Lesen Sie diesen Beitrag auch auf Englisch oder Russisch.
Das Weltwirtschaftsforum in Davos wird seine 48. Jahrestagung 2018 zu einem dramatischen Zeitpunkt abhalten. Das Motto der Veranstaltung lautet „Für eine gemeinsame Zukunft in einer zersplitterten Welt“. Wir fragen uns jedoch, wer oder was unsere Welt „zersplittert“ hat.
Im Jahr 1971 organisierte der Gründer des Forums, der Deutsche Klaus Schwab, das erste Treffen am selben Ort, den der berühmte deutsche Schriftsteller Thomas Mann als Schauplatz für sein Meisterwerk „Der Zauberberg“ gewählt hatte. In dem 1924 veröffentlichten Roman werden die Herausforderungen der zivilisierten Welt am Vorabend großer und tragischer Ereignisse dargestellt – er spielt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Schwabs Protagonisten waren jedoch die Generaldirektoren der großen Konzerne, deren Motivation es war, ihr Geschäft in den 1970er Jahren zu erweitern.
Das Forum entwickelte sich zu einem Ort, an dem CEOs mit den wichtigsten politischen Entscheidungsträgern weltweit zusammentreffen, um über eine Agenda für die Zukunft zu debattieren. Es wurde aus der Notwendigkeit heraus geschaffen, eine Diskussion zwischen der „Geschäftswelt“ und der „Welt der Politik“ über eine neue Ordnung anzuregen. Seine Entstehung fiel mit der Auflösung der Weltordnung zusammen, die in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgehandelt wurde, als die USA den Goldstandard aufgaben und der Stagflation (wirtschaftliche Stagnation gepaart mit Inflation) mit keynesianischen Lösungsansätzen nicht beizukommen war.
Den einfachen Bürgern sollte glaubhaft gemacht werden, dass wirtschaftliche Probleme auf Faktoren außerhalb ihres Entscheidungsbereichs zurückzuführen seien – als seien es Naturphänomene.
Das Forum begleitete Schritt für Schritt die Propagierung des Neoliberalismus als neues Wirtschaftsrezept und die Liberalisierung der Kapitalströme und des Handels als Dogmen einer guten, globalen Führungspolitik.
Die Herangehensweise von CEOs und politischen Entscheidungsträgern basierte auf der Überzeugung, dass das Unternehmertum den Weg zum Fortschritt ebnen würde, und es daher darum ginge, ein Klima des Vertrauens für Investoren zu schaffen. Gesellschaftliche und staatliche Akteure, die die glorreichen dreißig Jahre des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt hatten, gaben die Bühne frei. Sie waren der Meinung, dass die Wirtschaft zu wichtig sei, um sie den Launen der Demokratien zu überlassen. So verschrieben sich Politiker voll und ganz der Idee, dass die Politik auf die bereits bestehenden Regeln des freien Markts auszurichten sei, denn wie Margareth Thatcher feststellte: „There is no alternative.“ Diese Regeln waren nach den Vorstellungen der Investoren etabliert worden.
Eine Reihe von Institutionen, die nicht unter demokratischer Kontrolle standen und keinen Volksabstimmungen unterlagen, kümmerte sich in der Folge um die Wirtschaftspolitik: darunter unabhängige Zentralbanken, der Internationale Währungsfonds, Ratingagenturen und die Welthandelsorganisation.
Den einfachen Bürgern, die von ihrer Arbeit lebten und in regelmäßigen Abständen ihre demokratischen Vertreter wählten, sollte glaubhaft gemacht werden, dass etwaige wirtschaftliche Probleme auf Faktoren außerhalb ihres Entscheidungsbereichs zurückzuführen seien – als seien es Naturphänomene. Und dieses Ziel erreichten die Akteure des Forums von Davos. Die CEOs walteten ganz im Sinne ihrer Investitionen, und nichts konnte sie von ihrem Kurs abbringen. Nicht einmal der Beinahe-Kollaps des gigantischen Long Term Capital Management-Fonds (LTCM) im Jahr 1998. Bemerkenswert ist hierbei, dass LTCM von Robert C. Merton und Myron S. Scholes verwaltet wurde, die im Jahr zuvor den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen hatten, indem sie mit ihren ökonometrischen Modellen die „Rationalität“ des Finanzderivatsystems belegten. Dies war der höchste Ausdruck eines ungebremsten Kapitalismus, dessen Entfesselung das Ende von LTCM zur Folge hatte und damit die Welt beinahe in eine globale Krise gestürzt hätte. Weder gaben die Preisträger ihre Auszeichnung zurück, noch hielten die „Davoser“ in ihrem ideologischen Eifer inne – und so setzten sich die Turbulenzen fort. Bis es in den Jahren 2007 und 2008 zum großen Zusammenbruch kam.
