Im Jemen, genauer gesagt im von den Huthis kontrollierten Nordwesten des Landes, sitzen aktuell etwa 60 lokale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter internationaler und zivilgesellschaftlicher Organisationen in Haft. Sie wurden schlicht entführt. Aufenthaltsorte unbekannt, Angehörige werden nicht informiert, der Zugang für Anwälte oder Medikamente wird verweigert. Experten nennen dies incommunicado. Unter den Entführten sind Mitarbeiter der Vereinten Nationen, von Botschaften sowie humanitäre Helfer, die sich seit Jahren für Wasserversorgung, Dezentralisierung oder Energieprojekte im Jemen einsetzen. Zwar wird internationales Personal auch in anderen Ländern der Welt abgehört und mitunter schikaniert, aber die seit Mai lancierte Verhaftungswelle der Huthis in Sana’a ist beispiellos. Internationales Personal ist bisher nicht betroffen. Noch nicht.  

Seit Jahren verschieben die Huthis die Linien akzeptierten Verhaltens auf internationaler Bühne. Sie eskalieren, provozieren, greifen an. Das alles folgt einem gut durchdachten Plan. Zehn Jahre ist die erstmalige Besetzung von Sana’a nun her. Zu diesem Zeitpunkt begannen Drangsalierung, Enteignung und Verhaftung innenpolitischer Gegner und die Einrichtung eines regelrechten Terrorregimes gegen die eigene Bevölkerung. So manches erinnert dabei an die Taliban. Vormalige Errungenschaften wie das Parlament, Pressefreiheit oder der Schulbesuch von Jungen und Mädchen wurden seither systematisch zurückgedreht, meist mit Verweis auf vermeintliche Gegner von außerhalb. Anstatt sich auf die wirtschaftliche Entwicklung des zerstörten Landes zu konzentrieren, wurden neue Kriegsabgaben eingeführt; bei Zahlungsverweigerung droht Inhaftierung. Gleichzeitig warten die Angestellten des öffentlichen Dienstes in den von den Huthis besetzten Gebieten seit Jahren auf ihre Gehälter. Der Nordwesten Jemens wird systematisch verarmt, Expertinnen und Experten schätzen die dortige Armutsquote mittlerweile auf etwa 90 Prozent. Weltrekord.

Als Reaktion der „Achse des Widerstands“ auf den Einmarsch Israels in Gaza haben die Huthis seit Oktober 2023 den Schiffsverkehr im Roten Meer gezielt gestört. Erst diese Woche attackierten sie mutmaßlich den griechischen Öltanker „Sounion“. Mindestens 30 Schiffe wurden durch Drohnenangriffe beschädigt, zwei Schiffe sanken, der beschlagnahmte Autotransporter Galaxy Leader liegt weiter im Hafen von Hodeidah und kann gegen Gebühr von fünf US-Dollar sogar besichtigt werden. Seither müssen die USA und europäische Partner in die Sicherheit der Seeschifffahrt im Roten Meer investieren. Am 19. Juli dieses Jahres konnten die Huthis dann die nächste Eskalationsstufe zünden: Mit einer modifizierten Samad-3-Drohne iranischer Bauart gelang ein direkter Angriff auf Tel Aviv; ein Mensch starb. Für den Versuch der Huthis, sich als direkte Kriegspartei zu etablieren, revanchierte sich die israelische Luftwaffe tags darauf mit der Zerstörung wichtiger Ölreserven in Hodeidah. Aus innenpolitischen Gründen war der Bezug ihres Kampfes zur Palästinafrage ein geschickter Schachzug der Huthis, denn so konnten sie ihrer schwindenden Unterstützung im Jemen entgegenwirken.

Kidnappings sind keine neue Strategie der Huthis.

In den letzten Wochen haben die Huthis immer stärker die internationale Gebergemeinschaft ins Visier genommen, insbesondere aber deren zivilgesellschaftliche Partner im Jemen. Bereits seit 2018 beschwert sich das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) über den systematischen Missbrauch und die Instrumentalisierung der Nahrungsmittelhilfe durch die Huthis. Der Supreme Council for the Management and Coordination of Humanitarian Affairs (SCMCHA), bei dem sich internationale Organisationen registrieren müssen, um arbeitsfähig zu werden, wurde gezielt mit Huthis besetzt und wies zivilgesellschaftliche Partner der UN zuletzt immer vehementer an, nur mit Huthi-freundlichen Organisationen zusammenzuarbeiten oder Huthis gar in ihren Personalbestand zu integrieren. Einige internationale Organisationen gaben dem Druck nach.

Im Juni dann ließen die Huthis verlautbaren, sie hätten ein israelisch-amerikanisches Spionagenetzwerk im Jemen ausgehoben und veröffentlichten Videos vermeintlicher Geständnisse vormaliger Mitarbeiter der US-Botschaft in Sana’a. Sie verstärkten dies mit eindrücklichen visuals in sozialen Netzwerken und ihren Fernsehkanälen, in denen die Logos internationaler Partner, auch deutscher, als Teil dieses Spionagerings aufgeführt wurden. Anfang August schließlich stürmten die Huthis das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen in Sana’a, konfiszierten Fahrzeuge, Mobiliar und Server. Ein selten gesehener Vorgang. Besagte Verhaftungswelle ging voran.

Kidnappings sind keine neue Strategie der Huthis. Bereits in den Jahren 2019 und 2023 hatten die Huthis lokales Personal verschleppt. Aber die nun angezogenen Daumenschrauben wirken innenpolitisch massiv nach. Es geht dabei weniger um 60 Einzelschicksale, die den Huthis momentan als Verhandlungsmasse dienen, sondern vielmehr um das Streuen von Zweifeln an internationalen Partnerschaften insgesamt. Als Jemenit für internationale Organisationen zu arbeiten, wird mit jedem Monat riskanter, und zwar nicht nur im Norden, sondern auch im Süden des Landes, das unter der Kontrolle der sogenannten legitimen Regierung steht. 

Jene neue Provokation der Huthis beschäftigt vor allem die westliche Staatengemeinschaft. Sorgen werden zum Ausdruck gebracht, Mahnungen wiederholt oder rhetorisch verschärft. Hans Grundberg, Sondergesandter der Vereinten Nationen, fasste dies vor dem UN-Sicherheitsrat am 23. Juli 2024 in eindringlichen Worten und durchaus glaubwürdig so zusammen: Ein Kipppunkt für die Zukunft des Jemen sei erreicht. Dennoch, trotz aller Emotionen, bleibt die internationale Reaktion auf die Aktionen der Huthis erstaunlich moderat. Vormals rote Linien wurden zunächst rosa, schließlich verblassten sie ganz.

Selbst kleinste konkrete Vereinbarungen wurden durchweg gebrochen.

In den vergangenen Jahren hatte die internationale Gemeinschaft sehr wohlwollend auf jede neue Forderung der Huthis reagiert und sah regelmäßig über die Verletzungen individueller Freiheitsrechte oder die Stigmatisierung internationaler Hilfe hinweg. Man könne die Menschen in der desaströsen wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht allein lassen und wolle die Huthis in einem laufenden politischen Dialog nicht verprellen. Trotz aller Eskalation war das Verständnis des Westens für die Huthis immens, die indirekte Unterstützung blieb. 

Dieses Appeasement hat die Machtbasis der Huthis gestärkt und ihnen den Eindruck vermittelt, auf dem richtigen Weg zu sein. Sie konnten es sich erlauben, immer wieder Emissäre zu internationalen Foren oder informellem backchanneling zu entsenden, um in ihrem Namen an Gesprächen oder auch Verhandlungen teilzunehmen. Ergebnis: Selbst kleinste konkrete Vereinbarungen wurden durchweg gebrochen. Eine Reaktion der internationalen Partner blieb regelmäßig aus. 

Dieses Verständnis bringt die Huthis ihrem eigentlichen Ziel näher: der Errichtung eines eigenen Staates unter ihrer Kontrolle. Die Zweiteilung des Jemen schreitet seit nunmehr zehn Jahren voran. Dabei wird dies nicht politisch verhandelt wie etwa im Falle des Sudan/Südsudan, sondern auf unteren Ebenen Schritt für Schritt bereits heute vollzogen. Kommunikationsnetze werden separiert, staatliche Stellen in Nord und Süd geteilt, Sozialversicherungssysteme getrennt, das einheitliche Banken- und Währungssystem des Landes aufgegeben. Die Vertreter des Southern Transitional Council vermeiden gar die Verwendung des Begriffs „Jemen“. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn das Land in absehbarer Zeit seine eigene Zwei- oder gar Mehrstaatenlösung bekommt, ganz ohne Beteiligung der UN. Die internationale Gemeinschaft hat dies durch die Beschwichtigungspolitik gegenüber den Huthis jahrelang indirekt mitbefördert.

Beobachter der internationalen Politik haben sich zuletzt an die Zunahme von Unübersichtlichkeit und Chaos gewöhnt. Das Gewöhnen an Außerordentliches oder Sonderbares endet mitunter in Akzeptanz. Im Falle Jemens heißt dies: Ein tribal-religiöser Apparat konsolidiert sich zu einem Staat, und in Zeitlupe verfolgen wir eine nationale Häutung des Jemen ins Ungewisse. Ja, man kann die Veränderung eines Landes in einen anderen Daseinszustand aktiv dulden, sofern man die Konsequenzen nicht aus dem Blickfeld verliert. Andernfalls könnte nur eine massive diplomatische und robuste sicherheitspolitische Mehranstrengung diesen fahrenden Zug noch zum Stillstand bringen. Voraussetzung dafür wäre, seine eigenen roten Linien wieder als das aufzubauen, was sie einst waren: kommunizierte Triggerpunkte für eine echte außenpolitische Reaktion, die einem den Umgang mit der Situation selbst, aber auch mit der eigenen Courage erleichtern. Die 60 Verschleppten würden ein proaktiveres Engagement sicher begrüßen.