Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch.

Zu unseren dringendsten Aufgaben gehört es heute, den Aufstieg des Populismus zu verstehen. Auf der Suche nach Erklärungen sehnen sich viele nach einfachen, unkomplizierten Antworten. Wollen wir das Phänomen aber wirklich durchschauen, wird uns der Drang zur Vereinfachung in die Irre führen.

Meist konzentrieren sich Erklärungsversuche zum Populismus auf wirtschaftliche oder soziale Sorgen, die der Grund dafür seien, dass manche Bürger populistische Parteien wählen. So argumentieren Ökonomen, Globalisierung, stagnierende Einkommen, der Rückgang gut bezahlter Produktionsjobs, zunehmende Ungleichheit und wachsende Gräben zwischen dynamischen Metropolregionen, stagnierenden Mittelstädten und dem ländlichen Raum hätten dazu geführt, dass sich immer mehr Wähler „abgehängt“ fühlen. Die Finanzkrise habe diese Trends beschleunigt und diese Wählerinnen und Wähler dazu getrieben, extreme Parteien zu wählen.

Sozialwissenschaftler hingegen, insbesondere jene, die die Vereinigten Staaten untersuchen, bevorzugen häufig Erklärungen, bei denen die Sorgen sozialer Natur sind. Sie argumentieren, die Mobilisierung von Frauen und Minderheiten habe ethnische und geschlechtsbezogene Hierarchien in Frage gestellt, was insbesondere unter weißen Männern zu einer Gegenreaktion geführt habe. Die „Flüchtlingskrise“ in Europa und die Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten der USA hätten bei vielen Wählern Wut und Ängste ausgelöst und sie in die Arme von Populisten getrieben, die versprechen, ihre Interessen zu schützen.

Eine naheliegende Ursache für den Populismus mag tatsächlich die „kulturelle Reaktion“ gegen soziale Veränderungen sein. Doch das greift zu kurz.

Erklärungsversuche, die sich auf soziale oder wirtschaftliche Sorgen konzentrieren, bieten – jeweils für sich genommen – wichtige Einsichten in den Populismus. In der Realität spielen beide eine Rolle und wirken auf komplexe Weise aufeinander ein. Beispielsweise steigt die Tendenz, Einwanderer und Minderheiten als Sündenböcke zu missbrauchen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten an, wenn sich insbesondere gering verdienende Bürger vor Arbeitslosigkeit und vor dem Wettbewerb um knappe öffentliche Ressourcen wie Wohnraum oder Sozialleistungen fürchten.

Außerdem werden soziale Werte der Menschen durch ihre finanzielle Lage und ihre wirtschaftliche Umgebung geprägt. Es überrascht nicht, dass Wählerinnen und Wähler der „neuen“ Mittelklasse, die in diversifizierten Städten leben und eine Beschäftigung haben, bei der sie regelmäßig mit anderen gut ausgebildeten Menschen zusammentreffen, sozial progressiv eingestellt sind, während Wähler der Arbeiterklasse sozial konservativer sind.

Die naheliegende Ursache für den Populismus mag tatsächlich die „kulturelle Reaktion“ gegen soziale Veränderungen sein. Doch das greift zu kurz. Pippa Norris und Ronald Inglehart haben die Daten des World Values Survey aus vielen Jahrzehnten untersucht. Ihrer Auffassung nach ist es unmöglich zu verstehen, warum Wähler für Fremdenfeindlichkeit und reaktionäre soziale Ansichten anfällig geworden sind, solange der Einfluss wirtschaftlicher Unsicherheit unberücksichtigt bleibt.

Aber wie weit diese Erklärungen auch reichen mögen: Beziehen sie sich lediglich auf wirtschaftliche oder sonstige Sorgen, also die „Nachfrageseite“ der Politik, müssen sie unvollständig bleiben. Sorgen oder – allgemeiner - Einstellungen und Vorlieben lassen sich nicht einfach oder unmittelbar in politische Ergebnisse übersetzen. Stattdessen werden sie erst dann politisch bedeutsam oder machtvoll, wenn sie durch Politiker oder Parteien mobilisiert und organisiert werden. Mit anderen Worten: Um den Populismus zu verstehen, müssen wir auch die „Angebotsseite“ der Politik betrachten, nämlich die Natur und das Verhalten von Politikern, Parteien und anderen wichtigen politischen Akteuren.

Populisten geben einfache Antworten. Die Linke dagegen neigt dazu, „abstrakte, intellektuelle Ideen“ und komplizierte Erklärungen anzubieten.

Es liegt auf der Hand, mit den populistischen Parteien selbst zu beginnen. Ob sie Ängste für sich nutzen oder Wähler anziehen können, hängt davon ab, wie sie sich der Öffentlichkeit präsentieren. Die meisten populistischen Parteien begannen als neofaschistische oder ähnlich demokratiefeindliche Bewegungen oder sie hatten ihre Wurzeln dort. Aber Parteien mit einem solchen Erscheinungsbild wurden von den Wählern durchgängig abgelehnt.

