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Vor einigen Tagen war ich bei einem Konzert. Normalerweise ist dieses Konzerthaus bis unters Dach ausverkauft, aber an jenem Tag war es halbleer. Die Aufführung war jedoch ganz hervorragend und am Ende stand das Publikum auf und bedankte sich bei den Musikern mit einem langanhaltenden Applaus. Damit wollten wir nicht nur das fehlende Publikum wettmachen, wir nutzten auch den Beifall als Maßstab unserer Anerkennung. Wir klatschten nicht einfach höflich, als wäre es eine digitale 1-0-Variable – klatschen oder nicht klatschen –, sondern brachten damit die Stärke unserer Empfindung zum Ausdruck.

In Demokratien hat derzeit jeder Mensch bei jeder Wahl oder Volksabstimmung nur eine einzige Stimme. Wenn wir uns dazu entscheiden, diese Stimme zu nutzen, ist sie binär: Sie zeigt, dass wir eine Wahlmöglichkeit einer anderen vorziehen. Aber sie sagt nichts darüber aus, wie sehr wir eine der Optionen bevorzugen.

Gewichtete Abstimmungen würden hier Abhilfe schaffen. Sollte Menschen, denen ein Thema besonders am Herzen liegt, nicht die Möglichkeit haben, dies zum Ausdruck zu bringen? Sollten sie nicht ein Zeichen setzen können, dass ihnen dieses eine Thema ein weit größeres Anliegen ist als jedes andere bzw. ein weit größeres Anliegen als allen anderen Menschen, die diesen Fragen oder den Optionen vielleicht gleichgültig gegenüberstehen?

Die Lösung besteht darin, allen Menschen die gleiche Anzahl an Stimmen zu geben, die sie über mehrere Wahlen verteilt frei einsetzen können, je nachdem wie wichtig ihnen eine bestimmte Wahl ist.

Im Prinzip ist das erstrebenswert, aber wie ist das mit dem Grundsatz der gleichen Stimmkraft für alle vereinbar? Wenn es den Menschen erlaubt wäre zu entscheiden, wie viele Stimmen die Stärke ihrer Präferenzen widerspiegeln, würde sich jemand möglicherweise für fünf oder gar zehn Stimmen entscheiden, während andere vielleicht lediglich eine Stimme haben.

Die Lösung besteht darin, allen Menschen die gleiche Anzahl an Stimmen zu geben, die sie über mehrere Wahlen verteilt frei einsetzen können, je nachdem wie wichtig ihnen eine bestimmte Wahl ist. Das wäre wie in einem Casino, in dem jeder zehn Spielchips bekommt: Man kann sie alle schon in der ersten Runde einsetzen oder einen nach dem anderen in zehn Runden. So wird die Gleichheit unter den Stimmberechtigten gewahrt, während diese gleichzeitig ihren Vorlieben Nachdruck verleihen können.

In den frühen Demokratien gab es eine Stimmengewichtung – allerdings in einem ganz anderen Sinn: Nur bestimmte Menschen hatten überhaupt das Wahlrecht. In den griechischen Stadtstaaten und in den USA vor dem Bürgerkrieg war das Wahlrecht den freien (nicht versklavten) Männern vorbehalten. In einigen US-Bundesstaaten war das Wahlrecht zusätzlich durch einen Vermögenszensus (gemessen an der Größe des Besitzes oder den gezahlten Steuern) eingeschränkt. So ein Zensuswahlrecht herrschte im 19. Jahrhundert in allen Ländern, die im weitesten Sinne als demokratisch zu erachten sind. Zudem waren Frauen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in allen entwickelten Ländern von den Wahlen ausgeschlossen. Gewichtete Abstimmungen gibt es heute nur noch in einigen internationalen Organisationen wie dem IWF. Bei solch einer Stimmengewichtung ging und geht es darum, den Einzelnen (bzw. der betreffenden Einheit, einem Land) nicht dieselbe Bedeutung wie anderen einzuräumen.

In den heutigen Demokratien herrscht das Wahlsystem „eine Person – eine Stimme“. Das ist zwar ein egalitäres Wahlrecht, es lässt aber nicht zu, die Präferenzstärken zum Ausdruck zu bringen. Ein gewichtetes Abstimmungsverfahren, also eine Person – mehrere Stimmen, würde dieses Problem lösen.

Was bleibt denjenigen, die sich engagiert einsetzen wollen, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, ihrer Stimme mehr Gewicht zu verleihen? Ziviler Ungehorsam, Aufruhr oder Revolution.

Und es ist kein geringes Problem. Sei es, man ist (in den USA) ein starker Unterstützer oder aber heftiger Gegner von Donald Trump, sei es, man ist (in Großbritannien) entschieden für oder gegen den Brexit: Ich denke, es ist klar, dass man gern die Chance hätte, seiner Überzeugung mehr Gewicht zu verleihen. Bei einer Stimmengewichtung könnte man das tun: Man könnte die lokalen Wahlen oder ein Referendum, das einem gleichgültig ist, auslassen und seine Stimmen aufbewahren, um sie alle für oder gegen Trump bzw. für oder gegen den Brexit einzusetzen.

