Ende November 2024 haben Aufständische mit ihrem dramatischen Angriff auf Aleppo – das als Symbol für die Wiederherstellung der Assad-Herrschaft galt – die vom Regime errichtete Fassade der Stabilität erschüttert. Mit ihrer Überraschungsoperation „Abschreckung der Aggressionen“ bereitete die Rebellengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) der jahrelangen Kontrolle des Regimes über den westlichen Teil der Provinz Aleppo ein jähes Ende und eroberte am 30. Novemberdie Provinzhauptstadt. Parallel nutzten Einheiten der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalarmee (SNA) die Gelegenheit und nahmen mit ihrer Operation „Morgendämmerung der Freiheit“ die kurdisch besetzten Gebiete nördlich und östlich von Aleppo ins Visier. Der Doppelangriff destabilisiert die Region, schwächt Assads Streitkräfte und verschärft die ohnehin angespannte Gesamtsituation.

Das Wiederaufflammen der Kampfhandlungen nach fast zehn Jahren abwartender Ruhe rückt die grundlegenden Schwachpunkte des Assad-Regimes in den Blick und offenbart, dass dieses Regime ohne Unterstützung von außen nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft zuverlässig für Stabilität zu sorgen. Die Oppositionskräfte sind sichtlich wiedererstarkt und zwingen die regionalen und internationalen Akteure, ihre Strategien zu überdenken. Auch wenn Assads Truppen sich um die Stadt Hama neu formieren, welche Berichten zufolge von HTS am 5. Dezember eingenommen wurde, macht die Offensive deutlich, wie labil die Macht ist, an die das Regime sich klammert. Für diejenigen in Europa, die für eine Normalisierung der Beziehungen zu Assad werben, ist das eine deutliche Warnung: Eine solche Normalisierung ist strategisch falsch und wird weder zu dauerhafter Stabilität führen noch die Migration eindämmen.

Nachdem das Regime 2016 Aleppo und andere Gebiete wieder unter seine Kontrolle gebracht hatte, strickte es sich ein ausgefeiltes Narrativ zurecht: Assad hat gesiegt – und Syrien ist wieder sicher und stabil. Diese Illusion wird durch die aktuellen Geschehnisse zunichtegemacht. Assads Truppen leisteten keine oder nur wenig Gegenwehr und offenbarten einige gravierende strukturelle Defizite. Die schnellen Geländegewinne der HTS ließen die militärischen Schwachstellen des Regimes erkennbar werden und verschärfen seine Abhängigkeit von externen Akteuren wie Iran und Russland. Die schlecht ausgerüstete und überforderte syrische Armee zeigte keine schlagkräftige Reaktion, sodass wichtige Gebiete schutzlos blieben. Verschärfend kam hinzu, dass durch die – wenngleich wohl nur partielle – Verlagerung der Hisbollah ein Sicherheitsvakuum entstanden ist. Assads Truppen bemühen sich mit Hochdruck, sich neu zu sortieren, aber jede Gegenoffensive setzt vermutlich Unterstützung aus Teheran und Moskau voraus – und diese hat einen hohen Preis.

Russlands Reaktion war wichtig, fiel aber zurückhaltend aus. Zwar verschaffte es mit seinen Luftangriffen Assads bedrängten Truppen ein wenig Entlastung, aber Moskaus Forderung, das Regime solle „die verfassungsmäßige Ordnung schnell wiederherstellen“, lässt darauf schließen, dass Russlands Begeisterung für ein intensiveres Engagement sich in Grenzen hält. Das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass Moskau sich strategisch grundsätzlich neu ausrichtet, weil der Ressourceneinsatz in der Ukraine für Russland Vorrang hat. Eine andere Möglichkeit ist, dass Russland Assads geschwächte Position ausnutzen will, um die angestrebte Annäherung zwischen Erdogan und Assad voranzubringen, gegen die der syrische Machthaber sich in den vergangenen Monaten beharrlich gesperrt hat. Parallel wird erwartet, dass Iran sich stärker engagieren und möglicherweise durch die Entsendung von Truppen – vor allem von unterstützenden Milizen – Assad den Rücken stärken wird. Dadurch gerät Assad noch stärker unter den Einfluss Teherans, büßt noch mehr Autonomie ein und wird sich sein „kalkuliertes Schweigen“ im Krieg zwischen Israel und der Hisbollah noch weniger leisten können.