Die rechtsextremen Parteien konnten erst dann mehr Stimmen gewinnen, als sie ihre Positionen mäßigten – als sie Neofaschismus durch Fremdenfeindlichkeit ersetzten und begannen, die Demokratie zu akzeptieren, wobei sie sich manchmal sogar zu Vorreitern der Demokratie stilisierten. Zu ihrem Erfolg hat sicher auch beigetragen, dass sie auf komplexe Probleme wie Einwanderung einfache, klare Antworten geben. Die Linke dagegen neigt dazu, „abstrakte, intellektuelle Ideen“ und komplizierte Erklärungen anzubieten. Und langfristig können populistische Parteien erst dann mehr Wählerinnen und Wähler anziehen und mobilisieren, wenn sie intern besser organisiert sind, weniger streiten und über stärkere Anführer sowie engagierte und erfahrene Aktivisten verfügen.

Aber lediglich populistische Parteien unter die Lupe zu nehmen, reicht nicht aus: Ihr Erfolg hängt nicht nur von ihrem eigenen Verhalten ab, sondern auch von dem der anderen Parteien. Nach Ansicht mancher Forscher spielt es auch eine Rolle, ob die traditionellen Parteien eine herablassende (ignorierende), anpassungsfähige (durch Übernahme und Kopie gekennzeichnete) oder feindselige (also direkt ablehnende) Einstellung gegenüber den Lieblingsthemen der Populisten an den Tag legen.

Noch bedeutsamer für die Erklärung ihrer Erfolge scheint allerdings das politische Profil der traditionellen Parteien zu sein – oder vielmehr ihre Beziehungen untereinander. Laut wissenschaftlicher Untersuchungen blühen Populisten besonders dann auf, wenn die Programme der Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien ineinander übergehen, und auch große Koalitionen zwischen der gemäßigten Linken und Rechten scheinen zu populistischen Wahlerfolgen zu führen.

Dreht sich der politische Wettbewerb um soziale Themen wie Identität, Einwanderung oder Multikulturalismus, profitieren davon die Grünen und rechtsextreme Populisten.

Als sich die Mitte-Links-Parteien in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wirtschaftspolitisch mehr zur Mitte hin bewegten, wurde ihr Einfluss auf die Arbeiterklasse schwächer. Daraufhin rückten die rechtspopulistischen Parteien, die zunächst eine eher konservative oder neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt hatten, nach links, um diese Wähler für sich zu gewinnen.

Während das wirtschaftliche Profil der gemäßigten Linken unschärfer wurde, verstärkte sich auch die Tendenz, soziale statt wirtschaftliche Themen zu betonen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern folgerte daraus, dass die Politiker dort, wo linke Parteien marktfreundliche, neoliberale Reformen durchführten, bei den Wahlen nicht mehr um wirtschaftliche Themen konkurrieren konnten. So gingen sie dazu über, eine „einzige, mächtige soziokulturelle Spaltung“ zu konstruieren, auf die sie „bedeutsame programmatische Unterschiede projizieren konnten, um damit Wähler anzuziehen“. Ebenso kam eine länderübergreifende Studie über die Veränderung der ökonomischen Profile der Parteien zu dem Ergebnis, dass es sich im Zuge der immer stärkeren wirtschaftspolitischen Ähnlichkeit der Parteien anbot, als attraktive „Überlebensstrategie“ nicht-wirtschaftliche Themen zu politisieren. „Die Strategie, den Wettbewerb auf einen neuen Themenbereich zu verlagern, ermöglichte es den Parteien, sich besser voneinander abzugrenzen und damit Wahlverluste aufgrund mangelnder Unterscheidbarkeit zu verhindern.“

Damit bekommt die traditionelle Linke natürlich ein Problem: Dreht sich der politische Wettbewerb mehr um soziale Themen wie nationale Identität, Einwanderung oder Multikulturalismus, profitieren davon hauptsächlich neue linke Parteien wie die Grünen und rechtsextreme Populisten. Dies liegt daran, dass solche Themen am stärksten mit diesen neuen Parteien in Verbindung gebracht werden – und dass dies die Themen sind, auf die sich ihre Stammwähler (also progressive, gut ausgebildete Fachkräfte auf der einen und Wählerinnen und Wähler der Arbeiter- und unteren Mittelklasse auf der anderen Seite) am leichtesten einigen können.

Albert Einstein sagte einmal, Politik sei „schwieriger als Physik“. Dabei bezog er sich auf die Schwierigkeit, Lösungen für drängende politische Probleme zu finden. Aber seine Bemerkung trifft auch zu, wenn man lediglich versucht, politische Phänomene zu verstehen. Einfache Lösungen sind zwar intellektuell und psychologisch befriedigend. Um den Populismus zu verstehen, müssen wir uns aber der komplexen Wirklichkeit stellen und Erkenntnisse aus einer Vielzahl von Perspektiven miteinander in Einklang bringen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.