Was bleibt denjenigen, die sich engagiert für bestimmte Themen einsetzen wollen, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, ihrer Stimme mehr Gewicht zu verleihen? Im Grunde nichts anderes als ziviler Ungehorsam, Aufruhr oder Revolution.

Häufig heißt es, Revolutionen seien Minderheitensache. Bei einem Eine-Person-eine-Stimme-Wahlsystem hätte es (vermutlich) weder den Unabhängigkeitskrieg in den USA noch die russische Revolution gegeben. Dass sie passierten, ist darauf zurückzuführen, dass denjenigen, denen die Fragen wirklich wichtig waren, letztlich nur der Rückgriff auf Gewalt blieb. Anders als die Unentschlossenen waren die Revolutionäre bereit, für ihre Sache zu sterben, was gewissermaßen die ultimative Stimmengewichtung ist. Aber heute sollten wir in der Lage sein, es besser zu machen – ohne Blutvergießen.

In ihrem kürzlich erschienenen großartigen Buch Radical Markets: Uprooting Capitalism and Democracy for a Just Society schlagen Eric Posner und Glen Weyl eine Sonderform der Stimmengewichtung vor, das „quadratische Voting“, bei dem jede Person eine bestimmte Anzahl von Stimmen hat. Entscheidet sie sich allerdings, die Stimmen zu horten und alle in einer Wahl abzugeben, würde sich die Stimmkraft dieser Stimmen reduzieren.

Das System des quadratischen Voting würde die Gleichheit unter den Bürgern und Bürgerinnen sicherstellen.

Angenommen, Sie und ich hätten jeweils neun Stimmen, wobei ich mich entscheiden würde, sie auf neun Wahlen zu verteilen, Sie diese Stimmen aber alle für eine Wahl aufbewahren würden, an der Ihnen besonders viel liegt. Nach dem Prinzip des quadratischen Voting läge meine Stimmkraft bei neun (neun mal eins); Ihre dagegen läge nur bei drei (der Quadratwurzel von neun – daher der Name „quadratisches Voting“).

Das System des quadratischen Voting würde die Gleichheit unter den Bürgern und Bürgerinnen sicherstellen und es ermöglichen, den Präferenzstärken Ausdruck zu verleihen, dabei aber eine Konzentration auf nur ein Thema (oder wenige) bestrafen. Natürlich sind viele Formen der Stimmengewichtung möglich, einschließlich der einfachsten, bei der jede Stimme dieselbe Stimmkraft hat.

Die Probleme liegen woanders: Sollten die Menschen eine gleiche Anzahl von Stimmen für (beispielsweise) vier Jahre oder für einen längeren Zeitraum bekommen? Und vor allem: Da die Stimmberechtigten gar nicht wissen, welche Wahlen auf sie zukommen – oder (beispielsweise) wer die Kandidaten bei den nächsten US-Präsidentschaftswahlen 2020 sein werden – wie sollen sie da die relative Wichtigkeit einer Wahl gegenüber einer anderen beurteilen können?

Wir sollten in der Lage sein, ein System zu erdenken, das es ermöglicht, Präferenzen nicht nur als binäre Wahlmöglichkeiten auszudrücken.

Angenommen Sie wären ein entschiedener Gegner von Trump, hätten aber all ihre Stimmen schon in der Wahl von 2016 aufgebraucht und daher keine mehr für 2020 übrig. Damit würden sie überhaupt nicht mehr zählen. Oder nehmen wir dagegen an, Ihnen wäre es bei den Wahlen von 2016 egal gewesen und Sie hätten eine Menge Stimmen angehäuft, die nun bei einer möglicherweise sehr engen Wahl im Jahr 2020 besonders wertvoll sein könnten. Was sollten Sie tun? Sie allein, so gleichgültig Ihnen auch alles ist, wären nun so wertvoll wie zehn andere engagierte, aber stimmenlose Personen.

Ebenso wenig löst die Gewichtung von Stimmen das Problem, wer überhaupt wahlberechtigt ist. Über den politischen Status von Territorien, die nach Unabhängigkeit streben, kann nicht durch Stimmengewichtung entschieden werden, bevor nicht vereinbart wurde, wer stimmberechtigt ist (nur das betroffene Territorium oder die größere Einheit).

Es gibt noch viele andere denkbare Probleme. Und doch ist die grundlegende Wahrheit über ein gewichtetes Abstimmungsverfahren nach wie vor unbestreitbar: Wir sollten in der Lage sein, ein System zu erdenken, das es ermöglicht, Präferenzen nicht nur als binäre Wahlmöglichkeiten auszudrücken, sondern voll und ganz, einschließlich der zugrundeliegenden Stärke unserer Empfindung. Um noch einmal auf das Beispiel des Konzerthauses zurückzukommen: Wir sollten in der Lage sein, diejenigen mit einem länger als gewöhnlichen Applaus zu belohnen, die wir bewundern.

Aus dem Englischen von Ina Görtz

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.