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Der Aufstieg der Mittelschicht – von China bis zur arabischen Welt – wurde lange Zeit als ein entscheidender Beitrag zum Entstehen offener Gesellschaften und einer liberalen Weltordnung gefeiert. Gelehrte und Experten versicherten, die wirtschaftliche Liberalisierung werde mächtige Mittelschichten hervorbringen, die schließlich demokratische Formen der Politik vorantreiben werden. Hinter dieser Behauptung steht die Annahme, dass eine durchsetzungsfähige Mittelschicht für den Triumph der politischen Freiheit entscheidend ist.
Doch diese Hoffnungen wurden im letzten Jahrzehnt zerschlagen. Die globale Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur hat nicht zu einer politischen Liberalisierung geführt. Ganz im Gegenteil: Die wachsenden Mittelschichten in Afrika, Asien und dem Nahen Osten zeigen kein Interesse daran, auf demokratische Reformen zu drängen, wohingegen Teile der europäischen und amerikanischen Mittelschicht den Appellen der illiberalen Demagogie gegenüber recht offen sind, weil sie sich durch die raschen sozioökonomischen Veränderungen unserer Zeit bedroht fühlen. Zu fragen bleibt: Warum haben Politikwissenschaftler dieser gesellschaftlichen Gruppe so viel Vertrauen entgegengebracht?
Zum einen schien die historische Bilanz klar zu sein: Es waren die Mittelschichten, die oft an der Spitze des Kampfes für politische Freiheit standen. Im Laufe der Neuzeit, als sich das ländliche und städtische Bürgertum zu einer immer mächtigeren sozialen Gruppe zwischen der Aristokratie und den Bauern und Arbeitern entwickelte, begann es, die Macht und die Privilegien der alten, fest verwurzelten autoritären Eliten in Frage zu stellen. Die Bürgerlichen begannen, für den Schutz des Privateigentums, der Redefreiheit, der verfassungsmäßigen Rechte und der demokratischen Beteiligung sowie der Rechtsstaatlichkeit zu kämpfen. Man denke nur an die zentrale Rolle der Mittelschichten in den großen bürgerlichen Revolutionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (hauptsächlich in der atlantischen Welt), der Mitte des 19. Jahrhunderts (hauptsächlich in Europa) und des frühen 20. Jahrhunderts (hauptsächlich in Asien), die alle darauf abzielten, die Macht der Monarchen einzuschränken.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich das Bürgertum häufig auf die Seite illiberaler Regierungsformen geschlagen hat, wenn es um seine Privilegien und seine soziale Stabilität fürchtete.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen stellten Wissenschaftler im zwanzigsten Jahrhundert eine robuste Theorie auf, die sozioökonomische Strukturen und Formen der politischen Ordnung miteinander verband. „Ohne Bürgertum keine Demokratie“, stellte der Soziologe Barrington Moore in seinem Klassiker Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie von 1966 denkwürdig fest. Ähnliche Ideen wurden von den Befürwortern der Modernisierungstheorie geäußert, am prominentesten von Seymour Martin Lipset in seinem einflussreichen Buch Political Man: The Social Bases of Politics aus dem Jahr 1960.
Doch sie alle waren von einer selektiven Wahrnehmung der Geschichte geprägt. Ein genauerer Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich das Bürgertum häufig auf die Seite illiberaler Regierungsformen geschlagen hat, wenn es um seine Privilegien und seine soziale Stabilität fürchtete.
Während des gesamten 19. Jahrhunderts, dem goldenen Zeitalter der Bourgeoisie, lebte das Bürgertum in den meisten Teilen der Welt in Autokratien – zu den wenigen Ausnahmen gehörten Großbritannien und die Vereinigten Staaten – und kämpfte nicht immer für mehr politische Freiheit. Aus Angst vor dem Erstarken der Arbeiterklasse begrüßten Teile des Bürgertums sogar Einschränkungen der politischen Freiheit. Bereits 1842 stellte der deutsche Revolutionsdichter Heinrich Heine in seinem Pariser Exil fest, dass die Politik des Bürgertums „von Angst motiviert“ sei, da es nur allzu bereit sei, seine Freiheitsideale aufzugeben, um seine sozioökonomische Position vor den unteren Schichten zu schützen. Am deutlichsten wurde dies bei den gescheiterten Revolutionen von 1848, die vielerorts schnell die Unterstützung des in Panik geratenen Bürgertums verloren hatten. Die Bourgeoisie wurde getrieben – von der Angst vor plebejischer Wut und politischer Partizipation der Arbeiterklasse.
Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts zeigte sich auch wenig besorgt über die soziale und politische Ausgrenzung großer Teile der Gesellschaft – Minderheiten, Frauen, Arbeiter.
Auch der Kolonialismus offenbarte die inhärenten Widersprüche des Bürgertums, da der koloniale Rassismus in krassem Gegensatz zum Anspruch auf universelle menschliche Gleichheit stand. „Die Spannungen zwischen den exkludierenden Praktiken und den universalisierenden Ansprüchen der bürgerlichen Kultur waren prägend für die Kolonialzeit“, stellten die Historiker Frederick Cooper und Ann Laura Stoler fest.
Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts zeigte sich auch wenig besorgt über die soziale und politische Ausgrenzung großer Teile der Gesellschaft – Minderheiten, Frauen, Arbeiter. Ungleichheiten – ethnische, geschlechtsspezifische und soziale – waren Bestandteil der bürgerlichen Welt, obwohl sie in völligem Widerspruch zu den universellen Werten der Freiheit, Gleichheit und Zivilität standen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war die europäische Bourgeoisie in einem Bann von Nationalismus, Militarismus und Rassismus gefangen.
Das extremste historische Beispiel ist jedoch zweifellos die beträchtliche öffentliche Unterstützung für faschistische Regime in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, die nicht nur aus den unteren Mittelschichten, sondern auch aus bedeutenden Teilen der oberen Bourgeoisie kam. Aus Angst vor dem Gespenst des Kommunismus lief das Bürgertum in ganz Europa zu rechtsgerichteten Machthabern über, die sich den Idealen der liberalen Demokratie und des Parlamentarismus wenig verpflichtet fühlten. Autokraten wie Benito Mussolini, Francisco Franco und Adolf Hitler schienen den nötigen Schutz für ihren Wohlstand zu bieten.
Hitlers berüchtigter Rechtstheoretiker Carl Schmitt behauptete, dass nur ein starker autoritärer Staat den Erhalt der besitzenden Klasse garantieren könne. Der tschechoslowakische Politiker Edvard Benes stellte 1940 aus seinem Londoner Exil heraus fest: „Das Bürgertum hat erkannt, dass die politische Demokratie, wenn sie zu Ende gedacht wird, zu einer sozialen und wirtschaftlichen Demokratie führen könnte. Daher begann es, in den autoritären Regimen die Rettung vor einer sozialen Revolution der Arbeiter- und Bauernschicht zu sehen.“
Zur Zeit des Kalten Krieges wurde das Bürgertum auf der ganzen Welt liberaler – dennoch unterstützte es autoritäre staatliche Maßnahmen, wenn diese seinen Interessen entsprachen.
Sicherlich engagierten sich nicht alle Teile der Mittelschicht in dieser Weise. Der Historiker George Mosse hielt fest, dass die Nazis in ihrer Politik gegenüber dem Bürgertum „mit zweierlei Maß gemessen“ hätten. Die Politik habe „zwischen dem einheimischen und dem jüdischen Bürgertum unterschieden“ und sei „insofern antibürgerlich, da sie sich gegen den Juden richtete“. In ihrem 1955 auf Deutsch erschienenen Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft stellte Hannah Arendt fest, dass „die deutsche Bourgeoisie“, die „alles auf die Hitlerbewegung setzte und mit Hilfe des Mobs zu herrschen trachtete“, am Ende nur „einen Pyrrhussieg errang“, denn „der Mob beweist sehr schnell, dass er willens und fähig ist, selbst zu regieren, und entmachtete die Bourgeoisie zusammen mit allen anderen Klassen und staatlichen Institutionen“.
