Auf der Münchner Sicherheitskonferenz prallten zwei radikal unterschiedliche Ordnungsvorstellungen aufeinander. Dieser Moment könnte in die Geschichtsbücher eingehen als das endgültige Ende der liberalen Weltordnung – ein Punkt, an dem die Erosion der liberalen Hegemonie auch innerhalb der westlichen Demokratien nicht länger zu übersehen war.
Im Kern hatte J.D. Vance, der amerikanische Vizepräsident, zwei Botschaften für die Europäer. Erstens, die USA unterziehen ihr Regierungssystem einem radikalen Umbau – und sie erwarten dasselbe von ihren europäischen Verbündeten. Zweitens, bleibt dieser Wandel in Europa aus, bricht das gemeinsame Wertefundament der transatlantischen Partnerschaft weg – und mit ihm die amerikanische Sicherheitsgarantie.
Die europäischen Reaktionen waren aufschlussreich. Erstaunlich viele Kommentatoren erfassten nicht, wie epochal die Botschaft des Amerikaners war, und werteten sie als unverschämte Einmischung in europäische Angelegenheiten – vorgetragen von einem Mitglied der Trump-Regierung, die als „rechts“ und damit als „böse“ gilt. Böse Zungen könnten einwenden, dass dies ignoriert, dass aus Sicht des Imperators die Angelegenheiten der Vasallen innere Angelegenheiten sind. So bezeichnete Trump den Premierminister des souveränen Staates Kanada, Justin Trudeau, als „Gouverneur“ – wie den Statthalter einer amerikanischen Provinz.
Klügere Beobachter erkannten hingegen, dass es sich nicht um ein Gespräch unter gleichberechtigten Partnern handelte, sondern um die ultimative Drohung eines Schutzpatrons: Entweder Europa folgt dem vorgegebenen Kurs, oder es steht künftig schutzlos russischen Aggressionen gegenüber. Einige spekulierten sogar, ob die USA nicht bewusst die Zerschlagung der Europäischen Union anstreben, um es amerikanischen Oligarchen zu erleichtern, die europäischen Zwergstaaten einzeln unter Druck zu setzen.
Die Europäer müssen künftig die Hauptlast der konventionellen Sicherung ihres Kontinents selbst tragen.
Der geopolitischen Lesart ist wenig hinzuzufügen. Tatsächlich stellen die USA das transatlantische Bündnis, das über 80 Jahre eine zentrale Säule der (west-)europäischen Sicherheitsarchitektur war, offen infrage. Selbst wenn dieses Bündnis erneuert wird – und die Zweifel daran sind an sich schon genug, um die Abschreckungsfähigkeit gegenüber äußeren Gegnern zu erschüttern –, bleibt der Preis hoch: Die Europäer müssen künftig die Hauptlast der konventionellen (und möglicherweise nuklearen) Sicherung ihres Kontinents selbst tragen. Amerika wird sich vollständig auf den Hegemoniekonflikt mit China konzentrieren.
Auf globaler Ebene sind die USA nicht länger bereit, das Geflecht multilateraler Institutionen und des Völkerrechts, das sie selbst einst als regelbasierte, liberale Weltordnung bezeichneten, als Weltpolizist zu garantieren. Damit ist nicht nur die Blockade des UN-Systems vorprogrammiert, sondern es steht auch die Offenheit der Weltwirtschaft infrage. Der Hegemon erklärt also die von ihm geschaffene Ordnung für obsolet. Für die Europäer – deren Miniaturarmeen bewusst mit der amerikanischen Militärmaschine verflochten sind und deren Exportökonomien von globalen Lieferketten abhängen – verändern sich dadurch grundlegend die Bedingungen für Sicherheit und Wohlstand.
Was jedoch noch unzureichend beleuchtet wird, ist der fundamentale Zusammenprall zweier radikal unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen. Oder anders gesagt: Während viele erst allmählich begreifen, dass die liberale Ordnung an ihr Ende gelangt, bleibt unklar, durch welche neue Ordnung sie eigentlich ersetzt werden soll. Es ist daher kein Zufall, dass es vielen Europäern und progressiven Amerikanern schwerfällt, zu entschlüsseln, was die US-Regierung tatsächlich meint. Denn das Vokabular dieser neuen Ordnungsvorstellung ist uns noch fremd.
So wurden hierzulande die Vorstöße des amerikanischen Präsidenten, Grönland, Panama und Kanada zu annektieren, als bizarre Provokationen abgetan. Dahinter könnte jedoch die Wiederbelebung der Monroe-Doktrin stehen – also der Rückzug der amerikanischen Großmacht in die von ihr dominierte westliche Hemisphäre. In Kombination mit der Bereitschaft, die Ukraine faktisch Russland zu überlassen, zeichnet sich ein Denken in Einflusssphären ab, das Europa seit Jahrhunderten kennt, welches aber im Moment unipolarer Hegemonie außer Mode geraten war. Es ist denkbar, dass die USA mit ihren Großmachtkonkurrenten China und Russland eine Übereinkunft treffen: eine gegenseitige Nichteinmischung in ihre jeweiligen Einflusssphären. Das Schicksal Taiwans wäre damit ebenso besiegelt wie das des Kaukasus.
Die Europäer rufen empört „Verrat“. Doch es sei daran erinnert, dass auch Europa in der Vergangenheit seine multipolare Ordnung durch Einflusszonen und Absprachen stabilisiert hatte – im 19. Jahrhundert durchaus mit Erfolg. Der deutsche Versuch, diese Hegemonie mit Gewalt zu erringen, führte hingegen in zwei Weltkriege.
Es ist absehbar, dass Europa sein trotziges „Jetzt erst recht“ zur Ukraine bald aufgeben wird.
Heute glauben die amerikanischen Neokonservativen, einen Krieg gegen die nuklear bewaffnete Supermacht China führen und gewinnen zu können. Bemerkenswert ist jedoch, dass Trump ihren wichtigsten Vertretern den Personenschutz entzogen und sie damit politisch ins Abseits gedrängt hat. Die US-Regierung scheint damit anzuerkennen, dass ein militärischer Sieg über China nicht realistisch ist – und dass es keinen Weg zurück in die unipolare Welt gibt.
Der eigentliche Epochenbruch hat sich in den globalen Kräfteverhältnissen vollzogen – die Amerikaner haben dies nur schneller akzeptiert als die Europäer. Es ist absehbar, dass Europa sein trotziges „Jetzt erst recht“ zur Ukraine bald aufgeben wird. Auch die Versuche, die Welt zu westlichen Werten zu bekehren, dürften bald in der Mottenkiste der Geschichte verschwinden. Will Europa nicht zum Spielball der Großmächte werden, muss es entschlossen seinen inneren Umbau vorantreiben. Die Fähigkeit zur militärischen und politischen Selbstbehauptung hat aber einen hohen Preis. Damit der Umbau nicht in Verteilungskämpfen stecken bleibt, müssen diese immensen Kosten gerecht verteilt werden. Mit anderen Worten: Der Gesellschaftsvertrag muss neu verhandelt werden.
Ebenso radikal ist der innere Umbau des amerikanischen Governance-Systems, bei dem Trump mit dem Musk’schen Vorschlaghammer ansetzt. Hierzulande wird dies oft als Rache am Deep State oder gar als Schritt in Richtung eines autoritären Regimes, vielleicht sogar einer Monarchie, gedeutet.
Tatsächlich gibt es in Trumps Regierung Stimmen, die bezweifeln, dass die schwerfälligen liberalen Demokratien des Westens mit dem chinesischen Staatskapitalismus mithalten können, und die sich nach einer neuen Form des technokratischen Durchregierens sehnen. Trumps Politik per Exekutivorder entspringt diesem Geist.
Europäische Kritiker werten das Plädoyer des amerikanischen Vizepräsidenten für Meinungsfreiheit und Achtung des Wählerwillens oft vorschnell als „rechts“ und „übergriffig“. Doch auch in Europa wächst die Zahl der Bürger, die solche Fehlentwicklungen beklagen und unüberhörbar auf Korrektur drängen.
Die Machtkämpfe innerhalb dieser neuen Formation sind längst nicht entschieden.
Diese Kritik übersieht vor allem, dass sich Governance-Systeme im Laufe der Jahrhunderte stets an neue Herausforderungen und technologische Möglichkeiten angepasst haben. Die Französische Revolution und die preußischen Reformen sind unterschiedliche Ausprägungen dieses Prozesses. Unbestreitbar ist auch, dass die im späten 19. Jahrhundert entstandenen Staatsbürokratien mit den Anforderungen einer globalisierten, vernetzten und beschleunigten Welt zunehmend überfordert sind – insbesondere im Umgang mit globalen Strömen, deren Auswirkungen sich in rasantem Tempo verbreiten, sei es bei Pandemien, Migration, Daten oder Finanzkrisen. Die Tech-Bros, allen voran Elon Musk, wollen die behäbigen – und nicht zu Unrecht der Verfilzung und Korruption bezichtigten – analogen Bürokratien mithilfe Künstlicher Intelligenz effizienter, kompetenter und reaktionsfähiger machen. Kurz gesagt: Im Systemwettbewerb mit China setzen die USA auf ein Update ihres Betriebssystems.
Yanis Varoufakis warnt zu Recht, dass es sich dabei keineswegs um unschuldige Bürgerdienste handelt – ebenso wenig wie der reichste Mann der Welt aus Selbstlosigkeit die Hilfe für Millionen hungernder Kinder einstellt. Dahinter steckt die Vision der Oligarchen, den Techno-Feudalismus nun auch in die Institutionen des amerikanischen Staates einzubetten. Das Ziel: Eine hocheffiziente Technokratie, die der Kontrolle des demokratischen Souveräns entzogen ist und sich voll darauf konzentriert, die fiskalische und materielle Infrastruktur des digitalen Kapitalismus bereitzustellen.
Die Machtkämpfe innerhalb dieser neuen Formation sind längst nicht entschieden. Die öffentliche Fehde zwischen Steve Bannon, dem intellektuellen Kopf der MAGA-Bewegung, und Elon Musk, dem Tech-Overlord, haben einen Einblick auf die brutalen Machtkämpfe hinter den Kulissen der Trump-Koalition gegeben. Solange es darum geht, das Alte zu zerschlagen, hält diese Allianz. Doch in einem bemerkenswerten Interview mit der New York Times erklärte Bannon den Tech-Oligarchen den Krieg, sollten sie versuchen, den Techno-Feudalismus institutionell zu verankern. Von der geostrategischen Ausrichtung bis zur inneren Verteilungswirkung des amerikanischen Imperiums ist nahezu alles fundamental umstritten – und es bleibt offen, welche Fraktionen und Denkmodelle sich letztlich durchsetzen werden.
Wir Europäer müssen dringend lernen zu entschlüsseln, worum es in diesen Machtkämpfen tatsächlich geht. Denn durch die Brille des Liberalismus, der bis zum aktuellen Umbruch das gemeinsame Wertefundament des Westens war, ergibt vieles davon keinen Sinn. Statt die Trumpisten als verrückt, korrupt oder unanständig abzutun, müssen die Europäer begreifen, was auf dem Spiel steht – und ihr rasant schwindendes Gewicht nutzen, um ihre Interessen zu wahren. Denn eines ist klar: Wir sind längst in die nächste Epoche der Weltgeschichte eingetreten und drohen unter die Räder zu geraten, wenn wir nicht schnell verstehen, wie sie funktioniert. Oder, um es mit Gorbatschow zu sagen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.