Ziel ist es, das politische und wirtschaftliche Leben im Einklang mit den Kriterien der sozialen Inklusion und Koexistenz neu zu ordnen. Dies kann die Demokratie jedoch nur erreichen, wenn sie die Hoheit über die Wirtschaft wiedererlangt.
Seit 1999 versammeln sich Menschen vor den Toren des Davoser Forums, um gegen die Weltanschauung zu protestieren, für die das Treffen steht. Die Bewegung nennt sich „Das andere Davos“. Seit 2001 treffen sich Befürworter einer alternativen Globalisierung („Altermondialismus“) parallel dazu im brasilianischen Porto Alegre, auf dem Weltsozialforum, um Alternativen zu diskutieren. Das Davoser Forum lud als Zeichen des guten Willens Vertreter von Anti-Globalisierungsbewegungen zu seinen Debatten ein, auch demokratische Politiker nahmen an den Treffen teil. Im Jahr 2003 reiste der brasilianische Präsident Lula direkt vom Forum in Porto Alegre nach Davos. Und wie reagierten die „Davoser“ auf die Vorschläge von Lula, den freien Kapitalverkehr einzuschränken, Steuerparadiese zu beseitigen und einen globalen Fonds zur Armutsbekämpfung zu schaffen? Überhaupt nicht. Die Stoßrichtung des Forums von Davos ist seit 1971 unverändert: Sie zielt darauf ab, dass Unternehmen die Gesellschaft strukturieren und politische Entscheidungen lenken.
Das Forum ist mitverantwortlich für die „zersplitterte“ Welt, die es fürchtet. Donald Trump und der Brexit, der Aufstieg des Rechtsextremismus in Europa und anderen Teilen der Welt sowie die wachsenden geopolitischen Spannungen – diese Entwicklungen entlarven den vermeintlichen „Erfolg“ des Bestrebens, die Welt nach den falschen „rationalen Erwartungen“ von CEOs und Unternehmen mit ihrem Slogan „There is no alternative“ zu schaffen, eindeutig als bittere Lüge.
Nun wird eine demokratische und integrative Politik von meinungsstarken oder gar mehrheitlichen Teilen der Bevölkerung aufgegeben. Sie lassen sich stattdessen von einer autoritären Politik vereinnahmen, die Ängste und Traumata instrumentalisiert – und sich gegen Migranten, marginalisierte, wirtschaftlich benachteiligte Menschen und gegen fremde Länder richtet, denen vorgeworfen wird, die Ursache ihrer sozialen und wirtschaftlichen Misere zu sein. Das ist das tragische Ergebnis einer perversen Ideologie, vorangetrieben von Wirtschaftsbossen und Politikern, die jetzt jede Verantwortung für die Folgen von sich weisen.
Die Agenda der Globalisierung, so Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, „wurde hinter verschlossenen Türen von den Unternehmen bestimmt. Es war eine Agenda, die von großen multinationalen Konzernen für große multinationale Konzerne geschrieben wurde, und zwar auf Kosten der Arbeitnehmer und Normalbürger überall auf der Welt.“ In einem kürzlich erschienenen Artikel mit dem prägnanten Titel „Die Globalisierung unserer Unzufriedenheit“ stellt er zudem fest, dass „es eines der Ziele der Globalisierung war, die Verhandlungsmacht der Arbeiter zu schwächen. Was die Konzerne wollten, waren billigere Arbeitskräfte – ganz gleich, auf welche Weise“.
Da wir von Beginn an unter dieser Fehlentwicklung gelitten haben, haben wir als Gewerkschaften einen einfachen und unmissverständlichen Vorschlag, diese „zersplitterte Welt“ zu überwinden. Ziel ist es, das politische und wirtschaftliche Leben im Einklang mit den Kriterien der sozialen Inklusion und Koexistenz neu zu ordnen. Dies kann die Demokratie jedoch nur erreichen, wenn sie die Hoheit über die Wirtschaft wiedererlangt. Zudem ist es von kritischer Bedeutung, dass Gesellschaften in den multilateralen Gremien, die die internationalen Regeln festlegen, demokratisch entscheiden können. Die erste Aufgabe wird sein, die Black Box einer Wirtschaft aufzubrechen, die fest in den Händen einer wuchernden, von den Akteuren von Davos verwalteten Finanzwirtschaft ist. Ist es vorstellbar, dies im Rahmen des Weltwirtschaftsforums zu erörtern?