Es ist nicht lange her, da ging es Brasilien gut und es spielte eine Rolle auf der internationalen Bühne. Jetzt wirkt die Bevölkerung extrem frustriert und scheint sämtliches Vertrauen in die Politik verloren zu haben. Was muss geschehen, damit sich dies wieder ändert?
Brasilien steht vor einer Krise der Repräsentation, weil es einen von Parlament und Justiz ausgeführten Staatsstreich gab, der nicht nur mich als Präsidentin gestürzt hat, sondern der nun die Umsetzung eines Regierungsprogramms ermöglicht, das keinerlei Legitimität besitzt und die Ungleichheit verstärkt. 54 Millionen Wählerstimmen werden negiert. Die Bevölkerung hat allen Grund, unzufrieden zu sein.
Wenn der Wählerwille und die Bedürfnisse der Bevölkerung so missachtet und einmal erreichte Fortschritte wieder zurückgedreht werden, wendet sich das Volk zwangsläufig von der Politik ab.
Das, was gerade abläuft, ist zwar typisch für Brasilien, aber wir stehen weltweit vor einer Krise der parlamentarischen Demokratie. Überall dominiert die Finanzwirtschaft inzwischen die Wirtschaft, der gesamte Reichtum konzentriert sich in ihren Händen und verursacht wachsende Ungleichheit. Diese Ungleichheit bedroht die Demokratie, denn dadurch wird die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Basis unserer demokratischen Prinzipien, infrage gestellt.
Aber ist es den aktuell Regierenden egal, was die Leute denken? Nächstes Jahr stehen Wahlen an, da müssten sie doch eigentlich eine möglichst populäre Politik machen?
Was diese Gleichgültigkeit der Regierenden gegenüber den Wählern erklärt, ist die Tatsache, dass sie ja sowieso keine Wählerstimmen haben. Ohne die Amtsenthebung wären sie nie an die Macht gekommen. Wir haben es hier mit der anerkanntermaßen korruptesten politischen Gruppierung in der Geschichte unseres Landes zu tun. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass bei uns die Oligarchie eine lange Tradition hat und auf die Epoche der Sklaverei zurückgeht, die erst 1888 abgeschafft wurde.
Mit einem Verfassungszusatz werden die Sozial-, Gesundheits- und Bildungsausgaben für die nächsten 20 Jahre eingefroren.
Auf lange Sicht wird diese Amtsenthebung keinen Erfolg haben. Aber zunächst hat diese Gruppe es geschafft, mich ohne echtes Vergehen als Staatspräsidentin loszuwerden. Sie hat es auch geschafft, ihre Agenda umzusetzen: die Rechte der Bevölkerung einzuschränken und eine geradezu kriminelle Flexibilisierung der Arbeitsgesetzgebung einzuleiten, die die Arbeit prekarisieren und die Löhne senken wird. Alle Restriktionen für sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse wurden aufgehoben. Mit einem Verfassungszusatz werden die Sozial-, Gesundheits- und Bildungsausgaben für die nächsten 20 Jahre eingefroren. Die Ausgaben für Wissenschaft, neue Technologien, sanitäre Grundversorgung, urbane Mobilität etc. könnten sogar sinken.
Diese Entwicklung birgt die Gefahr, dass jetzt irgendwelche „Vaterlandsretter“ auftauchen, die die desolate Situation zu ihren Gunsten ausnutzen wollen.
Wen meinen Sie damit?
Eine direkte Folge dieser Entwicklung ist der Aufstieg der extremen Rechten in Brasilien. Die Tatsache, dass ihr wichtigster Vertreter der Ex-Militär Jair Bolsonaro ist, heißt nicht, dass diese Bewegung aus den Streitkräften kommt. Ich bin überzeugt davon, dass die Streitkräfte in Brasilien heutzutage demokratisch eingestellt sind. Nein, diese Bewegung ist eine Folge der Amtsenthebung, die in einem Klima von Intoleranz, von Hexenjagd und Frauenfeindlichkeit stattfand. Nun gibt es zum ersten Mal eine rechte Massenbewegung in Brasilien.
Und aus dem konservativen Lager gibt es momentan zwei Wahl-Alternativen: den Manager João Doria – die Trump-Variante – der meint, das Land lasse sich wie ein Unternehmen führen. Und den Fernsehmoderator Luciano Huck, der für die Bevölkerung Häuser verlost und renovieren lässt.
