kandidat. Die gemeinsame Kolonialgeschichte, der erfolgreiche Übergang zu einer unabhängigen Demokratie, eine stetig wachsende Wirtschaft und ähnliche gesellschaftlich-kulturelle Erfahrungen machen es Indien leicht, die Türen zum Globalen Süden zu öffnen. Indien ist die Brücke, die die heutige Welt braucht. Es gab die Erwartung, dass Indien eine Brücke zwischen dem Westen und der sich herausbildenden Verbindung zwischen Russland und China schlägt, doch angesichts seiner Differenzen mit der Volksrepublik und seiner Annäherung an den Westen kann Indien gut damit leben, wenn es nur als Brücke zum Globalen Süden dient. Für Indien ist die Sachwalterrolle für die Agenda des Globalen Südens eng mit den eigenen nationalen Interessen verknüpft. Sie verschafft ihm die Möglichkeit, sich in beiden Lagern gleichzeitig zu bewegen – also in Fragen von beiderseitigem Interesse intensive und vorteilhafte Beziehungen mit dem Westen aufzubauen und sich – gestützt auf die Süd-Süd-Solidarität und auf nicht-kontroverse Art und Weise – um Veränderungen in der (bis dato vom Westen dominierten) Weltordnungspolitik zu bemühen. Diese praxisorientierte Einstellung eröffnet Indien mehr Optionen und vergrößert seine politischen Handlungsspielräume.

Indiens G20-Präsidentschaft war deswegen ein Erfolg, weil das Land in zwei Richtungen agiert. Auf der einen Seite kommt es seinen westlichen Verbündeten entgegen, indem es als ein Staat – der sich rasant entwickelt und den sprichwörtlichen Widerspruch zwischen Entwicklung und Klimaschutz umschifft – gleichwertige Verantwortung übernimmt. Es bietet seine Human- und Kapitalressourcen und seine materiellen Ressourcen an, um globale Herausforderungen zu bewältigen. Auf der anderen Seite engagiert sich Indien für seine Partner im Globalen Süden und macht sich tatkräftig für Reformen der politischen Weltordnung stark. Auf den Globalen Süden geht Indien sicherlich auch deswegen zu, weil es ein Gegengewicht zu Chinas Einfluss schaffen will. Dieses Bedürfnis nach einer Balance gegenüber China kennt der Westen aus eigener Erfahrung – darum haben Indiens Vorgehen und seine natürliche Führungsrolle in den Augen des Westens einen großen Wert. Ein Beispiel dafür, wie Chinas Einfluss zurückgedrängt werden soll, ist der am Rande des Gipfeltreffens vorgestellte Wirtschaftskorridor Indien – Naher Osten – Europa (IMEC).

Indien bietet seine Human- und Kapitalressourcen und seine materiellen Ressourcen an, um globale Herausforderungen zu bewältigen.

Anders als vor einem Jahr auf Bali hält die Abschlusserklärung des Gipfels in Neu-Delhi sich zu Russlands Krieg in der Ukraine bedeckt. Sowohl Russland als auch China loben Indien für die Entpolitisierung der G20. Doch lassen die Probleme, vor denen wir – besonders im Globalen Süden – heute stehen, sich in einem politikfreien Raum lösen? In der Schlusserklärung von Neu-Delhi ging es aus indischer Perspektive ebenso viel um das Zurschaustellen moralischer Werte und die Selbstdarstellung gegenüber China und der Öffentlichkeit im eigenen Land wie auch darum, dass der Westen Indien (und nicht China) als verantwortungsbewussten Partner für den Globalen Süden legitimiert. Passend dazu zielten die verwässerten Aussagen zu Russlands Krieg in der Ukraine zum einen darauf auf, Indiens besondere Beziehung zu Russland zu schützen, und zum anderen darauf, dem Westen die Perspektive des Globalen Südens auf die Auswirkungen des Krieges zur Geltung zu bringen.

Was in solchen Erklärungen ausgespart wird, ist für Diplomatiehistoriker oft aufschlussreicher als das, was explizit in ihnen ausgesagt wird. Das Forum der G20 ist zwei entgegengesetzten Zugkräften ausgesetzt und damit ein Abbild der heutigen Weltlage. Entweder begnügen die G20 sich mit von Gruppeninteressen geleiteter Geopolitik mitsamt den komplexen Trennlinien, die dazu geführt haben, dass multilaterale Foren entweder vom Westen oder von China dominiert werden, während die eigentliche Musik in bilateralen oder minilateralen Formaten spielt. Oder sie bemühen sich um Konsens und schwächen damit die eigene Wirkung. Um den ihnen zugedachten Zweck zu erfüllen, müssen die G20 die richtige Balance finden. In Neu-Delhi übergab Premierminister Modi den Staffelstab und damit auch die Zukunft der G20 in die Hände von Präsident Lula.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld