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Hat wirklich jemand gedacht, der Club der reichen Länder, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), sei in der Lage, Lösungen für den Steuermissbrauch durch multinationale Konzerne zu entwickeln? Sieben Jahre, nachdem die G20, also die 20 führenden Volkswirtschaften der Welt, die OECD mit einer Revision des internationalen Steuersystems beauftragt hat, kam von dieser kürzlich eine Reihe von Vorschlägen, die so komplex wie enttäuschend sind.

Zu Beginn des Jahres herrschte noch ein gewisser Optimismus: Erstmals hatten sich die Länder darauf geeinigt, dass Unternehmen ihre Steuern dort zahlen sollen, wo sich ihre Kunden, Fertigungsstätten und Beschäftigten befinden, und nicht in Steueroasen, in denen sie einen Briefkasten gemietet haben. Doch am Ende der Verhandlungen sieht es aus, als wäre das nur viel Lärm um nichts gewesen. Überraschen dürfte das niemanden. Zwar hatte die OECD ihren Anspruch, für alle zu sprechen, zu legitimieren versucht, indem sie unter Einbeziehung der Entwicklungsländer einen „integrativen Rahmen“ schuf. Doch von den 137 Nationen, die am Verhandlungstisch saßen, hatten nur die G7-Länder – in denen die großen multinationalen Konzerne und ihre Lobbyisten zu Hause sind – eine Stimme. Nach den Lösungsvorschlägen der OECD könnten folgerichtig die Finanzströme fast ungehindert weiter in Steueroasen fließen, und die geringen Steuermittel, die zurückgeholt werden, kämen vor allem reichen Ländern zugute.

Diese Situation, die schon vorher skandalös war, ist in einer Zeit, in der die Coronapandemie weltweit Verheerungen anrichtet, einfach unerträglich. Nachdem jahrzehntelang die Haushalte gekürzt wurden, tun sich staatliche Einrichtungen schwer, der Notlage Herr zu werden. Dabei verlieren die Staaten jedes Jahr mehr als 427 Milliarden US-Dollar an Steueroasen, so der Bericht „The State of Tax Justice 2020“, den das Tax Justice Network, Public Services International und die Global Alliance for Tax Justice soeben veröffentlicht haben.

Weltweit belaufen sich die abgezweigten Steuern auf 9,2 Prozent des Gesundheitsbudgets, das entspricht den Gehältern von 34 Millionen Krankenschwestern und Pflegern.

Dieser Bericht beziffert nicht nur Land für Land den finanziellen Verlust, den der Steuermissbrauch durch Unternehmen und Privatleute anrichtet, sondern auch dessen erschreckende Auswirkungen auf die Gesundheitsausgaben. Weltweit belaufen sich die abgezweigten Steuern auf 9,2 Prozent des Gesundheitsbudgets, das entspricht den Gehältern von 34 Millionen Krankenschwestern und Pflegern. Noch verheerender sind die Folgen in den Entwicklungsländern, in denen der Fehlbetrag 52,4 Prozent der Gesundheitsausgaben beträgt. Großbritannien verliert jedes Jahr fast 40 Milliarden Dollar, das entspricht jährlich pro Kopf der Bevölkerung einer Summe von 607 US-Dollar. Der Verlust entspricht 18,72 Prozent des britischen Gesundheitsbudgets beziehungsweise jährlich den Gehältern von etwa 840 000 Beschäftigten in der Pflege.

Krankenhäuser brauchen mehr Geld. Das Bildungssystem braucht mehr Geld. Kleine Unternehmen, die kurz vor dem Bankrott stehen, brauchen mehr Geld. Und jemand wird die Rechnung bezahlen müssen. Deshalb müssen diese Mittel dringend dort eingetrieben werden, wo sie versteckt wurden, nämlich in Steueroasen. Und da die OECD nicht in der Lage ist, Reformen anzustoßen, muss die Europäische Union aktiv werden, unter anderem mit der Einführung eines effektiven Mindeststeuersatzes auf Unternehmensgewinne.

In der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung(ICRICT), der neben mir auch Ökonomen wie Joseph Stiglitz, Thomas Piketty und Gabriel Zucman angehören, gehen wir von einem Mindeststeuersatz von 25 Prozent aus. Sogar der designierte US-Präsident Joseph Biden plädiert für einen globalen Mindestsatz von 21 Prozent. Ein niedrigeres Niveau – einige Staaten sprechen sich für 12,5 Prozent aus – würde in der Unternehmensbesteuerung eine Abwärtsspirale in Gang setzen und einen weiteren Rückgang der Steuereinnahmen nach sich ziehen.

Natürlich gibt es auch in der EU starken Widerstand, und das hat einen einfachen Grund: Wer mit dem Finger auf kleine Karibikinseln zeigt, blendet aus, dass es auch in Europa Steueroasen gibt.

Natürlich gibt es auch in der EU starken Widerstand, und das hat einen einfachen Grund: Wer mit dem Finger auf kleine Karibikinseln zeigt, blendet aus, dass es auch in Europa Steueroasen gibt. Großbritannien und seine Überseegebiete, die gern als „Spinnennetz“ bezeichnet werden, verantworten laut State of Tax Justice 29 Prozent der weltweit 245 Milliarden Dollar Steuerausfall durch den Steuermissbrauch von Unternehmen. In der EU gibt es weitere Beispiele, so stehlen beispielweise die Niederlande ihren EU-Nachbarn umgerechnet 10 Milliarden Dollar. Und damit sind sie nicht allein: Luxemburg, Irland, Zypern und Malta tun dasselbe.

Diese Staatengruppe blockiert seit Jahren jede Reform, indem sie sich die erforderliche Einstimmigkeit in Steuerfragen zunutze macht. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat indes eine mächtige Waffe, die ihr weiterhelfen könnte. Mit Artikel 116 des EU-Vertrags, der gleiche Wettbewerbsregeln unter den Staaten fordert – und diese werden durch das Steuerdumping verletzt –, ließe sich das Gebot der Einstimmigkeit umgehen und so dem Abziehen von Steuermitteln durch bestimmte Staaten ein Ende setzen. Ursula von der Leyen hat den nötigen politischen Einfluss und wohl auch die Unterstützung Deutschlands, das bis Jahresende den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehat und zu den Ländern gehört, die am stärksten von Steuermissbrauch betroffen sind. Falls die Zeit knapp wird, kann Portugal, das im Januar den Vorsitz übernimmt, die Aufgabe fortführen.

Ideal wäre eine Initiative der Kommission, die sich global auswirken würde, da Europa ein Schlüsselmarkt für multinationale Konzerne ist. Falls eine solche Initiative ausbleibt, könnten Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien und andere Länder den Mechanismus der „Verstärkten Zusammenarbeit“ nutzen, der eine Gruppe von mindestens sieben Ländern voraussetzt und mit dem beispielsweise die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft erwirkt wurde. Angesichts der zweiten Welle der Coronapandemie, die derzeit ganz Europa in die Knie zwingt, und der Gefahr, dass mit dem Brexit eine noch mächtigere Steueroase entstehen könnte, darf der Status quo nicht einfach hingenommen werden.