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Am 26. März 2020 zählte Italien erstmals mehr als 8 000 Todesopfer durch das Coronavirus. Zu diesem Zeitpunkt waren das mehr als doppelt so viele wie irgendwo sonst auf der Welt. Am selben Tag sinnierten Anwälte einer italienischen Kanzlei über mögliche Konzernklagen gegen staatliche Notfall-Maßnahmen zur Eindämmung des Virus und seiner verheerenden wirtschaftlichen Folgen. Ihr Fazit: Die „übereilten und schlecht koordinierten“ Maßnahmen der italienischen Regierung könnten in den Geltungsbereich internationaler Investitionsabkommen fallen – und zu einer Welle teurer Schadenersatzklagen gegen Italien vor privaten Schiedsgerichten führen.
Weltweit ermöglichen über 2 600 Handels- und Investitionsabkommen ausländischen Investoren, Staaten vor privaten Schiedsgerichten zu verklagen, wenn sie ihre weitreichenden Rechte in den Verträgen als verletzt ansehen. Dabei können Konzerne schwindelerregende Summen an Schadensersatz für angebliche Investitionseinbußen fordern – und zwar infolge von Enteignungen aber auch indirekter Schäden durch quasi jegliche Art der Regulierung.
Bekannte Beispiele aus Deutschland sind die beiden Investor-Staat-Klagen des schwedischen Konzerns Vattenfall. In einem ersten Verfahren über 1,4 Milliarden Euro hatte Vattenfall 2010 im Rahmen einer Einigung die Absenkung von Umweltauflagen für das umstrittene Kohlekraftwerk im Hamburger Stadtteil Moorburg erreicht. Seit 2012 läuft die zweite Klage über 6,1 Milliarden Euro Schadenersatz für den beschleunigten Atomausstieg nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Allein die Rechtskosten zur Verteidigung dieser Klage belaufen sich auf Seiten der Bundesregierung bereits auf 20 Millionen Euro.
Inmitten der Corona-Krise bereiten globale Anwaltskanzleien den Boden für Investor-Staat-Klagen gegen Maßnahmen, die Regierungen ergriffen haben, um Leben zu retten, die Pandemie einzudämmen und ihre wirtschaftlichen Folgen abzumildern.
Inmitten der Corona-Krise bereiten globale Anwaltskanzleien nun den Boden für Investor-Staat-Klagen gegen Maßnahmen, die Regierungen ergriffen haben, um Leben zu retten, die Pandemie einzudämmen und ihre wirtschaftlichen Folgen abzumildern. In Webinaren und Publikationen weisen sie ihre Klienten auf die Möglichkeit hin, ihre im Rahmen der Pandemie verlorengegangenen Gewinne auf Basis von Investitionsabkommen wieder einzuklagen. So schrieb die Kanzlei Ropes & Gray im April 2020: „Regierungen haben auf Covid-19 mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, darunter Reisebeschränkungen, Einschränkungen der Geschäftstätigkeit und Steuervorteile. Ungeachtet ihrer Legitimität können sich diese Maßnahmen negativ auf Unternehmen auswirken, indem sie die Rentabilität verringern, den Betrieb verzögern oder die Unternehmen von staatlichen Leistungen ausgeschlossen werden... Für Unternehmen mit ausländischen Investitionen könnten Investitionsabkommen ein wirksames Instrument sein, um Verluste infolge von Covid-19-bezogenen Maßnahmen auszugleichen oder zu verhindern.“
Dabei werden die Kanzleien nicht müde zu betonen, dass viele der über 1 000 weltweit bekannten Investor-Staat-Klagen infolge von Wirtschaftskrisen wie der argentinischen Finanzkrise Anfang der 2000er Jahre oder politischen Umbrüchen wie dem Arabischen Frühling Anfang der 2010er Jahre entstanden sind. Die Corona-Pandemie könnte nun eine erneute Klagewelle lostreten.
Die Palette staatlicher Schutzmaßnahmen, die Kanzleien ins Visier nehmen, ist breit. So könnten ausländische Versorgungsunternehmen Länder wie El Salvador, Bolivien, Kolumbien oder Argentinien verklagen, weil sie verfügt haben, dass Haushalte in der Pandemie weiter Zugang zu Wasser zum Händewaschen haben sollen – auch dann, wenn Rechnungen nicht bezahlt werden können. Im Ausland registrierte Immobilienfirmen könnten Länder verklagen, die Mieterinnen und Mieter schützen, die aufgrund von Krankheit oder krisenbedingtem Jobverlust ihre Miete nicht zahlen können. „Während diese Maßnahmen den Schuldnern helfen, wirken sie sich unweigerlich auf die Gläubiger aus, indem sie Einkommensverluste verursachen,“ erklärt die Kanzlei Shearman & Sterling die Rationalität möglicher Corona-Klagen.
Auch Preis-Obergrenzen für Medikamente und die Lockerung des Patentschutzes zur Entwicklung eines günstigen Impfstoffs könnten Unternehmen vor Schiedsgerichten als vermeintliche Enteignung anfechten.
Auch Preis-Obergrenzen für Medikamente und die Lockerung des Patentschutzes zur Entwicklung eines günstigen Impfstoffs könnten Unternehmen vor Schiedsgerichten als vermeintliche Enteignung anfechten. Gleiches gilt für finanzpolitische Maßnahmen wie Kapitalverkehrskontrollen zur Eindämmung destabilisierender Geldabflüsse sowie Schuldenerlasse und Umschuldungen, zu denen Staaten im Kontext der Corona-Wirtschaftskrise gezwungen sein könnten.
Solche Konzernklagen können öffentliche Haushalte massiv belasten. Die Rechtskosten belaufen sich im Schnitt auf 5 Millionen Euro pro Partei, können aber weit höher liegen. Selbst Staaten, die nicht verlieren, bleiben nicht selten auf ihren Anwaltskosten sitzen. So musste Australien die Hälfte seiner Kosten in der Philip Morris Klage gegen Anti-Tabak-Gesetze tragen, obwohl ein Schiedsgericht die Klage wegen missbräuchlichen Verhaltens des Konzerns abgewiesen hatte. Verliert eine Regierung, wird es noch teurer. Bis Ende 2018 wurden Staaten zur Zahlung von insgesamt 88 Milliarden Dollar verurteilt – das ist das 18-fache des Budgets der Weltgesundheitsorganisation für das Jahr 2020. Dabei bezieht sich die Zahl nur auf die bekanntgewordenen Fälle, bei denen eine Schadenersatzsumme überhaupt öffentlich gemacht wurde.
In einem Papier zu „Investor-Staat-Klagen bei Covid-19-Verlusten“ nennt die Kanzlei Sidley einen der Gründe, warum die Verfahren Staaten derart teuer zu stehen kommen können: Im Investitionsrecht sind unter bestimmten Umständen nicht nur tatsächlich investierte Beträge schadensersatzpflichtig, also die tatsächlichen Kosten eines Investors, sondern auch entgangene zukünftige Gewinne. Da andere Rechtssysteme i.d.R. keinen Schadensersatz für völlig hypothetische entgangene zukünftige Gewinne vorsehen, können Investor-Staat-Schiedssprüche für Unternehmen wesentlich lukrativer ausfallen als Entscheidungen ordentlicher Gerichte.
Warum sind Investoren und ihr Wunsch nach sprudelnden Gewinnen stärker geschützt als die staatliche Pflicht zum Schutz der Gesundheit und eines angemessenen Lebensstandards?
Auch seine Einseitigkeit macht das internationale Investitionsrecht zu einem für Profitinteressen günstigen Rechtssystem. Investitionsabkommen schreiben Rechte, aber keine Pflichten für ausländische Investoren fest. Die sie auslegenden Schiedsgerichte folgen keinem im Verfassungsrecht über Jahrzehnte gewachsenen Eigentumskompromiss, der die soziale Funktion von Eigentum anerkennt und es mit anderen gesellschaftlichen Interessen abwägt. Zudem neigen Schiedsgerichte dazu, staatliche Entscheidungsspielräume stärker einzuschränken als demokratisch legitimierte Gerichte, die als Ausdruck von Gewaltenteilung und Achtung vor dem demokratischen Souverän Regierungen und Parlamenten bei der Behandlung komplexer politischer Fragen einen weiten Ermessensspielraum einräumen.
Die Notwendigkeit, Investor-Staat-Klagen zu verhindern war selten so klar wie zur heutigen Zeit, in der die internationale Staatengemeinschaft nicht nur mit einer globalen Gesundheits-, sondern auch einer Weltwirtschaftskrise kämpft. Deshalb fordern Expertinnen und Experten um den US-Ökonomen und früheren Harvard-Professor Jeffrey Sachs ein sofortiges Klagemoratorium – sowie eine dauerhafte Beschränkung von Investor-Staat-Verfahren gegen Covid-19-Notfallmaßnahmen. Ein Entwurf für eine entsprechende internationale Vereinbarung wird bereits diskutiert.
Weiterreichende Schritte haben Staaten wie Südafrika, Indonesien und Indien vollzogen, die bereits einige ihrer bilateralen Investitionsverträge aufgekündigt haben. Erst kürzlich haben auch 23 EU-Staaten, darunter Deutschland, einen Vertrag unterzeichnet, der etwa 130 innereuropäische Investitionsabkommen beenden wird, die der Europäische Gerichtshof für illegal erklärt hatte.
Die Corona Krise stellt wie keine andere die Legitimationsfrage an ein paralleles Rechtssystem, das einige der Reichsten in unserer Gesellschaft besserstellt als alle anderen. Warum sind Investoren und ihr Wunsch nach sprudelnden Gewinnen stärker geschützt als die staatliche Pflicht zum Schutz der Gesundheit und eines angemessenen Lebensstandards? Was ist die Rechtfertigung für ein Sonderrecht, nach dem wohlhabende Wirtschaftsakteure eine günstigere Behandlung erfahren als all diejenigen, die schon jetzt besonders stark unter der Pandemie und ihren Folgen leiden?
Diese Fragen bringen die schreiende Ungerechtigkeit der Sonderklagerechte für Konzerne auf den Punkt. In der jetzigen Krise darf es für diese Sonderrechte keinen Platz geben.