In dieser Woche erlebte der Libanon einen der größten Anschläge der vergangenen Jahre. Explodierende Pager und Funkgeräte haben in verschiedenen Regionen des Landes zu bisher 37 Toten und mehr als 2 900 Verwundeten geführt. Unter den Opfern sind nicht nur Funktionäre der pro-iranischen Terrororganisation Hisbollah, wie es in vielen westlichen Medien gern berichtet wird, sondern auch Zivilistinnen und Zivilisten, darunter Kinder sowie medizinisches Personal, die sich in der Nähe der Pager oder Funkgeräte aufhielten. Zwei Tage wurde der Libanon von den dramatischen Anschlägen heimgesucht. Gerade als der erste Schock mit den blutigen Szenen vom Dienstag nachließ, erschütterte eine zweite Runde die Hauptstadt und weitere Regionen des Landes. Bilder von Explosionen auf Trauerfeiern für Personen, die am Tag vorher gestorben waren, dominierten die Nachrichten.
Alle Hinweise führen zum israelischen Geheimdienst Mossad. Auch wenn sich die israelische Regierung wie in ähnlichen Fällen nicht öffentlich zu diesen Anschlägen äußert. Aber der Fall hat auch grenzüberschreitende Auswirkungen: Von Taiwan über Ungarn bis Japan versuchen Analysten herauszufinden, wie, wo und zu welchem Zeitpunkt die Pager- und Walkie-Talkie-Geräte manipuliert wurden. Die Botschaft, die Israel offensichtlich zu vermitteln versucht, lautet: Nirgendwo ist man sicher.
Am Dienstagnachmittag brachten hunderte Krankenwagen Verletzte und Tote zu den überfüllten Krankenhäusern im ganzen Land. Das Militär versuchte vergeblich, die Straßen von Beirut und anderen Städten leerzuräumen, damit die Krankenwagen durch die engen, überfüllten Straßen kommen. Dem bereits kurz vor dem Kollaps stehenden Gesundheitssystem droht nun die völlige Überlastung. Der Libanon ist im Kriegszustand. Elf Monate war der Krieg auf den Süden des Landes beschränkt, aber nun erreichte er – sichtbar für alle – die Straßen von Beirut und Saida.
Alle Libanesen fühlen, dass der Krieg jeden treffen kann und niemand sicher ist, egal ob Christ, Sunnit, Schiit oder Hisbollah-Anhänger.
Die für Resilienz bekannte libanesische Gesellschaft verspürt nun Panik. Die Anschläge und die Art der Ausführung haben die Libanesinnen und Libanesen schockiert. Viele fühlen sich an den 4. August 2020 erinnert, als an einem Sommernachmittag Tonnen von Ammoniumnitrat am Hafen von Beirut explodierten und zu katastrophalen Zuständen in der Stadt führten. Es ist das erste Mal seit dem Beginn des Krieges in Gaza und dem darauf folgenden Angriff der Hisbollah auf Israel am 8. Oktober 2023, dass alle Libanesen Angst haben. Alle fühlen, dass der Krieg jeden treffen kann und niemand sicher ist, egal ob Christ, Sunnit, Schiit oder Hisbollah-Anhänger.
Die präzise Vorbereitung und Durchführung demonstrieren die technische Überlegenheit der israelischen Geheimdienste und der Armee gegenüber der schiitischen, pro-iranischen Hisbollah-Miliz, die zwar über 100 000 Kämpfer und ein sehr gut bestücktes Raketenarsenal besitzt, aber bei weitem nicht über ähnliche technische Möglichkeiten verfügt. Der Anschlag offenbarte somit die Schwäche und Verwundbarkeit der vom Iran militärisch unterstützten Hisbollah. Vielen stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass Tausende solche Pager ins Land eingeführt werden und in Umlauf kommen konnten, ohne dass mögliche Manipulationen bemerkt wurden.
Israel hat hiermit die bisher zwischen den Konfliktparteien informell respektierten Kampfregeln massiv verletzt – mit unabsehbaren Konsequenzen.