Und wie steht es um Ihre Arbeiterpartei PT?
Die Arbeiterpartei sollte durch die Amtsenthebung zerstört werden, was aber nicht gelungen ist. Wir erhalten in jeder Umfrage eine Mehrheit an Wählerstimmen. Daher wird momentan versucht zu verhindern, dass unser ehemaliger Präsident Lula da Silva noch einmal antreten kann. Dafür muss er in zweiter Instanz verurteilt werden. Wenn das geschieht, kann er nicht kandidieren.
Dieses komplexe Land wird seine Probleme nur lösen, wenn ein echter demokratischer Prozess stattfindet.
Aber dieses komplexe Land wird seine Probleme nur lösen, wenn ein echter demokratischer Prozess stattfindet. Ich sage nicht, dass die PT die einzige Lösung ist. Es muss eine Koalition geben. Aber die Basis dafür muss sein, dass eine solche Koalition tatsächlich die Probleme des Landes lösen will und sich nicht nur für die eigenen Belange interessiert.
Sie sagen, dass die aktuelle Regierung das Land sozial schleift. Vor diesem Hintergrund müsste es der PT ja eigentlich leicht fallen, die Wahlen im nächsten Jahr zu gewinnen. Gleichzeitig hat die Partei auch Probleme. Wie sollte sich die PT aufstellen?
Ich bin überzeugt, dass wir bisher noch viel zu wenig getan haben im Hinblick darauf, was das Land braucht. Es bleibt noch enorm viel zu tun. Selbst, wenn man bedenkt, dass es uns gelungen ist, 36 Millionen Menschen aus der Armut zu holen. Wir haben sehr viel im Bereich technische Ausbildung geleistet – nicht zuletzt dank einer Partnerschaft mit Deutschland, das auf diesem Gebiet führend ist. Wir haben eine der größten Landumverteilungen in Lateinamerika durchgeführt und ein Programm zur Schaffung von Wohnraum für die Armen ins Leben gerufen. Man kann den Leuten natürlich nicht nur Land geben, sondern muss auch die Produktionsbedingungen mithilfe technischer Unterstützung verbessern.
Wir haben uns um die Verbesserung der Renten bemüht und um die Förderung von Bildung. Was wir brauchen, ist auch eine soziale und Verkehrs-Infrastruktur. Es gibt beispielsweise Gegenden in Brasilien, in denen 25 Prozent der Menschen keinen Zugang zu Wasser haben. In diesem Bereich haben wir vieles angeschoben.
In Anbetracht der immensen Herausforderungen müssen wir dafür sorgen, dass weiterhin Geld für diese Aufgaben zur Verfügung steht. Wenn es nun heißt, dass wir Geld verschwendet haben und dass Brasilien bankrott war, dann frage ich Sie, was soll das denn heißen? Bankrott ist man, wenn man seine Schulden nicht bezahlen kann, das ist aber bei Brasilien nicht der Fall. Das Land hat Währungsreserven von 380 Milliarden US-Dollar. Wir sind Gläubiger des Internationalen Währungsfonds. Wir produzieren Öl, Nahrungsmittel, Erze. Brasilien besitzt aber nicht nur Rohstoffe, sondern stellt auch Flugzeuge her, wir haben eine entwickelte Industrie.
Wir können allerdings die Herausforderungen nur angehen, wenn wir Geld für soziale Zwecke ausgeben. Man kann dieses Land nicht nur für 35 Prozent der Bevölkerung regieren. Damit erreicht man keine soziale Stabilität. Interessanterweise steigen jetzt mit der Kürzung der Sozialausgaben Kriminalität und Instabilität. Das hatten wir eigentlich schon überwunden. Jetzt prophezeit auch die UN, dass – wenn es so weitergeht – wieder vermehrt Menschen in die Armut zurückfallen werden. Die Ausgaben für Infrastruktur, Logistik und Sozialausgaben werden momentan von ungefähr 60 Milliarden Real im Jahr 2015 auf zwei Milliarden (circa 515 Millionen Euro) 2018 zurückgefahren.
Abschließend möchte ich nur sagen: Wir haben nicht alles richtig gemacht, wir haben sicher auch Fehler begangen. Aber ich wurde meines Amtes nicht enthoben für das, was ich falsch gemacht, sondern für das, was ich richtig gemacht habe.
Das Interview führten Hannes Alpen und Sabine Dörfler.