Zur Zeit des Kalten Krieges wurde das Bürgertum auf der ganzen Welt liberaler – dennoch unterstützte es autoritäre staatliche Maßnahmen, wenn diese seinen Interessen entsprachen. So wurde in den Gesellschaften des Westens eine harte Hand – Einschränkungen der Rede- und Versammlungsfreiheit – gegen (vermeintliche) Kommunisten und ihre Sympathisanten toleriert, ja sogar begrüßt. In vielen Teilen des Globalen Südens der Nachkriegszeit, vom Nahen Osten bis nach Lateinamerika, blühte die Mittelschicht in autoritären Regimen auf und unterstützte aus Angst vor sozialer Instabilität auch politische Repression.
Das sind keine Ausnahmen von einer allgemeinen Regel über die Politik der Mittelschicht. Die Bourgeoisie und die politische Liberalisierung sind weniger eng miteinander verbunden, als wir angenommen haben. Vielmehr haben wir ihr Versprechen die ganze Zeit über missverstanden.
Das Bürgertum ist nicht a priori ein Motor der politischen Liberalisierung. Es kann leicht zum Förderer eines repressiven Autoritarismus werden, wenn es den Verlust seines Einflusses und Reichtums fürchtet. Die Geschichte der bürgerlichen Opposition gegen die Prinzipien der universellen Freiheit, Gleichheit und Zivilität kann als Teil der dunklen Seite der Moderne verstanden werden, wie sie die beiden Hauptfiguren der Frankfurter Schule Max Horkheimer und Theodor Adorno in ihrem Klassiker Dialektik der Aufklärung von 1947 beschrieben haben. Die Mittelschicht war schon immer janusköpfig. Ob sie sich liberale Modelle der Moderne zu eigen gemacht hat oder nicht, hing von den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umständen ab.
In ihrem Kampf, ihre sozioökonomische Position zu erhalten, wenden sich Teile der Mittelschicht der Protestpolitik zu, da sie glauben, dass populistische Machthaber ihre Interessen schützen werden.
In den letzten Jahren wurde in einer Vielzahl von Publikationen die Krise des Bürgertums im Westen beklagt. Man denke nur an Ganesh Sitaramans Buch The Crisis of the Middle-Class Constitution aus dem Jahr 2017, das vor dem Zusammenbruch einer starken Mittelschicht warnt und diesen als „Bedrohung Nummer eins für die konstitutionelle Regierung“ in den Vereinigten Staaten hält. Oder Christophe Guilluys No Society: The End of the Western Middle Class aus dem Jahr 2018, das sich mit der zerbröckelnden Mitte in Frankreich (und darüber hinaus) befasst. Daniel Goffarts Das Ende der Mittelschicht von 2019 bringt für Deutschland das gleiche Argument vor.
Doch all diese Experten gehen davon aus, dass die Mittelschichten Bastionen liberaler, offener Gesellschaften sind, und dass nur ihr Niedergang die Demokratie bedrohen könnte. Sicher, die Erosion des Bürgertums ist ein Problem. Aber es gibt noch eine weitere Gefahr, über die wir nicht genug diskutieren – ihre politische Illiberalisierung.
Es ist also nicht überraschend, dass sich gerade jetzt wachsende Teile der Mittelschichten in aller Welt wieder der illiberalen Politik zuwenden. Das letzte Jahrzehnt hat eine Vielzahl von Schocks bereitgehalten: Die Große Rezession und die neoliberalen Auswüchse unseres neuen „Gilded Age“ haben zu wachsender Ungleichheit geführt und die Mittelschicht fast überall unter Druck gesetzt. Gleichzeitig fühlen sich Teile der alten sozialen Mitte durch soziale, wirtschaftliche und politische Forderungen früher marginalisierter Gruppen – Minderheiten, Migranten und Arme – bedroht.
In ihrem Kampf, ihre sozioökonomische Position zu erhalten, wenden sich Teile der Mittelschicht der Protestpolitik zu, da sie glauben, dass populistische Machthaber ihre Interessen schützen werden. Das Establishment und die progressiven Parteien müssen aufhören, davon auszugehen, dass die Mittelschicht sie immer unterstützen wird. Die Geschichte sagt etwas anderes und zeigt, wie eine solche Hybris zur Katastrophe führt. Die Mittelschicht ist nicht verloren, aber die politischen Führer müssen jetzt hart arbeiten, um ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Sie zu ignorieren, wäre eine Gefahr für sie selbst und für unsere Gesellschaften.
Aus dem Englischen von Marius Mühlhausen
(c) The New York Times 2020