Interview von Samuele Mazzolini

Der Linkspopulismus macht eine schwierige Zeit durch. Podemos steckt in Schwierigkeiten, ebenso France insoumise. Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass in diesem „populistischen Moment“, wie Sie es nennen, der Linkspopulismus auf dem Rückzug ist statt voranzuschreiten? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass der Linkspopulismus keine wirkliche Machtoption in Europa darstellt?

Es besteht kein Zweifel daran, dass der Linkspopulismus gegenwärtig im Hintertreffen ist. Aber immerhin können wir von einem Linkspopulismus sprechen. Lange Zeit kam jeder Widerstand gegen die Postdemokratie von rechts. Erst seit Kurzem erleben wir die Entstehung eines Linkspopulismus mit solchen Kräften wie Podemos, France insoumise und der Entwicklung von Labour unter Corbyn.

Populismus ist für mich, so wie es auch Ernesto Laclau versteht, eine Strategie zum Aufbau einer „politischen Trennlinie“. Endlich gibt es auf der linken Seite eine Reaktion gegen das, was ich als „Post-Politik“ bezeichne, also die Verweigerung jeglicher Abgrenzung in der Politik. Seit Tony Blair die Sozialdemokratie als „dritten Weg“ umdeutete, hatte man die Vorstellung aufgegeben, dass man sich dem Neoliberalismus entgegenstellen müsse. Allgemein wurde die Meinung vertreten, es gebe keine Alternative zu diesem Modell und es müsse schlicht akzeptiert werden. Bestenfalls könnten Sozialdemokraten die Wirtschaft durch ein bisschen Umverteilung humaner gestalten. Die „Linken in Anführungszeichen“ (wie sie in Spanien genannt werden) hielten es nicht für nötig, eine Strategie gegen den Neoliberalismus anzubieten. Das dauerte bis etwa 2011-2012, dem Moment, in dem die Unterscheidung zwischen links und rechts allmählich verblasste. Von da an wurde dieses Modell endlich von einigen linken Parteien hinterfragt.

Endlich gibt es progressive Bewegungen, die die "Post-Politik" in Frage stellen.

Anders als Sie sehe ich also eher die positive Seite – endlich gibt es progressive Bewegungen, die die „Post-Politik“ in Frage stellen. Was wir brauchen, ist eine linksgerichtete Strategie, die die politische Trennlinie auf populistische Weise wiederherstellt. Die politische Trennlinie existiert übrigens auch seitens des Marxismus, der radikalen Linken. Sie sind allerdings der Ansicht, dass diese Trennlinie entlang der Grenze Proletariat/Bürgertum konstruiert werden muss.

Bis vor kurzem hatten wir also nur diese beiden Perspektiven: die Sozialdemokratie bzw. die linke Mitte, bei der keine Trennlinie existiert und in der höchstens hier und da einige kleine Reformen möglich sind, und auf der anderen Seite die revolutionäre Strategie. Es gab keine echte Alternative, die nicht das Ende der liberal-pluralistischen Regierungsform bedeutet hätte.

Es erscheint mir sehr positiv, dass in den letzten Jahren die Notwendigkeit einer Strategie des „radikalen Reformismus“ erkannt wurde. Dieser besagt, dass es möglich ist, Dinge zu ändern, ohne das System auf revolutionäre Weise in Frage zu stellen und dass Alternativen zur neoliberalen Globalisierung möglich sind. Dass diese Parteien noch nicht an die Macht gekommen sind, finde ich normal.

Warum hat sich Podemos geirrt, als sie glaubten, die Mehrheit erringen zu können?

Sie haben die populistische Strategie mit einer Strategie von politischen Bewegungen verwechselt. Eine populistische Strategie ist für mich immer eine Strategie der Auseinandersetzung um Positionen. Wenn man akzeptiert, dass die populistische Strategie – und damit meine ich die Errichtung einer Trennlinie nicht auf der Grundlage der Dichotomie zwischen bürgerlich/proletarisch oder Kapital und Arbeit, sondern zwischen Volk und Oligarchie oder Establishment – eine Auseinandersetzung um Positionen ist, dann versteht man die Schwierigkeiten in den genannten drei Fällen besser und man versteht, dass sie keineswegs gescheitert sind.

Es geht darum, die Auseinandersetzung voranzubringen. Wenn wir es nicht schaffen, auf dieser Grundlage ein Projekt zu entwickeln, werden wir es überhaupt nicht schaffen, Alternativen zu entwickeln. Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment. Wir erleben eine Krise der neoliberalen Hegemonie. Vielleicht befinden wir uns noch nicht am Rande einer Wirtschaftskrise, aber die Überzeugung, dass der Neoliberalismus die Lösung bietet, hat an Glaubwürdigkeit verloren. Die Krise von 2008 hat diesen Prozess in Gang gesetzt. Bis dahin galt die neoliberale Globalisierung als unser Schicksal und der angelsächsische Kapitalismus als endgültige Antwort (siehe Francis Fukuyama usw.).

Die Krise der neoliberalen Hegemonie kann den Weg für zwei Lösungen ebnen: entweder zum Rechtspopulismus und zu autoritäreren Formen oder, über den Linkspopulismus, zu einer radikalen Wiederherstellung der Demokratie.

Diese Situation besteht nicht mehr. Die Krise der neoliberalen Hegemonie kann jedoch den Weg für zwei Lösungen ebnen: entweder zum Rechtspopulismus und zu autoritäreren Formen oder, über den Linkspopulismus, zu einer radikalen Wiederherstellung der Demokratie. Wir stehen nicht vor einem unvermeidlichen Triumph des Rechtspopulismus. Aber natürlich besteht die reale Gefahr, dass diese Krise zu autoritäreren Regierungen führen wird, die gibt es ja schon.

Die einzige Hoffnung besteht darin, weiterhin allen Widerstand in Richtung einer radikalen Demokratie zu artikulieren. Das wird nicht einfach, denn das neoliberale System versucht, linkspopulistische Alternativen zu dämonisieren, indem es sie als undemokratisch, extremistisch usw. darstellt. In Frankreich beispielsweise ist die Kritik der Mainstream-Medien gegenüber Jean-Luc Mélenchon viel stärker als gegenüber Marine Le Pen. Andererseits weiß Emmanuel Macron, dass es besser ist, Le Pen als Gegner zu haben, weil er gegen sie eine „große republikanische Front“ bilden kann.

Wie Sie bereits sagten, befindet sich der Rechtspopulismus derzeit im Aufwind, so in Italien, in den Vereinigten Staaten, in Ungarn. Könnte man sagen, dass der Rechtspopulismus es leichter hat? Benötigt er vielleicht in geringerem Maße eine aktive Basis, die im Falle der Linken zudem wesentlich anspruchsvoller ist?

Ja, ich denke, der Linkspopulismus sieht sich definitiv größeren Anforderungen gegenüber als der Rechtspopulismus. Der linke Populismus kann keine demagogischen Lösungen anbieten. Wenn er Alternativen zur neoliberalen Ordnung vorschlägt, muss das Hand und Fuß haben. Wenn es in Frankreich um konkrete Vorschläge geht, hat Marine Le Pen kein echtes Wirtschaftsprogramm anzubieten, während der Linkspopulismus eine wirkliche Alternative zum Neoliberalismus bieten muss. Der interessanteste Fall ist der britische: Corbyns Team, insbesondere John McDonnell, arbeitet sehr ernsthaft an Alternativen zum Neoliberalismus. Vergleichen wir es mit der UK Independence Party (UKIP). Da ist nichts, wir haben es an der Brexit-Kampagne gesehen. UKIP muss keine konkreten Antworten geben, Corbyn schon.

Apropos Rechtspopulismus, was halten Sie von der Entstehung der spanischen Vox?

Ich weiß nicht, ob man bei Vox von Rechtspopulismus sprechen kann. Ich habe gerade einen Artikel gelesen, dem zufolge Vox dem Fall von Jair Bolsonaro in Brasilien viel ähnlicher ist. Das sehe ich auch so. Ich persönlich sehe Bolsonaro nicht als Rechtspopulisten. Ich setze normalerweise Faschismus und Rechtspopulismus nicht gleich, und es stimmt nicht, dass Bolsonaro ein „tropischer Trump“ ist: Er ist viel schlimmer. Es handelt sich vielmehr um eine Art Proto-Faschismus, und man muss diesen Unterschied wirklich machen.

Genauso scheint mir Vox kein Rechtspopulismus zu sein. Der Rechtspopulismus ist ein Populismus, der fremdenfeindliche Antworten auf demokratische Forderungen gibt. Aber wenn es sich nicht um demokratische Forderungen handelt, würde ich nicht von Rechtspopulismus sprechen. Im Falle von Vox ist es vielleicht etwas voreilig, weil es noch nicht ausreichend analysiert wurde, aber es ist absolut klar, dass es sich weitgehend um einen Angriff auf den Feminismus handelt. Das ist nicht dasselbe wie Rechtspopulismus. Im Falle von Bolsonaro ist es kompliziert, aber ich sehe ebenfalls nicht, dass es demokratische Forderungen gibt, es geht vorrangig um eine totale Ablehnung. Alt-Right ist nicht dasselbe wie Rechtspopulismus.

Wie sollte Ihrer Auffassung nach der Rechtspopulismus angegangen werden?

Statt den Rechtspopulismus moralisch zu verurteilen, sollte die Linke versuchen, ihn zu verstehen. Der französische Soziologe Éric Fassin vertritt die Auffassung, dass wir nicht einmal mit den Leuten sprechen sollten, die für rechtspopulistische Parteien stimmen; sie seien von Natur aus frauenfeindlich, faschistisch und von düsteren Leidenschaften angetrieben. In gleicher Weise hat diese Linke Mélenchon sehr dafür kritisiert, dass er an den Demonstrationen der „Gelbwesten“ teilgenommen hat. Ihnen zufolge ist das gleichbedeutend damit, sich den Faschisten von Marine Le Pen anzuschließen! Sie weigern sich zu versuchen, das Phänomen zu verstehen. Warum wählen die Leute diese Parteien? Das sind Leute aus der Arbeiterklasse, es ist kein Atavismus, diese Parteien gehen irgendwie auf die Forderungen dieser Menschen ein, das muss man verstehen, um eine progressive Antwort auf diese Forderungen geben zu können. France insoumise hat das getan und damit die Stimmen in Bezirken errungen, die zuvor für Le Pen gestimmt haben. Die Aussagen Fassins werden damit widerlegt.

Im Bezirk Amiens, einem de-industrialisierten und von der Sozialistischen Partei verlassenen Ort, gelang es dem Journalisten und heutigen Repräsentanten von France insoumise, François Ruffin, viele Menschen zusammenzubringen, die bis vor kurzem massiv für die Nationale Front gestimmt hatten. Sie waren nicht an sich rassistisch, aber bis zu diesem Zeitpunkt war der einzige Diskurs, der eine Erklärung bot für das, was mit ihnen geschah, ein einwanderungsfeindlicher. Ruffin ging hin und diskutierte mit ihnen, er versuchte, ihre Probleme zu verstehen und ihnen zu sagen, dass nicht die Migranten schuld seien, sondern die neoliberalen Kräfte. Er konnte sehen, wie die Menschen ihre Meinung änderten. Welche demokratischen Forderungen haben diese Menschen und warum artikulieren sie sie auf diese Weise? Das ist doch die Frage.

Die Haltung der radikalen Linken in Europa stellt sich ganz anders dar. In einigen Fällen hat dieser Sektor eine gewisse Phobie gegenüber dem Staat und der Frage der Souveränität entwickelt. Wie bewerten Sie diese Position?

Heute ist marxistischen, autonomen und aufständischen Bewegungen eine starke Ablehnung des Staates gemeinsam. Es ist seltsam, wie sehr sie darin dem Neoliberalismus gleichen. Auf der anderen Seite steht die postpolitische sozialdemokratische Strömung, die sich gar nicht mehr vorstellen kann, wie Machtverhältnisse innerhalb eines demokratischen Staates wirklich verändert werden können. Für den radikalen Reformismus gibt es innerhalb republikanischer Institutionen die Möglichkeit, unterschiedliche hegemoniale Formen zu erreichen. Oftmals wird nicht unterschieden zwischen der Staatsform, der Ebene der liberal-demokratischen Institutionen, die eine Verbindung zwischen dem politischen Liberalismus und den demokratischen Werten der Gleichheit und der Volkssouveränität darstellen, und dem, was ich die Ebene der Hegemonie nenne, die der Art und Weise entspricht, wie sie interpretiert und institutionalisiert werden.

Deshalb betone ich in meinem letzten Buch so sehr die Rolle von Margaret Thatcher, denn ihr Beispiel zeigt deutlich, wie die vorherrschende öffentliche Meinung tiefgreifend verändert werden kann, ohne die Grundlage liberal-demokratischer Institutionen in Frage zu stellen. Mit Thatcher gab es eine hegemoniale Transformation, die das sozialdemokratische Modell und den keynesianischen Staat zerstörte. Der Neoliberalismus ist ein Bruch, der die pluralistischen Institutionen des Staates nicht zerstört. Für die Linke geht es darum, wie Thatcher einen hegemonialen Bruch zu vollziehen, aber in die andere Richtung. Das nenne ich radikalen Reformismus: Ohne die Institutionen des demokratischen Regimes in Frage zu stellen, muss ein hegemonialer Übergang stattfinden. Das ist es, was eine bestimmte radikale Linke nicht akzeptiert: Nach ihrer Logik wird der Staat entweder beibehalten und nichts verändert oder man zerstört ihn komplett. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Staat die Kristallisation von Kräfteverhältnissen ist.

Ich bin fest davon überzeugt: Man muss von der nationalen Ebene ausgehen. Wenn man die Dinge wirklich verändern will, geschieht das nicht in Meetings auf internationaler Ebene.

Wenn es um die Souveränität geht, werde ich häufig dafür kritisiert, dass ich der Notwendigkeit einer Organisation auf nationaler Ebene große Bedeutung beimesse. Aber ich bin fest davon überzeugt: Man muss von der nationalen Ebene ausgehen. Das war ein großes Manko der Globalisierungskritiker. Warum kam diese Bewegung an ihr Ende und hat keine große Wirkung erzielt? Weil es Ideen waren, die nicht von Organisationen kamen, die auf nationaler Ebene verwurzelt waren, sondern von Foren, an denen NGO-Vertreter aus der ganzen Welt teilnahmen und wichtige Dinge diskutierten, aber anschließend kehrten sie in ihre Länder zurück und dort fehlte es ihnen an Kontakten.

Wenn man die Dinge wirklich verändern will, geschieht das nicht in Meetings auf internationaler Ebene. Hierin liegt meine Zurückhaltung gegenüber Experimenten wie DIEM25 (Democracy in Europe Movement 2025) begründet. Auf europäischer Ebene werden hier die Fehler der Globalisierungskritiker reproduziert. Du kannst eine Bewegung nicht von oben organisieren. Wir müssen von einer Organisation auf nationaler Ebene ausgehen und dann auf die internationale Ebene übergehen, denn auch auf rein nationaler Ebene lässt sich der Neoliberalismus nicht bekämpfen. Auf europäischer Ebene muss eine Synergie geschaffen werden, aber das ist nicht möglich, wenn es keine nationale Verankerung gibt, von der aus man die Bemühungen bündeln kann.

Der zentrale Feind des Neoliberalismus ist die Volkssouveränität.

Wir haben das auch in Lateinamerika beobachten können, Hugo Chávez hat darüber auf dem Weltsozialforum in Caracas gesprochen. Alle Globalisierungskritiker sahen den Staat als negativ an, und Chávez sagte zu ihnen: „Schaut, wir sind der Staat“. Die national-populären Erfahrungen wurden über den Staat gemacht, und daran wird deutlich, dass dieser ein wichtiges Instrument der Transformation sein kann, wenn er in den Dienst der Bürger gestellt wird. Für mich bedeutet Linkspopulismus, an die Macht zu kommen, um die Kräfteverhältnisse im Staat und damit auch in der Gesellschaft zu verändern.

Darüber hinaus kann nur auf der nationalstaatlichen Ebene Souveränität ausgeübt werden. Der zentrale Feind des Neoliberalismus ist die Volkssouveränität. Wenn man gegen den Neoliberalismus kämpfen will, kann dies nur durch die Stärkung der Volkssouveränität erreicht werden. Dieses Gebiet als negativ oder gefährlich einzuschätzen, bedeutet, es dem Gegner zu überlassen. Deshalb kritisiere ich die No-border-Bewegung: Das ist doch genau der Wunschtraum des Neoliberalismus, eine unbegrenzte Zirkulation von Kapital und Arbeit. Aber wo können die Bürger dann ihre demokratischen Rechte ausüben? Nirgendwo. Das ist der Traum des Neoliberalismus: sich von den Fesseln der Volkssouveränität zu befreien. Oftmals sind es diejenigen, die sich auf der Linken am radikalsten gebären, die dem Neoliberalismus in die Hände spielen.

Die lateinamerikanischen Linkspopulisten sind nach einem Boom, währenddessen sie etwa 15 Jahre lang an der Macht waren, nicht in bester Verfassung. In Ihrem letzten Buch haben Sie es vermieden, sich mit ihnen zu befassen. Aber natürlich lassen sich viele Lehren über den Linkspopulismus aus ihren Erfahrungen ziehen, nicht wahr? Welche positiven und negativen Punkte lassen sich benennen?

Ich bestehe immer darauf, dass wir uns auf bestimmte Situationen beziehen müssen, um sie zu verstehen und zu sehen, wie wir handeln können. Deshalb ist es auch sinnlos, von einer weltweiten Konjunktur zu sprechen. Wir müssen von konkreten Fällen ausgehen. In Europa bietet sich uns aktuell ein Panorama, das wir in Íñigo Errejóns Worten als „Lateinamerikanisierung“ Europas bezeichnen, in dem Sinne, dass unsere Gesellschaften oligarchisch geworden sind. Vor der neoliberalen Ära, während der 30 „glorreichen“ Jahre des keynesianischen Wohlfahrtsstaates, waren unsere Gesellschaften kein Paradies, aber sie waren viel egalitärer und es gab keine so großen Unterschiede. Sie waren nicht oligarchisch.

In Folge des 30-jährigen Neoliberalismus sind unsere Gesellschaften oligarchisch geworden. Daher ist es heute sinnvoll, die Grenze populistisch zwischen dem Volk und der Oligarchie zu ziehen. Heute haben wir wirklich einen Bruch zwischen einer immer kleineren Gruppe von Superreichen auf der einen Seite und der verarmten Mittelschicht auf der anderen Seite. In Europa hat die Arbeiterklasse infolge der neoliberalen Hegemonie ihre zuvor errungenen Rechte verloren. Es geht nun zunächst darum, sie zurückzugewinnen und anschließend durch einen Prozess der demokratischen Radikalisierung zu erweitern. Es scheint mir daher, dass eine populistische Strategie in beiden Fällen sinnvoll ist. Der Unterschied liegt darin, dass sie in Lateinamerika im Allgemeinen die erste Stufe der Demokratisierung darstellte, während diese in Europa dank der Sozialdemokratie bereits zuvor stattgefunden hatte.

Und die Rolle der Führungsfiguren? In vielen Fällen waren sie zwar unzweifelhaft der Funke, der diese Prozesse in Gang setzte, aber die Ausdehnung der Regierungszeiten war doch problematisch. In einigen Fällen könnte man sogar davon sprechen, dass die politischen Anführer das Gegenteil von dem getan haben, was Sie als „Agonismus“ (Wettkampf) bezeichnen.

Es ist wahr, dass ein charismatischer Führer von großem Vorteil ist, obwohl er auch Risiken mit sich bringt. Wie ist es gleichzeitig möglich, einen charismatischen Führer zu haben und seine Nachfolge vorzubereiten? Das ist eine komplizierte Angelegenheit. In vielen Fällen war das Problem das Verschwinden des Führers: bei Chávez, weil er gestorben ist, andere konnten kein weiteres Mal mehr antreten. Ich plädiere für die Möglichkeit wiederholter Wiederwahlen. Ich verstehe nicht, warum es diesen Fetischismus gibt, dass man nicht mehr als ein- oder zweimal Kandidat sein kann; natürlich nur wenn die Wahlen wirklich demokratisch sind.

Das Dilemma einer agonistischen Politik besteht darin, dass Ihr Gegner Sie ebenso behandeln muss wie Sie ihn. Im Fall von Chávez behandelten ihn die Eliten immer wie einen Eindringling und akzeptierten seine Legitimität nie. Wenn du einen Opponenten hast, der dich wie einen Feind behandelt, wie kannst du ihn dann wie einen Gegenspieler behandeln? Das führt zu autoritäreren Positionen, und im Fall von Fernández de Kirchner war es ähnlich. Es hängt alles vom Verhalten des Opponenten ab.

Der linke Populismus in Lateinamerika war zwar in der Lage, bei den Wahlen Mehrheiten zu gewinnen und einen wichtigen Wandel in der öffentlichen Politik herbeizuführen. Auf einer tiefergehenden Ebene, wenn es um eine viel subtilere kulturelle Hegemonie geht, waren sie aber nicht besonders effektiv. Das heißt, der Neoliberalismus gewinnt sogar dann, wenn er nicht die herrschende Ideologie ist. Läuft der Populismus nicht Gefahr, dieser Herausforderung wirkungslos gegenüberzustehen?

