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Nach den politischen Turbulenzen der vergangenen Monate und der Flucht von Ex-Präsident Evo Morales ins Exil steht Bolivien vor einem richtungsweisenden Wahljahr. Am 3. Februar war der Stichtag zur Einschreibung der Kandidaten für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die am 3. Mai stattfinden werden. Nötig wurde dieser Wahlgang durch die Annullierung der Wahlen vom Oktober 2019. Die konservativen Parteien versuchten, in letzter Minute doch noch eine „Einheitsfront“ gegen die „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) aufzustellen. Dieser Versuch aber ist gescheitert.
Aktuell gibt es mindestens vier Kandidatenpaare, die realistische Chancen haben, in die wahrscheinliche zweite Runde einzuziehen. Diese würde dann per Stichwahl ausgetragen. Drei dieser Kandidatenpaare stehen rechts der Mitte. Sie werben dafür, nach über 13 Jahren unter der Regierung von Evo Morales (MAS) einen neuen politischen Zyklus zu beginnen. Ein sehr spannender und polarisierender Wahlkampf steht bevor.
Die MAS hat trotz des Machtverlusts und aller Widrigkeiten durchaus gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Als Kandidat für die Präsidentschaft tritt Luis Arce an, David Choquehuanca bewirbt sich als sein Vizepräsident. Die beiden setzen darauf, wirtschaftlichen Erfolg und Stabilität (Arce) mit der notwendigen Erneuerung und Rückbesinnung auf den 2006 begonnenen „Prozess des Wandels“ (Choquehuanca) zu vereinen. Damit zielen sie strategisch auf unterschiedliche Wählergruppen ab: Während Arces Diskurs die urbanen Mittelschichten ansprechen soll, ist Choquehuanca der Vertreter der Indigenen und der Landbevölkerung des Hochlands.
Innerhalb kürzester Zeit wurde ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das kaum Kritik am Vorgehen der Regierung Áñez und der sogenannten „Befriedung“ des Landes zuließ.
Seit dem Sturz der Regierung von Evo Morales und dessen Flucht ins Ausland Mitte November hat Bolivien bewegte politische Monate erlebt. Durch eine fragwürdige legale Konstruktion konnte die konservative Senatorin Jeanine Áñez als Übergangspräsidentin installiert werden, mit großer Unterstützung des Militärs, der katholischen Kirche sowie der bürgerlichen Widerstandsbewegungen. Die Übergangsregierung hat mit Hilfe der Polizei und der Armee die anfänglichen Proteste gegen sie unterdrückt. Bei den Auseinandersetzungen wurden mindestens 35 Personen getötet.
Ein Bericht der interamerikanischen Menschenrechtskommission fordert eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse. Die Kommission bezweifelt, dass es aktuell eine angemessene Aufarbeitung durch bolivianische Institutionen geben kann. Es findet zudem eine politische Verfolgung der ehemaligen Regierungspartei MAS statt, die als Hexenjagd bezeichnet werden kann. Ein Großteil der ehemaligen Minister und hohen Regierungsbeamten, im Prinzip die gesamte MAS-Führungsriege, ging entweder ins Exil oder lebt im Untergrund. Schätzungen zufolge sind mehrere Hundert Personen aus politischen Gründen inhaftiert – in den meisten Fällen ohne formelle strafrechtliche Verfahren oder die Möglichkeit, sich von Anwälten angemessen verteidigen zu lassen.
Zweite strategische Ebene der Übergangsregierung war es, über die Kommunikationsministerin die Medien des Landes zu bedrohen, ihnen im Falle der kritischen Berichterstattung die Straftat des „Aufruhrs“ vorzuwerfen und wenn nötig die Staatsanwaltschaft einzusetzen. So wurde innerhalb kürzester Zeit ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das kaum Kritik am Vorgehen der Regierung Áñez und der sogenannten „Befriedung“ des Landes zuließ. Bis heute hat keine kritische Aufarbeitung der Ereignisse der letzten Monate stattgefunden. Das Wort Putsch in den Mund zu nehmen, gilt in weiten Kreisen der bolivianischen Mittel- und Oberschicht schon als verdächtig.
Trotz der schwierigen Bedingungen ist die MAS nach wie vor die größte und stärkste politische Bewegung Boliviens. Sie hat Wochen der internen Debatten und Grabenkämpfe hinter sich.
Doch viele Fragen bleiben offen. Die politischen Proteste der urbanen Mittelschicht, die ihren Ursprung in der Ablehnung der Kandidatur von Morales hatten und durch den Vorwurf des Wahlbetrugs nochmals verstärkt wurden, sind ein Teil der Geschichte. Ein anderer ist aber auch, dass die Polizei gegenüber der Regierung meuterte und sich das Militär zunehmend gegen sie stellte, was in der „Empfehlung“ des Rücktritts an Morales mündete. Außerdem mehren sich die Anzeichen dafür, dass die traditionelle Elite des Landes im Hintergrund die Fäden gezogen hat.
