Das Gespräch führt Daniel Kopp.

Was wissen wir bislang über Long Covid, seine Symptome und die gesundheitlichen Langzeitfolgen? Und wie unterscheidet es sich von anderen bekannten Virusinfektionen?

Anhand der Erfahrung der Menschen, die sich in der ersten Welle ab März 2020 mit Covid-19 angesteckt haben, begannen wir zu erkennen, dass Covid-19 nicht nur eine akute Erkrankung ist. Ich selbst habe es am eigenen Leib erlebt: Ich hatte Mitte März 2020 einen vergleichsweise milden Covid-19-Verlauf. Nach zwei Wochen hatte ich mich eigentlich wieder ganz gut erholt. Am nächsten Tag unternahm ich eine Fahrradtour und radelte rund 35 Meilen. Als ich zurückkam, fühlte ich mich bestens. Aber am nächsten Tag war mir, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren worden. Ich hatte wieder Fieber und war sehr kurzatmig. Danach war ich zwei Monate lang schlichtweg zu nichts mehr in der Lage. Im Juni schleppte ich mich wieder zur Arbeit. Doch selbst dann konnte ich noch nicht wieder voll einsteigen. Sechs Wochen lang war ich die halbe Zeit krankgeschrieben, arbeitete nur von zu Hause aus und musste mich nach jedem einstündigen Meeting eine Stunde hinlegen. Ich fing an, mich mit Leuten in Foren, auf Facebook und Twitter auszutauschen und mich mit der Frage zu beschäftigen: Warum setzt bei uns keine Besserung ein? Um diese Zeit prägte die italienische Wissenschaftlerin Elisa Perego den Begriff „Long Covid“. Bis dahin hatte es offiziell geheißen, Covid-19 dauere zwei Wochen und sei dann vorbei. Das entsprach aber ganz offensichtlich nicht den Erfahrungen vieler Menschen.

Was ist der heutige Wissenstand zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie?

Ich denke, wir wissen ziemlich genau über die Risiken Bescheid. Wenn Sie die Betroffenen nach vier Wochen befragen, wird etwa die Hälfte sagen, dass sie keine Besserung feststellen. Die am häufigsten genannten Symptome sind Atemnot und Müdigkeit. Nach zwölf Wochen haben rund zehn Prozent der Patienten, die Covid-19 hatten, immer noch mindestens drei Symptome. Die Hälfte von ihnen ist noch nicht fit genug, um wieder arbeiten zu können und ihren normalen Alltag zu bewältigen. Nach drei Monaten sind es noch etwa fünf Prozent.

97 bis 98 Prozent der Geimpften, die Covid-19 bekommen, werden nicht an Long Covid erkranken.

Tragen Impfungen nach heutigem Kenntnisstand dazu bei, gegen Long Covid vorzubeugen, oder reduzieren sie die Wahrscheinlichkeit, an Long Covid zu erkranken?

Die beste Studie zu diesem Thema erschien im British Medical Journal und besagt, dass eine Impfung das Risiko halbiert, an Long Covid zu erkranken. Die Gefahr ist damit allerdings nicht gebannt. Sie können die Sache auch andersherum betrachten und sagen: 97 bis 98 Prozent der Geimpften, die Covid-19 bekommen, werden nicht an Long Covid erkranken. So weit, so gut. Aber die zwei oder drei Prozent, die betroffen sind, sind Menschen, die mitten im Arbeitsleben stehen und die plötzlich eine Erkrankung haben, die sie ernsthaft beeinträchtigt.

Studien aus den USA und Großbritannien zu Long Covid deuten auf eine signifikante Zahl an Betroffenen hin. In der öffentlichen Debatte tauchen sie jedoch fast gar nicht auf. Es ist wie eine zweite Pandemie, über die niemand spricht. Wie sollten wir damit umgehen?

Zunächst einmal ist diese Entwicklung nicht weiter überraschend. Im Zusammenhang mit Pandemien traten immer langfristige Erkrankungen auf. Bei der Großmutter der modernen Pandemien, der Spanischen Grippe von 1918, litten Erkrankte in der Folgezeit an der europäischen Schlafkrankheit und an Parkinson. Auch bei Ebola, dem Zika-Virus und einer Reihe anderer Viruserkrankungen kommt es zu Langzeitfolgen. Die Annahme, SARS-CoV-2 würde sich diesbezüglich von anderen Infektionen unterscheiden, wäre naiv.

Aber leider sind auch in der Vergangenheit immer wieder Menschen aus dem Blickfeld geraten, die infolge einer Viruserkrankung unter komplizierten Krankheitsbildern litten. Es lässt sich durchaus von einem allgemeinen Desinteresse an der biomedizinischen Forschung sprechen – einfach weil es schwierig ist, für diesen Bereich Forschungsgelder zu bekommen. Hinzu kommt, dass die Psychiatrie und die Psychologie dieses Forschungsgebiet für sich reklamieren. Dabei ist das eindeutig ein Fehler. Es fügt vielen Erkrankten großen Schaden zu, wenn eine Krankheit, die eindeutig biologische Merkmale aufweist, psychologisiert und nur als seelische Erkrankung behandelt wird.

Es fügt vielen Erkrankten großen Schaden zu, wenn eine Krankheit, die eindeutig biologische Merkmale aufweist, psychologisiert und nur als seelische Erkrankung behandelt wird.

Es gibt möglicherweise Merkmale, die für SARS-CoV-2 spezifisch sind, beispielsweise wie das Virus den Körper biologisch beeinflusst und welche Rezeptoren es nutzt. Die Hinweise verdichten sich, dass winzige Blutgerinnsel eine anhaltende Gefäßentzündung verursachen. Das geschieht im ganzen Körper verbreitet und betrifft alle Organsysteme. Ein stärkerer Fokus auf biologische Forschung wird hoffentlich dieser großen Patientengruppe mit Viruserkrankungen zugutekommen.

Ist den Regierungen bewusst, dass Covid-19 nicht nur eine kurze und akute, sondern eine langfristige Erkrankung ist?

Zumindest in Großbritannien vertreten Regierungskreise, Lobbygruppen und rechtsgerichtete Medien vehement die Ansicht, Long Covid gäbe es eigentlich nicht. Sie behaupten, es handle sich um eine überwiegend psychische Erkrankung, die hauptsächlich Frauen mittleren Alters betreffe und die vielleicht durch die Wechseljahre, durch Ängste oder auch die Folgen des Lockdowns bedingt sei. Dieses Gerede der Long-Covid-Leugner zieht dann im Verborgenen seine Kreise. Ich habe ein Interview mit Robert Dingwall, einem pensionierten Medizinsoziologen und Mitglied der britischen Impfkommission JCVI, gelesen, in dem er sinngemäß sagt: „Das ist ja eigentlich nicht real, oder?“ Er ist Teil einer Gruppe, die während der gesamten Pandemie die Auswirkungen von Covid-19 heruntergespielt haben. Wir müssen uns bewusst sein, dass es einen Trend zur Verharmlosung gibt – nicht nur von Long Covid, sondern der Pandemie an sich.

Manche Politiker - insbesondere in konservativen Kreisen - argumentieren, dass die Arbeitszeit erhöht werden sollte, weil während der Pandemie Staatsschulden angehäuft wurden, um die Wirtschaft über Wasser zu halten. Hört man Ihnen zu, sollten sie eher gesenkt werden, um die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen, insbesondere der von Covid-19 und Long Covid betroffenen.

Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Ich sehe eine Menge Patienten. Lassen Sie mich exemplarisch zwei Fälle schildern, wie sich Covid-19 auf das Leben von Menschen auswirken kann.