Das Problem ist, dass es in vielen Fällen keinen echten Kampf um die Vorherrschaft gab und kein ausreichendes Bewusstsein für die bürgerliche Identität geschaffen wurde. Die Regierungen beschränkten sich darauf, Verbraucherwünsche zu befriedigen, ohne darum zu kämpfen, ein neues Bewusstsein aufzubauen. Sie gaben den Menschen materielle Güter, aber als der Rohstoffboom endete, konnte die Umverteilung nicht im gleichen Maße fortgesetzt werden. Daher wandten sich die Menschen gegen den Staat, weil er nicht mehr in der Lage war zu liefern.

Der argentinische Psychoanalytiker Jorge Alemán erzälte mir von einer sehr aufschlussreichen persönlichen Erfahrung. Seine Mutter war krank und wurde von einigen Frauen betreut. Die Arbeitsbedingungen solcher Haushaltshelferinnen hatten sich während der Regierungszeit von Cristina Fernández durch die Ausweitung der sozialen Rechte erheblich verbessert. Bei den letzten Wahlen stimmten diese Frauen jedoch für Mauricio Macri. Alemán konnte das nicht verstehen.

Ich habe über dieses Phänomen auch oft mit Doreen Massey besprochen, die mir Ähnliches von Frauen aus der Arbeiterschicht im Norden Großbritanniens erzählte, die für die konservative Partei gestimmt haben. Für sie bedeutete die Wahl dieser Partei eine Selbstaufwertung, es war eine Frage der Identität. Es bedeutete, Würde zu erlangen und aus dem Zustand der Hilfsbedürftigkeit herauszukommen. Das gilt auch für die Haushaltshilfen in Argentinien. Macri zu wählen bedeutete, sich als Teil der Mittelschicht zu fühlen. Die Menschen mögen den Zustand von „Hilfsbedürftigkeit“ nicht, es ist daher notwendig, Formen von Identität zu schaffen, in denen Menschen sich selbst wertschätzen können.

Wir müssen ein Bürgerbewusstsein schaffen.

Wir können eine solche „Wertschätzung“ fühlen, wenn wir für bestimmte Parteien stimmen, weil uns das das Gefühl vermittelt, dass wir denen helfen, die Hilfe brauchen. Aber das Volk lässt sich manchmal von den rechten Parteien verführen, weil sie auf diese Weise das Gefühl haben, ihre Lebensumstände hinter sich zu lassen. Es geht also darum, einen Diskurs für die Arbeiterklasse zu finden, mit dem sie sich wertgeschätzt fühlt. Das ist ein wichtiger Punkt: Wir müssen ein Bürgerbewusstsein schaffen. Vielleicht ist derjenige, der dabei am weitesten gegangen ist, Chávez. Er gab den venezolanischen Massen eine politische Identität. Davon ist noch etwas übrig, so lässt sich die Unterstützung erklären, die Nicolás Maduro heute noch hat. Chávez gab ihnen eine Würde, die sie vorher nicht hatten. Die Aufgabe ist, einen neuen Gemeinschaftssinn zu schaffen.

Der Populismus basiert auf der Konstruktion dessen, was Sie und Laclau eine Äquivalenzkette zwischen unbefriedigten heterogenen Forderungen nennen. Stehen wir aber ohne den Schub der Straße, ohne eine soziale Mobilisierung nicht auf sehr wackligen Füßen, wenn es darum geht, einen linken Populismus aufzubauen?

Es muss nicht unbedingt eine vorangehende soziale Mobilisierung geben. Es besteht kein Zweifel, dass im Falle Spaniens die „Indignados – Empörten“ sehr wichtig waren. Wie Errejón immer über Podemos sagte: „Wir sind nicht die Partei der Empörten, aber ohne die Empörten hätten wir Podemos nicht geschaffen.“ Aber im Falle von France insoumise gab es nichts Vergleichbares. Die Krise des Neoliberalismus erzeugt eine Vielzahl von Widerständen und Forderungen. Die Frage ist, wie sie kristallisiert werden können, wie man ein Projekt anbietet, das diesen Anforderungen gerecht wird.

Aber das ist nicht so einfach und hängt von mehreren Faktoren ab. Schauen Sie sich die „Gelbwesten“ in Frankreich an, die sich mit France insoumise nicht identifizierten, obwohl viele ihrer Forderungen auch in Mélenchons Programm stehen. Und das liegt daran, dass sie das Vertrauen in die repräsentative Demokratie verloren haben und das gesamte politische Spektrum ablehnen. Innerhalb der Bewegung gibt es sogar einen Kampf darum zu verhindern, dass einzelne Personen als ihre Sprecher auftreten.

Aus dem Spanischen von Claudia Detsch und Sabine Dörfler.

(c) Nueva Sociedad