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Es war an der Zeit. Die Weltbank hat die Veröffentlichung ihres „Doing-Business“-Index (DB) ausgesetzt. Über diesen Index wurde das Geschäftsklima einzelner Länder bewertet und ein Attraktivitäts-Ranking für ausländische Direktinvestitionen erstellt. Die Weltbank räumte nun „Unregelmäßigkeiten“ in ihren Daten ein. Diese könnten die Rangfolge der Schwellenländer beeinflusst haben. Die Aussetzung des Index war überfällig, wird die Verwendung von Governance-Indikatoren doch schon seit langem kritisiert. Auch an die Bundesregierung wurden bereits entsprechende Forderungen herangetragen, auf die Erhebung solcher Indikatoren  zu verzichten, wenn es um die Auswahl afrikanischer Partnerländer geht. Sie kam dieser Empfehlung bisher nicht nach; im Bundesfinanz- und im Entwicklungsministerium klammerte man sich an die ideologischen Prärogative aus Schuknecht-Zeiten. Nun ist ihr die Weltbank zuvorgekommen – sie konnte nicht mehr anders.

Die DB-Indikatoren werden seit 2003 jährlich von der International Finance Corporation (IFC) veröffentlicht, einer internationale Entwicklungsbank, die sich als Teil der Weltbankgruppe auf die Förderung privater Unternehmen spezialisiert hat. Ähnlich dem „Index of Economic Freedom“ der konservativen Heritage Foundation ist der Doing-Business-Index auf Deregulierung getrimmt. Die Einschätzungen ideologischen Ursprungs basieren auf den Lehrsätzen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Die These damals: Rechtsinstitutionen beeinflussen das Wirtschaftswachstum. Länder, die das angelsächsische Common Law übernommen haben, so die These, würden besser abschneiden als Länder mit zivilrechtlichem Ursprung. Galt also als Maßstab, so die unter Ökonomen verbreitete Vorstellung in der Blütezeit von Thatcher und Reagan.

Der DB-Index glich bisher einem globalen Schönheitswettbewerb für Investoren. Die Bewertung der Geschäftsfreundlichkeit berechnet den Abstand zwischen der Leistung einer bestimmten Volkswirtschaft und den „weltbesten Praktiken“, wie sie von der IFC definiert werden. Dieser Abstand dient entsprechend als Grundlage für ein internationales DB-Ranking. Bewertet wird beispielsweise, wie schwierig es ist, ein Unternehmen zu gründen, eine Baugenehmigung, einen Stromanschluss oder einen Geschäftskredit zu bekommen, einen Lieferantenkredit einzutreiben oder sich zu registrieren. Auch der Schutz von privatem Eigentum, die Höhe der Steuerbelastung und die Bedingungen des Außenhandels wurden bewertet.

Laut IFC hat der Index in den letzten Jahren viele Schwellen- und Entwicklungsländer dazu angetrieben, das Geschäftsklima zu verbessern und „regulatorischen Ballast“ abzuwerfen. In der Tat pflegen die Regierungen etlicher Schwellenländer den DB-Index auf ihre Webseiten zu kalibrieren, um Investoren anzuwerben.

Leistungsindikatoren und Rankings sind „politische Zahlen“, die nur vordergründig für eine rationale Entscheidungsfindung stehen.

Die Deregulierung des Arbeitsmarktes – also die Erleichterung der Entlassung von Arbeitnehmern – war zunächst Teil des Schönheitswettbewerbes. Er wurde aber aus dem DB-Ranking gestrichen, nachdem der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IGB) protestierte. Der IGB und zahlreiche Gewerkschaften warfen der Bank vor, sie nutze die DB, um Regierungen dazu zu bringen, niedrigere Mindestlöhne durchzusetzen und die Pflicht zur Vorankündigung von Massenentlassungen abzuschaffen. Während der großen Rezession im Jahr 2009 akzeptierte die Weltbank schließlich die Aussetzung des Indikators der Arbeitsmarktflexibilität.

Laut IFC-Webseite waren die Volkswirtschaften mit den bemerkenswertesten Verbesserungen des Geschäftsklimas beim vorerst letzten DB-Bericht unter anderen Indien, Nigeria und Saudi-Arabien. Neuseeland, Singapur und Hong Kong führen das Geschäftsklima-Ranking 2020 an. Recht weit dahinter liegen zum Beispiel Deutschland (Platz 22), die Schweiz (36) oder die Niederlande (42) – abgeschlagen hinter europäischen Ländern wie etwa Georgien (7), Nord-Mazedonien (17) oder Lettland (19). Wie kommt es zu solch erstaunlichen Ergebnissen?

Zum einen ignoriert der enge Fokus auf die Regulierungspraxis die gesamtwirtschaftliche Stabilität, die nachhaltige Wettbewerbskraft, die Rechtsstaatlichkeit oder den Bildungsstand der Arbeitnehmer. Zudem sind eine wichtige Informationsquelle für den DB-Bericht Umfragen, die von Unternehmensberatern und Anwaltskanzleien durchgeführt werden – und nicht von Unternehmen, die produktive Tätigkeiten ausüben, deren Bedürfnisse sich in der Regel von den ideologischen Prärogativen des Berichts unterscheiden. Drittens wurde die DB-Wertung zunehmend politisch korrumpiert.

Doch Campbells Gesetz hat sich wieder einmal gerächt: Je mehr ein quantitativer Sozialindikator für eine gesellschaftliche Entscheidungsfindung verwendet wird, desto stärker wird er dem Korruptionsdruck ausgesetzt und desto eher wird er geeignet sein, die gesellschaftlichen Prozesse zu verzerren, die er eigentlich überwachen soll. Leistungsindikatoren und Rankings sind „politische Zahlen“, die nur vordergründig für eine rationale Entscheidungsfindung stehen. Politische Vorentscheidungen und zweifelhafte Annahmen bestimmen den Mechanismus, durch den eine zahlengläubige Gesellschaft beständig die Illusion aufrechterhält, Politik sei im Grunde überflüssig, da die richtigen Entscheidungen durch die „Fakten“ bestimmt und der Markt effektiv die Richtung vorgebe.