Assads Handlungsspielraum zwischen dem wachsenden Einfluss Teherans und möglichen israelischen Vergeltungsaktionen schrumpft zusehends. Israel ist entschlossen, den iranischen Einfluss in Syrien einzudämmen, und könnte die instabile Situation ausnutzen. Damit riskiert Israel allerdings, Assad noch mehr in die Arme des Iran zu treiben und die Bestrebungen der USA und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Assad von Teheran loszueisen, zu erschweren. Auf der anderen Seite kann es sein, dass der Iran wegen seiner eigenen Sorgen und die Hisbollah aufgrund ihres verminderten Interesses in ihrer Unterstützung nachlassen.

Die koordinierte Bodenoffensive unter Einsatz von Drohnen und anderen hoch entwickelten Technologien wirkt wie eine lange und sorgfältig geplante Aktion.

Die Operation „Abschreckung der Aggressionen“ war definitiv weder spontan noch planlos. Die koordinierte Bodenoffensive unter Einsatz von Drohnen und anderen hoch entwickelten Technologien wirkt wie eine lange und sorgfältig geplante Aktion. Zudem gingen der Operation, die erklärtermaßen das Regime von weiteren Kampfhandlungen abschrecken soll, ein Monat verstärkter russischer Luftangriffe auf verschiedene Örtlichkeiten in Idlib und breit kursierende Gerüchte über eine möglicherweise bevorstehende Militäroperation voraus.

Einerseits stärkt die Offensive in Aleppo die syrische Opposition und beweist, dass sie sehr wohl in der Lage ist, das Regime herauszufordern, nachdem es seit 2016 nicht danach ausgesehen hatte. Die HTS verfolgte mit ihrer Operation vermutlich mehrere Ziele: Sie will sich für den Fall, dass es zu Gesprächen zwischen der Türkei und dem syrischen Regime kommt, eine stärkere Verhandlungsposition sichern, indem sie auf die Unzufriedenheit der Zivilbevölkerung eingeht und sich mehr Territorium und Ressourcen für die Vertriebenen verschafft, die sich bei ihr in Idlib aufhalten. Die Instabilität in der Region bot eine einmalige Chance, der lang anhaltenden Pattsituation ein Ende zu bereiten. Die taktischen Erfolge machen die Opposition wieder zu einer maßgeblichen Größe und verschaffen ihr mehr Druckmittel gegenüber allen Beteiligten – und das könnte großen Einfluss auf die Gespräche haben, die vermutlich in Gang kommen werden, wenn der Sturm sich wieder gelegt hat.

Andererseits wird durch die Operation „Morgendämmerung der Freiheit“ sichtbar, dass unterschiedliche Ziele verfolgt werden – was der Türkei und ihrer eigenständigen Agenda in die Hände spielt. Ankara hat das Chaos in Aleppo als Gelegenheit genutzt, um seinen langfristigen Zielen näherzukommen. Durch die Operation erzielte die Türkei erhebliche Geländegewinne in Tel Rifat, drängte die kurdischen Einheiten weiter zurück und stabilisierte damit ihre angestrebte Pufferzone. Dass die Türkei sich taktisch mit den Oppositionseinheiten abstimmt, zeigt, dass Ankara Einfluss sowohl auf die Kurden als auch auf Assad gewinnen will – den sie an den Verhandlungstisch bringen möchte. Auf lange Sicht könnte die wachsende Dominanz der HTS Ankaras Interessen gefährden.