Natürlich liegt die Wahrscheinlichkeit bei Kindern niedriger, sich mit Covid-19 zu infizieren. Aber stellen Sie sich vor, Sie sind 17 Jahre alt, stehen kurz vor dem Abitur und können auf einmal nicht mehr klar denken. Der Schüler beißt sich durch, geht in die Schule, sobald es wieder geht, und bricht dann zusammen. Zwar erlauben es manche Schulen dem Lehrpersonal, Schülerinnen und Schülern wegen gesundheitlicher Probleme eine um fünf Prozent bessere Prüfungsnote zu geben. Aber Long Covid wird bislang nicht als Voraussetzung für die Wiederholung von Prüfungen im folgenden Jahr anerkannt, wie es beispielsweise bei Pfeifferschem Drüsenfieber der Fall ist. Das ist eine Krankheit, von der wir wissen, dass die Kinder monatelang darunter leiden und nicht zur Schule gehen können. Long Covid muss hier dringend anerkannt werden.

Eine andere Patientin, die ich behandle, arbeitet in einem großen Supermarkt. Sie ist ein Positivbeispiel, weil ihr Arbeitgeber sich wirklich vorbildlich verhält. Sie hat ein typisches Long Covid-Symptom: Sobald sie etwas tut, erhöht sich ihr Pulsschlag deutlich. Diese Patientin hat mit ihrem Arbeitgeber folgende Vereinbarung: sie arbeitet für etwa 40 Minuten – sie füllt Regale auf – und kann sich dann für eine halbe Stunde hinlegen. Sie haben dafür einfach ihren Arbeitstag etwas verlängert.

Eine meiner Patientinnen hat mit ihrem Arbeitgeber folgende Vereinbarung: sie arbeitet für etwa 40 Minuten und kann sich dann für eine halbe Stunde hinlegen.

Die Medizin hat bei der Erkennung und Therapie von behandelbaren Symptomen bei Covid-19-Patienten große Fortschritte erzielt. Aber das Virus wird nicht einfach so verschwinden. Die Fallzahlen steigen weiter an, und nach der Welle, die jetzt im Winter über Europa rollt, wird es Anfang nächsten Jahres viele kranke und geschwächte Menschen geben. Was wird die Wirtschaft wohl mehr belasten: Tausende von Beschäftigten, die monatelang nicht produktiv arbeiten können, oder einfache Maßnahmen wie das Arbeiten im Home Office – dort wo es möglich ist – sowie Tests, Abstandsregeln und Maskentragen?

Wie könnte eine langfristige politische und strukturelle Lösung für Beschäftigte aussehen, die unter Long Covid leiden?

Zunächst einmal muss die Krankheit als Langzeiterkrankung anerkannt werden. Und dann braucht es eine konsequente arbeitsmedizinische Beratung, die sowohl die Langzeitfolgen als auch den langsamen und langwierigen Genesungsprozess berücksichtigt.

Die Arbeitgeber sollten flexibel sein, wenn es darum geht, welche Arbeiten die Betroffenen verrichten können, und sich bewusst machen, dass sich das im Laufe der Zeit ändern kann. Es kann sein, dass jemand wieder ein normales Arbeitspensum bewältigt, dann aber ein paar Wochen Pause braucht, wenn es zu einem schweren Schub kommt. Diese Flexibilität in die Beschäftigungsverhältnisse hineinzubringen, ist elementar wichtig, wenn verhindert werden soll, dass Menschen langfristig geschädigt werden.

Wer über einen längeren Zeitraum krankgeschrieben ist und nicht in einem flexibel gestalteten Arbeitsalltag allmählich wieder an das Arbeiten herangeführt wird, erleidet finanzielle Nachteile. Dann kommt es zu Ängsten, Sorgen und Schlaflosigkeit wegen der beruflichen und finanziellen Situation, wodurch sich der Gesundheitszustand weiter verschlechtert.

Aus dem Englischen von Christine Hardung