Militärisch war der Angriff wohl ein Erfolg für Israel und seine Geheimdienste, moralisch und aus einer Perspektive des internationalen Rechts ist die Aktion aber fraglich. Die internationale Gemeinschaft stellt die Frage nach der Rechtmäßigkeit dieser Angriffe. Selbst wenn Israel beabsichtigte, Hisbollah-Mitglieder ins Visier zu nehmen, konnte es nicht wissen, wer bei den Tausenden von Explosionen verletzt oder getötet werden würde. Schließlich konnte sie die Weitergabe der mit Sprengstoff manipulierten Pager nicht mehr kontrollieren. In der Tat wurden bei den Angriffen viele Zivilistinnen und Zivilisten getötet oder verletzt. Israel hat hiermit die bisher zwischen den Konfliktparteien informell respektierten Kampfregeln massiv verletzt – mit unabsehbaren Konsequenzen.
Das landesweite Ausmaß der Anschläge bedeutet auch, dass die Libanesen überall besorgt sind, dass ähnliche Anschläge stattfinden könnten. Sie fragen sich, ob möglicherweise ihre Telefone, Laptops und andere technische Geräte betroffen sein könnten. Dies stellt eine weitere Episode psychologischen Schadens dar und verstärkt die Traumata, die viele Menschen im Libanon haben. Schließlich wurden die Schrecken der vielen Kriege der Vergangenheit bisher nicht aufgearbeitet und die dramatischen Szenen der Hafenexplosion sind vielen Libanesinnen und Libanesen noch gegenwärtig. Die Anschläge lösen auch große Angst bei den Zivilistinnen und Zivilisten aus, weil hier zu Recht angenommen wird, dass sie einen Vorlauf für eine umfassende Invasion oder eine Ausweitung der Kämpfe mit Israel darstellen könnten. Vor allem die Aussagen von israelischer Seite schüren zusätzliche Angst.
In politischer und strategischer Hinsicht dagegen sind viele Libanesinnen und Libanesen nicht mehr von der Vorgehensweise der Hisbollah in diesem Krieg überzeugt.
Doch bei allen negativen und nicht zu unterschätzenden Folgen dieser furchtbaren Angriffe lässt sich auch ein Gefühl der Einigung der libanesischen Bevölkerung beobachten. Aus humanitärer Sicht wurde durch die zahlreichen – religionsübergreifenden – Blutspenden Solidarität gezeigt. Krankenhäuser haben im ganzen Land Verletzte aufgenommen, auch diejenigen in den christlich dominierten Vierteln und Regionen des Landes. Die Solidarität darf aber nicht falsch verstanden werden: Es ist eine Solidarität mit den Menschen, den Verwundeten – und nicht mit der Hisbollah. Es ist dezidiert keine politische Solidarität. Dennoch werden die Anschläge der letzten Tage als Angriff auf die libanesische Gesellschaft als Ganze empfunden und nicht nur auf die Hisbollah innerhalb der fragmentierten Gesellschaft. In Zeiten des Krieges haben die Menschen immer zusammengestanden. Dieses Phänomen ist nicht neu, schließlich erlebt die zusätzlich unter der Wirtschaftskrise leidende libanesische Gesellschaft nun den siebten Krieg mit dem südlichen Nachbarn.
In politischer und strategischer Hinsicht dagegen sind viele Libanesinnen und Libanesen nicht mehr von der Vorgehensweise der Hisbollah in diesem Krieg überzeugt. In den Straßen Beiruts wird schon darüber diskutiert, welche Initiativen notwendig wären, um den sinnlosen Krieg zu beenden. Viele sind davon überzeugt, dass es trotz ihrer Ablehnung des Vorgehens der Hisbollah wichtig ist, dass die internationale Gemeinschaft Kommunikationswege mit der Hisbollah aufrechterhält oder neu sucht. Gleichzeitig muss der Druck auf Israel erhöht werden, keine neue Front zu eröffnen und bei ihren Angriffen auf den Libanon dem Schutz der Zivilisten absoluten Vorrang einzuräumen. Zentral für die Beruhigung ist ein Waffenstillstand im Gazastreifen, dies hat Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah nochmals unterstrichen. Ohne ein Ende der Kampfhandlungen in Gaza wird es auf absehbare Zeit nicht zu einer Beruhigung im Libanon kommen. Die gepeinigte Gesellschaft des Libanon wünscht sich nichts mehr als dies.