Trotz dieser schwierigen Bedingungen ist die MAS nach wie vor die größte und stärkste politische Bewegung Boliviens. Das bestätigen auch die letzten Umfrageergebnisse. Während die MAS auf eine relativ solide Wählerbasis von mindestens 30 Prozent der Stimmen zählen kann, kommen die unterschiedlichen konservativen Kandidatinnen und Kandidaten jeweils auf 15 bis 20 Prozent.
Die MAS hat Wochen der internen Debatten und Grabenkämpfe hinter sich. Sie ist ein Sammelbecken für verschiedene soziale Bewegungen und verfügt über keine richtige parteiliche Struktur. Zusammengehalten wird sie vom „Pacto de Unidad“, einem Einheitspakt, der auf der historischen Exklusion der indigenen Völker und Gewerkschaften seitens der politischen und ökonomischen Eliten des Landes gründet. Dabei spielt auch die Figur Evo Morales nach wie vor eine bedeutende Rolle. Trotz seiner kontroversen Rolle und der geographischen Distanz im argentinischen Exil wurde er als Leiter des Wahlkampfes benannt. Doch in Teilen der MAS gab es auch eine Distanzierung gegenüber der alten Führungsriege. Es scheint, als hätten die Debatten der vergangenen Monate durchaus zu einer inneren Belebung und Neuorientierung beigetragen.
Davon zeugt unter anderem die Nominierung von David Choquehuanca. Der langjährige Außenminister Boliviens (2006 bis 2017) hat großen Rückhalt in der indigenen Bevölkerung des Andenhochlandes. Lange Zeit galt er als MAS-interner Widersacher von Evo Morales. Als Choquehuanca von den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen als Präsidentschaftskandidat vorgeschlagen wurde, gelang es Evo Morales jedoch, die unterschiedlichen internen Kandidaten und Gruppen zusammenzubringen und diese auf das Paar Arce/Choquehuanca einzuschwören. Luis Arce soll als Architekt des bolivianischen „Wirtschaftswunders“ (er war Wirtschaftsminister von 2006 bis 2017 und 2019) im Wahlkampf sozio-ökonomische Stabilität repräsentieren und so der Mittelschicht die Angst vor einer Wirtschaftskrise nehmen.
Die Übergangsregierung, die angetreten war, um das Land zu befrieden und Neuwahlen zu organisieren, hat sich als verlängerter Arm der traditionellen Elite erwiesen.
Der bereits länger als Kronpinz von Morales gehandelte Andrónico Rodríguez blieb zunächst außen vor. Der erst dreißig Jahre alte Anführer der Kokabauern-Gewerkschaften aus der Region Cochabamba – aus dieser Position begann auch Morales seinen Aufstieg – dürfte aber noch eine längere politische Karriere vor sich haben. Rodríguez spielt eine wichtige Rolle bei der Organisation der Kokabauern und er hat konstruktiv zur Artikulation der politischen Neuausrichtung der MAS beigetragen. Diese Einheit könnte ein entscheidender Vorteil gegenüber den untereinander zerstrittenen konservativen Parteien sein.
Bolivien steht inmitten einer politischen Transition, die noch nicht abgeschlossen ist. Die Übergangsregierung, die angetreten war, um das Land zu befrieden und Neuwahlen zu organisieren, hat sich als verlängerter Arm der traditionellen Elite erwiesen. Sie hat aber auch Blut geleckt und eigene politische Ambitionen entwickelt, die sie nun in Konflikt mit den anderen Aspiranten der konservativen Parteien bringt.
Auf der einen Seite wird sich die Kandidatin Jeanine Áñez mit Carlos Mesa darum streiten, wer nun die Demokratie „gerettet“ hat nach all den angeblich autoritären Jahren. Carlos Mesa hatte im Oktober 2019 bei der annullierten Wahl mit 36 Prozent knapp 10 Punkte hinter Evo Morales gelegen. In der Anfangsphase der Proteste war er Wortführer in Sachen Wahlbetrug.
Als sich die Proteste vor allem im wohlhabenden Santa Cruz radikalisierten und immer mehr Menschen den Rücktritt der Regierung forderten, gewann aber auch der Anführer des dortigen Bürgerschaftskommittees, Fernando Camacho, an Profil. Der Sohn einer reichen Unternehmerfamilie versteht sich als politischer Outsider. Er kämpft mit religiösen und ultrarechten Parolen für einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel.
Die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den Führungspersonen zeigen die Schwäche der politischen Parteien und die Abwesenheit demokratischer Strukturen auf. Es ist gut möglich, dass keine der antretenden Parteien die absolute Mehrheit in den beiden Parlamentskammern gewinnt. Das würde das politische System auf die Probe stellen. Es könnte sich aber auch als historische Chance erweisen angesichts einer politischen Kultur, in der Dialog und Kooperation jenseits der Parteigrenzen mehr denn je dringend benötigt werden.