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Was, wenn er gewinnt? Anders als bei den letzten Wahlen, hat Israels Premier Benjamin Netanjahu den Sieg noch nicht in der Tasche. Doch der ruchlose, trickreiche und passionierte Wahlkämpfer, der inzwischen nicht einmal mehr vor den schmutzigsten Tricks („Fake News“) zurückschreckt, wird bis zum Wahltag am 17. September buchstäblich um sein Leben kämpfen. Denn genau darum geht es für ihn: Ihm droht eine Anklage in drei Fällen wegen Korruption. Sollte er verurteilt werden, warten auf ihn mehrere Jahre Gefängnis. Bereits im Oktober, also gerade mal drei Wochen nach der Wahl, muss der Noch-Premier zu einem Hearing, danach wird der Generalstaatsanwalt die Anklage erheben, spätestens wohl im Dezember.

Doch dazu soll es nicht kommen, wenn es nach Netanjahu geht. Er muss mindestens 61 Mandate haben, um regieren zu können (die Knesset, das israelische Parlament, verfügt über 120 Sitze). Die Oppositionsparteien und auch die rechte Partei von Avigdor Lieberman, Yisrael Beiteinu („Israel, unser Haus“) wollen sich für die Machenschaften Netanjahus nicht einspannen lassen. Also muss Netanjahu darauf hoffen, mit seinem Likud möglichst viele Sitze zu gewinnen, um dann in einer Koalition mit Ultraorthodoxen und messianischen Nationalisten das „Gesetz der Gesetze“ in kürzester Zeit durchpeitschen zu können: ein Gesetz, das ihm Immunität gewährt und obendrein das Einspruchsrecht des Obersten Gerichts außer Kraft setzt.

Sollte ihm das gelingen, dann hat die „einzige Demokratie des Nahen Ostens“, wie ausgerechnet Netanjahu nie müde wird zu prahlen, aufgehört in ihrer jetzigen Form zu existieren. Der Rechtsstaat wäre Geschichte in dem Augenblick, in dem das Oberste Gericht seine Unabhängigkeit verlöre.

Tatsächlich sieht es so aus, als ob Netanjahu das Land für sein Eigenwohl unter die Räder zu werfen bereit ist.

Dass Netanjahu mit einer solchen geplanten Koalition endgültig den orthodoxen und nationalreligiösen Kräften den Staat zum Fraß vorwirft, kommt als Problem noch dazu. Denn seine potentiellen Koalitionspartner wissen, dass er angesichts des drohenden Prozesses erpressbar ist. Dementsprechend hoch dürfte ihr „Preis“ bei den Koalitionsverhandlungen sein. Und was diese Kräfte wollen, ist klar: Eine Annexion der besetzten Gebiete einerseits, einen halachischen Staat, also einen Staat, der nach den Religionsgesetzen geführt wird, andererseits. Natürlich wird das nicht von heute auf morgen geschehen. Aber ein weiterer, wahrscheinlich sehr entscheidender Schritt wäre getan.

Tatsächlich sieht es so aus, als ob Netanjahu das Land für sein Eigenwohl unter die Räder zu werfen bereit ist. Er wird nicht müde, während dieses Wahlkampfes immer und immer wieder den Hass gegen „die Araber“, „die Linke“ und „die Medien“ zu schüren. Das hat er auch schon früher getan und damit die Spaltung der israelischen Gesellschaft vorangetrieben. Doch der Fanatismus, mit dem er nun gegen seine politischen Gegner hetzt, hat nichts mehr mit einer normalen demokratischen Auseinandersetzung zu tun. Und er kann es sich – scheinbar – leisten. Denn im Weißen Haus sitzt niemand, der ihn dafür zur Rechenschaft ziehen würde. Im Gegenteil. Selbst wenn Netanjahu lange vor der Wahl von Donald Trump ein herausragender Demagoge war, die drohende Gefängnishaft und das „Vorbild“ Trump erleichtern es ihm, alle Hemmungen fallen zu lassen.

Was das langfristig für Israel bedeutet, ist noch nicht abzusehen. So wie in Ungarn, in Polen, in Italien, Österreich und anderen europäischen Staaten der öffentliche Diskurs durch die Anti-Demokraten vergiftet wird – und natürlich in den USA –, so wie die AfD in den deutschen Bundesländern und längst auch im Bundestag den Ton der politischen Auseinandersetzung verändert, ihn schärfer, bösartiger, brutaler gemacht hat, so machen das auch Netanjahu und die Seinen.

Und selbst wenn Netanjahu die Wahlen verlieren sollte und damit endgültig die politische Bühne Israels verlassen müsste, sein Erbe wird auf Jahre hinaus wirken. Politiker wie Ayelet Shaked, die ehemalige Justizministerin, oder Naftali Bennett, der ehemalige Erziehungsminister, aber auch so mancher Likud-Politiker, werden den „Bibi-Sprech“ übernehmen oder tun das längst. Der Vater des Hasses wäre zwar weg, aber seine Kinder erfreuen sich bester Gesundheit und verbreiten sich.

Sollte der nächste Premier tatsächlich nicht mehr Netanjahu heißen, dann würde auf ihn innenpolitisch eine Herkulesarbeit warten. Er müsste das Land wieder einen, den Rassismus bekämpfen, die staatlichen Institutionen, allen voran die Justiz, schützen und das Vertrauen in sie wieder stärken. Er müsste eine neue Gesprächskultur voller Respekt, Achtung und Liberalismus im politischen Dialog wiederherstellen. Und das alles so ganz nebenbei, denn natürlich gibt es da auch noch den Konflikt mit den Palästinensern, die Gefahr aus dem Iran, den möglichen Krieg mit der Hizbollah im Libanon und/oder der Hamas in Gaza und vieles, vieles mehr.

Doch sollte Netanjahu es schaffen, dann ist niemand mehr da, der ihn aufhalten könnte. Trump interessiert es nicht, Putin ist ein „Bruder im Geiste“, die heillos zerstrittene und vielleicht auch bald zerfallende EU hat im Nahen Osten sowieso keinen Einfluss. Netanjahu könnte schalten und walten wie er will.

In diesen Tagen hört man in Israel immer wieder zwei Szenarien: „Wir werden dann das Land verlassen“ oder „Dann werden wir losziehen, um unsere Demokratie, den Rechtsstaat zurückzuerobern“. Israel könnte extrem schwierigen Zeiten entgegengehen. Doch wer glaubt, es könnte dann Bürgerkrieg geben, liegt falsch: Netanjahu hat es bei innenpolitischen Krisen noch immer geschafft, die Bedrohung von außen so hochzuspielen, dass alles in Reih und Glied fällt. Denn wenn es um das Überleben des jüdischen Staates geht, dann, aber nur noch dann, stehen alle Israelis wie ein Mann zusammen.