Viren sind nicht politisch. Sie sind ein medizinisches Problem. Aber es gibt eine große Ausnahme: Sars-Cov2. Dieses Virus ist politisch. Sicher, in der Bewertung des Virus und in der politischen Auseinandersetzung um Corona-Maßnahmen spielt die Virologie eine wichtige Rolle – vor allem zu Beginn der Pandemie. Je länger aber die Pandemie anhält, desto schwächer wird die Rolle der Virologie. Es wird deutlich, wer das Sagen hat: Politik ist Trumpf. Die öffentliche Meinung ist oft das Trumpf-Ass, Virologie ist manchmal nur die Pik-Sieben.

Das liegt zum Teil daran, dass es keine einheitliche wissenschaftliche Bewertung des Virus gibt. Wissenschaft entwickelt sich und neue Erkenntnisse werfen neue Fragen auf. Wissenschaftler haben unterschiedliche Einschätzungen. Das ist normal. Während die Unterzeichner der Great-Barrington-Erklärung Risikogruppen schützen und den Rest der Gesellschaft möglichst wenig beschränken wollen, meinen die Unterzeichner des John-Snow-Memorandums, dass alles getan werden müsse, um Infektionszahlen in der Bevölkerung insgesamt zu senken.

Der wichtigste Grund für das Primat der Politik ist aber ein anderer: Ein Corona-Kurs muss im Einklang mit der politischen Agenda und den politischen Überzeugungen der Handelnden stehen. Er darf nicht quer zu öffentlicher Meinung und Wählergunst liegen. Mit der Dauer der Pandemie kommt hinzu, dass ein eingeschlagener Kurs verteidigt werden muss. Kursänderungen können einen hohen politischen Preis haben. Regierungen stehen unter hohem Druck, ihre Maßnahmen zu rechtfertigen, aber auch andere Akteure können ihren Kurs nicht verlassen, ohne einen politischen Preis zu zahlen. Für manche sind Stichworte wie harter Lockdown oder Kein-Lockdown Teil ihrer politischen Identität geworden.

In der stark polarisierten US-Debatte sind zudem Einschätzung des Virus und Bewertung der Corona-Maßnahmen oft nur Teil der üblichen und reflexartigen Reaktion auf den politischen Gegner.

Beispiel USA: Beschränkungen von Zuwanderung, geschlossene Grenzen oder die Auseinandersetzungen mit China sind Themen, die die letzte US-Administration definiert haben. Insofern war es keine Überraschung, dass Beschränkungen des Reiseverkehrs mit China die ersten Corona-Maßnahmen waren, welche die Trump-Administration ergriffen hat. Sie passten genau in Trumps politische Agenda.

Für viele Trump-Anhänger sind Schließungen von Geschäften und Schulen oder Maskenpflicht ein Beispiel staatlicher Gängelung. Es sind Maßnahmen des deep state, der sich gegen seine Bürgerinnen und Bürger verschworen hat. Insofern ist es keine Überraschung, dass der stärkste Indikator für Schul- und Geschäftsschließungen oder Maskenpflicht nicht Infektionszahlen sind, sondern Wahlergebnisse. In republikanischen Bundesstaaten haben Schulen oder Geschäfte eher offen als in demokratischen – unabhängig vom Infektionsgeschehen.

In der stark polarisierten US-Debatte sind zudem Einschätzung des Virus und Bewertung der Corona-Maßnahmen oft nur Teil der üblichen und reflexartigen Reaktion auf den politischen Gegner: Vorschläge der Gegenseite sind quasi automatisch schlecht. Entsprechend den Reflexen extremer Polarisierung werden Vorschläge zuerst mit der parteipolitischen Brille betrachtet.

Beispiel Deutschland: In der weniger polarisierten Debatte Deutschlands sind die parteipolitischen Reflexe nicht so stark, aber auch hier ist eine vor allem wissenschaftsbasierte Politik ein Mythos. In Deutschland ist die öffentliche Meinung Trumpf. Nach Umfragen unterstützt bislang die Mehrheit einen strengen Lockdown, aber entsprechend der öffentlichen Meinung ist dieser Kurs voller Widersprüche. Auf millionenfachen Wunsch wurden für Weihnachten Kontaktbeschränkungen gelockert – obwohl Familienzusammenkünfte in Innenräumen besonders gefährlich sind. Nach millionenfachem Verlangen öffnen Friseure – obwohl beim Haareschneiden Körperkontakt unvermeidbar ist. Als sich die öffentliche Meinung nach Monaten eines harten Lockdowns langsam dreht, sagen führende Regierungspolitiker, dass ein Lockdown nicht auf Dauer tragbar sei. Die Ministerpräsidentenkonferenz beschließt Lockerungen trotz steigender 7-Tage-Inzidenz und der Ausbreitung gefährlicherer Virusvarianten.

Für eine gute Debatte ist es entscheidend, dass die politische Natur des Virus deutlich wird.

In Deutschland erklärt sich das Primat der Politik auch dadurch, dass Interessengruppen eher Gehör finden, wenn sie einstimmig sind und nicht diffus. Zwar existiert die simple Formel „Wirtschaftsinteresse gleich geringe Beschränkungen“ nicht – siehe Einzelhandel und Tourismus –, aber es gibt die Gleichung „Vielstimmigkeit gleich wenig Einfluss“. Schulen blieben geschlossen, weil Eltern, Lehrerinnen und Schülerschaft keine einheitliche Meinung zu Schulöffnungen haben. Produzierendes Gewerbe und Bauwirtschaft dagegen sprechen mit einer Stimme – beide Sektoren arbeiten weitgehend unbeschränkt.

Es gibt viele weitere Beispiele für den Vorrang der Politik über die Wissenschaft. Serbien und Ungarn – beides Staaten mit russlandfreundlicher Politik – verwenden den russischen Impfstoff Sputnik V. Polen, Litauen und die Ukraine dagegen – alles Staaten mit bestenfalls angespannten Beziehungen zu Russland – wollen Sputnik V nicht verwenden. Für die Ukraine ist das Vakzin eine Hybridwaffe, für Polen ein Instrument russischer Diplomatie.

Es ist richtig, dass Corona-Maßnahmen im Wettstreit der politischen Meinungen entschieden werden müssen. Insofern sind sie zuerst politisch und von der öffentlichen Meinung geprägt. Für eine gute Debatte ist es aber entscheidend, dass die politische Natur des Virus deutlich wird. Die Haltung zu ihm darf nicht als eine unumstößliche wissenschaftliche Wahrheit dargestellt werden. Wenn bestimmte Corona-Maßnahmen als allein mögliche, weil allein wissenschaftliche Haltung dargestellt werden, dann wird ein demokratischer Diskurs schwierig.

Mit einem solchen Ansatz wird überlagert, was Corona-Politik sein sollte: das öffentliche Abwägen unterschiedlicher Interessen anhand verschiedener Kriterien und nicht der automatisierte Vollzug einer bestimmten wissenschaftlichen Ansicht. Nur das Abwägen bestimmter Maßnahmen in der öffentlichen Debatte kann effektive Pandemiebekämpfung und ihre enormen sozialen Kosten in eine gesellschaftlich akzeptierte Balance bringen. Bisher ist kaum ein Land diesem Anspruch gerecht geworden.