Die Opposition wirkt zwar nach außen geeint, ist aber nach wie vor tief gespalten. Diese Schwachstelle könnte die jüngsten Erfolge untergraben. Die Ziele der HTS und der von der Türkei unterstützten Kräfte werden schon bald miteinander kollidieren und es beiden erschweren, die erzielten Fortschritte mittelfristig zu sichern, zumal wenn es – was wahrscheinlich ist – zu Konflikten über Führungs- und Ressourcenfragen kommt. Außerdem sind der dschihadistische Charakter der HTS und die Tatsache, dass sie von vielen westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, zusätzliche Hürden für eine mögliche internationale Anerkennung und Unterstützung der Organisation. Wenn die Opposition nicht zu Geschlossenheit und einer kohärenten Strategie findet, droht die Gefahr, dass sie die in Aleppo entfachte Dynamik aufs Spiel setzt. Damit würde sie den Ball wieder zur Türkei zurückspielen, sodass die das Spielfeld nach ihren eigenen Vorstellungen umgestalten könnte. Die Ereignisse sind allerdings so sehr im Fluss, dass die Dinge sich auch in unerwartete Richtungen entwickeln können.

Durch Donald Trumps Wiederwahl ist weitgehend ungewiss, wie die Syrienpolitik der USA künftig aussehen wird.

Durch Donald Trumps Wiederwahl ist weitgehend ungewiss, wie die Syrienpolitik der USA künftig aussehen wird. Das „Disengagement“, das er in seiner ersten Amtszeit betrieb, und insbesondere der Rückzug der US-Truppen 2019 liefern eine mögliche Vorlage für die künftige Gestaltung der Dynamik in der Region. Ein deutliches Indiz für diesen Kurswechsel ist die Nominierung von Tulsi Gabbard als US-Geheimdienstkoordinatorin. Sie ist für ihre anti-interventionistische Haltung bekannt und unterstützt eine Wiederannäherung an Assad. Dies könnte ein Signal für eine versöhnlichere Gangart gegenüber dem syrischen Regime sein. Solche Veränderungen könnten die Oppositionskräfte an den Rand drängen und die kurdisch geführte Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) schwächen, die damit durch türkische Vorstöße und die Instabilität in der Region gefährdet würde. Wenn die USA ihr Engagement zurückfahren, könnten zudem Bedrohungen wie ein Wiedererstarken des ISIS zunehmen und den Norden Syriens weiter destabilisieren.

Was die internationale Gemeinschaft – und vor allem Europa – aus der jetzigen Situation lernen sollte, ist klar: Stabilität in Syrien lässt sich nicht auf dem wackeligen Fundament einer Normalisierung der Beziehungen zu Assad aufbauen. Die Offensive in Aleppo macht deutlich, wie fragil das Regime und wie unberechenbar der Konflikt in Syrien nach wie vor ist. Für eine nachhaltige Lösung des Konflikts braucht es mehr als kurzfristige Zwischenlösungen und mehr als ein Engagement, das an der Oberfläche bleibt. Gefordert ist eine Langzeitstrategie, die sich an Prinzipien orientiert, die Ursachen der Instabilität an der Wurzel packt und die Fehler des bisherigen Umgangs mit dem vermeintlich „eingefrorenen Konflikt“ in Syrien korrigiert.

Die EU-Politik der „Drei Neins“ – keine Normalisierung, kein Wiederaufbau, keine Lockerung der Sanktionen – bietet nach wie vor einen entscheidenden Schutz vor diesen Gefahren. Europa muss jedoch proaktiver werden. Angesichts der Aleppo-Offensive sollte die EU ihre Unterstützung für die gemäßigten Kräfte innerhalb der Opposition intensivieren, die Rechenschaftspflicht und damit auch ihre abschreckende Wirkung mit Blick auf Kriegsverbrechen stärken und die humanitäre Hilfe zur Priorität machen, damit die katastrophalen Lebensbedingungen der Vertriebenen sich verbessern. Wenn Europa sinnvoll dazu beitragen will, dass Syrien auf seinem Weg zu dauerhafter Stabilität unterstützt wird, braucht es ein festes und umfassendes Gesamtkonzept.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld