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Ende September demonstrierten in zwölf Städten in der West Bank, Gaza, Israel und der palästinensischen Diaspora Tausende gegen Femizide und Gewalt gegen Frauen in der palästinensischen Gesellschaft. Zu den Protesten hatte das Grassroots-Bündnis „Tal’at” unter dem Slogan „Kein freies Heimatland ohne freie Frauen” aufgerufen. Tal’at bedeutet „sie stehen auf” oder „sie gehen auf die Straße”. Mit ihren Slogans machten die Aktivistinnen und Aktivisten deutlich, dass sie nicht bereit sind, ihren Kampf für Frauenrechte und gegen genderspezifische Gewalt dem Streben nach politischer Unabhängigkeit unterzuordnen. Stattdessen stellten sie die beiden Anliegen in einen Zusammenhang und konnten ihre Forderungen so auf der politischen Agenda platzieren.

Der Aktionstag am 26. September bildete den Höhepunkt einer ganzen Reihe von Protesten, ausgelöst durch den Tod der 21-jährigen Israa Ghrayeb aus Beit Sahour, einem Vorort von Bethlehem. Israas Familie hatte behauptet, die 21-Jährige sei vom Balkon gestürzt und nach ihrer Behandlung im Krankenhaus an einem Schlaganfall verstorben. Die Demonstranten warfen der Familie dagegen vor, Israa brutal ermordet zu haben, nachdem sie auf Instagram ein Video mit einem Mann gepostet hatte, mit dem sie verlobt aber noch nicht verheiratet war. Israa arbeitete als Make Up-Artist und war als Beauty- und Modebloggerin bekannt. Noch aus dem Krankenhaus postete sie an ihre damals 12 000 Follower auf Instagram, dass sie die Termine im August und September absagen müsse und fügte hinzu: „Schickt mir keine Nachrichten, dass ich stark sein soll. Ich bin stark. Möge Gott diejenigen richten, die mich unterdrückt und verletzt haben."

Falls es im Westjordanland bei Femiziden innerhalb der Familie zur Anklage kommt, erhalten Angeklagte in der Regel mildere Urteile als in anderen Mordfällen.

Israas Fall löste in sozialen Medien, vor allem in den arabischen Ländern, Diskussionen über genderspezifische Gewalt aus, nachdem Aktivisten das Video einer Krankenschwester geteilt hatten, auf dem zu hören sein soll, wie männliche Verwandte die bereits im Krankenhaus liegende Frau weiter misshandeln. Zehntausende forderten unter den Hashtags „Wir sind alle Israa” und „Gerechtigkeit für Israa” auf Arabisch und Englisch eine Aufklärung des Falls und betonten, dass an sogenannten „Ehrenmorden” nichts ehrenhaft sei. In Beit Sahour und anderen Städten im Westjordanland begannen Aktivistinnen, Proteste und Mahnwachen zu organisieren, auf denen sie einen besseren Schutz von Frauen und eine Verschärfung des Strafrechts forderten.

Tatsächlich erklärte Premierminister Mohammad Shtayyeh nach Protesten vor seinem Büro in Ramallah auf Facebook: „Wir müssen die Gesetzgebung zum Schutz palästinensischer Frauen stärken”. Doch die Hürden für eine Verbesserung des Schutzes gegen Femizide und häusliche Gewalt und eine dahingehende Verschärfung des Strafrechts sind nicht nur aufgrund des Widerstandes sozial konservativer Eliten hoch. Zunächst einmal gibt es kaum Statistiken zu Femiziden und genderspezifischer Gewalt in der palästinensischen Gesellschaft. Die letzten Zahlen des Palästinensischen Statistikamtes zu der Problematik stammen aus dem Jahr 2011, wonach 37 Prozent der palästinensischen Frauen genderspezifische Gewalt erfahren haben, in Gaza waren es sogar 51 Prozent. Für das Jahr 2018 erfasste das in Jerusalem ansässige Women’s Center for Legal Aid and Counselling im Westjordanland und Gaza 23 Fälle, in denen Frauen durch Familienmitglieder ermordet wurden. Wie so oft bei dieser Art von Gewalt liegt die Dunkelziffer vermutlich höher. Auch in Israas Fall werfen Aktivisten den Behörden und dem medizinischen Personal vor, die Darstellungen der Familie zu Israas Sturz nicht hinterfragt und damit zur Verschleierung des Mordes beigetragen zu haben.

Falls es im Westjordanland bei Femiziden innerhalb der Familie zur Anklage kommt, erhalten Angeklagte in der Regel mildere Urteile als in anderen Mordfällen. Dabei orientieren sich die Gerichte unter anderem an einem Gesetz aus den Zeiten der jordanischen Besatzung von 1948 bis 1967, das ein geringeres Strafmaß vorsieht, wenn es sich bei dem Opfer um eine weibliche Verwandte des Angeklagten handelt. Ob die palästinensische Legislative dieser Praxis in absehbarer Zeit eine Verschärfung des Strafrechts entgegensetzen wird, ist äußerst fraglich. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Parlament der palästinensischen Autonomiebehörde seit dem Scheitern der Einheitsregierung von Hamas und Fatah im Jahr 2007 nicht mehr tagt. Somit könnte höchstens Präsident Mahmud Abbas mittels eines Notstandsgesetzes eine Gesetzesänderung erwirken. Abbas erklärte die Aufklärung von Israa Ghrayebs Tod zwar zur Chefsache, legte aber keinen neuen Gesetzesentwurf vor.

Auch „Tal’at” begegnete der Vorwurf, ihre Anliegen seien der Agenda der politischen Unabhängigkeit unterzuordnen.

Auch wenn es bis zur Verschärfung des Strafrechts noch ein langer Weg ist, war der 26. September für Tal’at ein Erfolg. Denn die Mobilisierung von tausenden Demonstranten im Kampf gegen Femizide und genderspezifische Gewalt ist in der palästinensischen politischen Arena keine Selbstverständlichkeit. Auch Tal’at begegnete der Vorwurf, ihre Anliegen seien der Agenda der politischen Unabhängigkeit unterzuordnen. „Manche Leute sagen: Unsere Priorität ist das Ende der Besatzung. Danach können wir uns um Frauen- oder LGBT-Rechte kümmern,” erklärt Maisan, die aus der Nähe von Haifa stammt und die Demonstration in Berlin organisiert hat. „Aber wir können Unterdrückung und Gewalt nicht in Einzelteilen bearbeiten. Ich will nicht die Besatzung beenden, um dann immer noch in einer Gesellschaft zu leben, die mich ablehnt und wo ich mich nicht ausdrücken kann, wie ich will.”

Die Aktivisten betonten in ihren Statements weiter, dass es sich bei Gewalt gegen Frauen und LGBTs um ein globales Problem handele, das unter der externen Gewalt der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete jedoch noch verstärkt werde. Daher seien sowohl der Mord an Israa Ghrayeb als auch der Angriff auf einen palästinensischen transgender-Teenager durch seinen Bruder Anfang August im Zusammenhang mit der strukturellen Gewalt des Konflikts zu verstehen. Auch Maisan erklärt den Erfolg von Tal’at damit, dass es den Aktivisten gelungen sei, ihren Kampf für Frauen- und LGBT-Rechte mit der Schaffung einer inklusiven Bewegung gegen die israelische Besatzung zu verbinden.