Anfang 2018 sagte der damalige Chefökonom der Weltbank Paul Romer dem Wall Street Journal, er habe den Glauben an die Integrität des Doing-Business-Index verloren. Das deutete bereits darauf hin, dass der DB politisch manipuliert wurde.

Anfang 2018 sagte der damalige Chefökonom der Weltbank Paul Romer dem Wall Street Journal, er habe den Glauben an die Integrität des Doing-Business-Index verloren. Das deutete bereits darauf hin, dass der DB politisch manipuliert wurde – insbesondere, um die sozialistische Präsidentin Chiles, Michelle Bachelet, in Verlegenheit zu bringen. Fragwürdige methodische Veränderungen hatten dazu geführt, dass Chile auf der Rangliste nach dem Amtsantritt der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet abstürzte, unter ihrem konservativen Nachfolger Sebastián Piñera wieder aufstieg, sich dann umdrehte und wieder abstürzte, als Bachelet 2010 wieder an die Macht kam – all dies nachweislich aufgrund methodischer Tüfteleien und fast ohne grundlegende Änderungen in den tatsächlichen Gesetzen oder der Politik Chiles.

Chile war kein Zufall. Der Aufstieg Indiens in der Doing-Business-Rangliste, den der indische Premierminister Narendra Modi („die größte Demokratie der Welt ist auch die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft“) feierte, erwies sich größtenteils als Artefakt methodischer Veränderungen (ebenso wie die vorgetäuschten Wachstumszahlen Indiens). Indiens Aufstieg im Ranking resultierte ausschließlich auf neu eingeführten Indikatoren. Und nach einem massiven Waffenhandel mit den USA verbesserte Saudi-Arabien seine Rangliste im Doing-Business-Report 2019 deutlich.

Governance-Indikatoren sind nicht nur missbrauchsanfällig. Sie scheitern aus einer Vielzahl von Gründen. Im internationalen Vergleich lässt sich zwar eine Korrelation zwischen „guter Regierungsführung“ und dem Entwicklungsniveau (Pro-Kopf-BIP) finden. Es gibt aber keine Korrelation mit der Geschwindigkeit der Entwicklung, also dem mittel- bis langfristigen Wachstum. Warum? Beliebte Governance-Indikatoren, einschließlich der vom „G20 Compact with Africa“ geförderten wie etwa der Bertelsmann-Transformationsindex, reflektieren eher das Entwicklungsniveau reicher westlicher Volkswirtschaften. Sie bilden weitaus weniger die treibenden Kräfte des institutionellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandels ab. Politiker kümmern sich nicht um solche Nuancen. Sie nutzen internationale Rankings als Argumentationshilfe. Irgendeine Rangliste lässt sich immer zitieren, um die eigene Forderung zu untermauern. Doch hinter den Rankings steht keine exakte Wissenschaft.

Der jüngste Skandal sollte genutzt werden, um künftig einen anderen Ansatz bei den DB-Berichten zu verfolgen, bei dem auch die Entwicklungsperspektive berücksichtigt wird.

Besonders schädlich ist der Schönheitswettbewerb-Indikator (DB), der auf globale Investoren abzielte. Er ermutigte manch arme Länder, Steuersätze niedrig zu halten und nur geringfügig zu regulieren. Der DB veranlasste so die Länder zu einer Art Wettlauf nach unten. Es wurde signalisiert, dass sie im Gegenzug mit ausländischen Direktinvestitionen belohnt würden. Dabei sind für Investoren Stabilität, Verlässlichkeit und regulatorische Klarheit wichtiger als Steuersätze. „Doing Business“ setzt also oft falsche Anreize. Ein Beispiel: Niedrige Steuern werden im Ranking belohnt. Gleichzeitig fordert die Weltbank von Entwicklungsländern eine bessere Mobilisierung heimischer Ressourcen, damit Staaten ihre Ausgaben selbst finanzieren können und nicht von ausländischer Hilfe abhängen. Das eine verträgt sich schlecht mit dem anderen. Ein Land wie Nigeria, dessen Steuern knapp sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen, braucht für seine Entwicklung eher mehr als weniger Steuereinnahmen.

Schon im Jahr 2013 empfahl ein unabhängiges Überprüfungsgremium, eingesetzt vom Exekutivrat der Weltbank und geleitet vom Südafrikaner Trevor Manuel, die Verwendung des DB-Rankings einzustellen. Das Gremium schlug zudem die dauerhafte Streichung der Indikatoren für Arbeitsmarktflexibilität und Steuersätze vor.

Der jüngste Skandal sollte genutzt werden, um künftig einen anderen Ansatz bei den DB-Berichten zu verfolgen, bei dem – vor allem in armen Ländern – auch die Entwicklungsperspektive berücksichtigt wird. Makroökonomische Stabilität, Rechtssicherheit, die Qualität der Infrastruktur, das Bildungsniveau, die Korruption – all dies fehlt bislang im Index. Vorbilder für eine quantitative Gesamtperspektive gibt es mit dem UN-Index für menschliche Entwicklung und dem „Better Life Index“ der OECD. Die Bundesregierung sollte eigene Indikatoren entwickeln und kalibrieren, welche Deutschlands Erfahrungen mit dem Wiederaufbau nach 1948 und der Wiedervereinigung 1990 reflektieren, anstatt blind auf das Urteil der angelsächsisch geprägten Weltbank zu vertrauen.