Der EU-Außenbeauftragte Borell äußerte kürzlich mit Blick auf die Parlamentswahlen im Irak die vorsichtige Hoffnung, dass diese Wahl – so sie denn frei und fair ablaufe – ein „Meilenstein für die demokratische Konsolidierung des Landes“ werden könnte. Borell hat gute Gründe, diesen Satz so vorsichtig zu formulieren.

Die bisher größten Massenproteste der irakischen Geschichte im Oktober 2019 hatten die Regierung zu Fall gebracht und sowohl eine Änderung des Wahlrechts als auch vorgezogene Neuwahlen bewirkt. Die Kernforderungen der Tischrin-Bewegung, der maßgeblichen Kraft hinter den Protesten, nämlich eine grundlegende Reform des politischen Systems und die Abschaffung der sogenannten Muhassassa, wurden jedoch nicht erfüllt.

Muhassassa steht für einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag, der seit 2004 im Irak Posten und Macht entlang eines ethno-konfessionellen Schlüssels verteilt. Während dieses System in der Zeit nach Saddam Hussein sicherstellen sollte, dass keine Volksgruppe je wieder eine andere würde unterdrücken können, hat es in den Folgejahren eine destruktive Metamorphose durchlaufen. Für die Tischrin-Bewegung ist Muhassassa eine Chiffre für politisch geförderte Korruption. Denn sie erlaubt den etablierten schiitischen aber auch sunnitischen und kurdischen Parteien die systematische Plünderung des Staates. Durch ein ausgeklügeltes System der Aufteilung von Schlüsselpositionen in der Verwaltung ist sichergestellt, dass sich die demokratisch legitimierte Regierung, wann immer es ums Geld oder um Arbeitsplätze geht, mit den nicht demokratisch legitimierten Parteiführungen ins Benehmen setzen muss.

Muhassassa steht für einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag, der im Irak Posten und Macht entlang eines ethno-konfessionellen Schlüssels verteilt.

In der Folge entstand ein völlig aufgeblähter, aber gleichzeitig ineffizienter öffentlicher Dienst, der circa ein Viertel des BIP konsumiert und Gehälter und Renten an elf Millionen Personen bezahlt – bei 40 Millionen Einwohnern. Darunter sind auch eine geschätzte halbe Million sogenannter ghost workers – also Personen, die ein Gehalt beziehen, dafür aber nirgendwo tatsächlich arbeiten.

Eine andere Nebenwirkung der Muhassassa ist, dass Minister sich häufig nicht in der Lage sehen, Kabinettsbeschlüsse durchzusetzen oder eingegangene Verträge zu erfüllen, weil sie von Inhabern sogenannter „Spezialgrad“-Positionen im eigenen Haus sabotiert werden. Spezialgrad-Beamte gibt es im gesamten öffentlichen Dienst; sie werden besser bezahlt als die Gehaltstabelle es eigentlich vorsieht. Außerdem besetzen sie in der Regel Funktionsstellen, an denen es etwas für die Parteien Interessantes zu entscheiden oder zu sabotieren gibt. Die Regierungsbildung dauert traditionell auch deshalb so lange, weil etwa 600 Spezialgrad-Stellen nach jeder Wahl von den Parteien als Verhandlungsmasse der Muhassassa neu ausdiskutiert und besetzt werden. Die Tischrin-Bewegung wollte diese Praxis, die Korruption zur DNA des politischen Systems hat werden lassen, skandalisieren und abschaffen. Das hat sie leider nicht geschafft.

Die Tischrin-Bewegung wollte diese Praxis, die Korruption zur DNA des politischen Systems hat werden lassen, skandalisieren und abschaffen.

Wie bei den Wahlen 2018 werden den einschlägigen Prognosen zufolge die meisten der 329 Sitze auf Kandidierende der großen drei schiitischen, drei sunnitischen und zwei kurdischen Lager entfallen – daran hat auch das neue Wahlrecht nichts geändert. Den neuen Kandidaten der Tischrin-Bewegung werden zwischen 18 und 26 Sitze vorausgesagt. Angesichts der Tatsache, dass die größte Fraktion im letzten Parlament nur 54 Sitze hatte, wäre das eine beachtliche Zahl. Und sie könnte vermutlich sogar noch höher liegen, hätte nicht ein großer Teil der ursprünglichen Bewegung gemeinsam mit den irakischen Kommunisten bereits angekündigt, die Wahl zu boykottieren. Die Zahl der erzielten Mandate käme auch nur dann zum Tragen, wenn sich die Tischrin-Abgeordneten zu einer Fraktion zusammenschlössen, um das System der Muhassassa mit einem Marsch durch die Institutionen von innen zu bekämpfen. Das ist jedoch wegen erkennbarer Uneinigkeit derzeit wenig wahrscheinlich. Stattdessen ist absehbar, dass unter den relevanten Strippenziehern die usual suspects sein werden: eine überschaubare Gruppe von fast ausschließlich Männern, die kein Interesse an einer grundsätzlichen Änderung des Systems haben, das bislang ihre Macht, Mitsprache und die Finanzierung ihrer Bewegungen effizient sichert.

Parlamentarische Oppositionsarbeit als ein Versuch, den Wählerinnen und Wählern eine Alternative zu präsentieren, hat im Irak keine Tradition. Diese Option bleibt auch für die Zukunft eher unwahrscheinlich, weil Opposition auch bedeutet, bei der Wohlstandsverteilung nicht am Tisch zu sitzen, und somit einem Verzicht auf ein Stück vom Öl-Kuchen gleichkommt. Trotz der Proteste sind Verschiebungen in der Machtbalance zwischen den Parteien allenfalls graduell zu erwarten.

Mit seinen guten Beziehungen zu allen Rivalen der Region könnte Premierminister Kadhemi einen wichtigen Beitrag zur regionalen Stabilität leisten.

Premier Mustafa Kadhemi hat anders als seine Vorgänger auf eine eigene Liste verzichtet. Er hofft auf eine zweite Amtszeit als Kompromisskandidat der erwähnten „Männer der Macht“. Wenn das gelänge, wäre es nicht das schlechteste für den Irak und die Region. Zwar sind mehrere seiner Reformbemühungen an der Veto-Macht einzelner Parteien – und der von ihnen gestützten Milizen – gescheitert. Kadhemi hat aber gezeigt, dass er sich nicht entmutigen lässt. Selbst die Ermordung eines Vertrauten durch eine pro-iranische Miliz hat ihn nicht an – bislang überwiegend vergeblichen – Versuchen gehindert, die Macht der Milizen zu beschränken. Die allgemeine Sicherheitslage hat sich in seiner Regierungszeit verbessert. Außenpolitisch hat er viel geleistet und wäre sicher in der Lage, seine positive Rolle als Vermittler zwischen Iran und den Golfstaaten weiter auszubauen. Mit seinen guten Beziehungen zu allen Rivalen der Region könnte er einen wichtigen Beitrag zur regionalen Stabilität leisten.

Die Wahl im Irak entscheidet nur über die Zusammensetzung des Parlaments, welches sich dann auf die Besetzung der Regierungsämter verständigen muss. Eine Prognose über Kadhemis Chance, als Premierminister im Amt zu bleiben, wäre daher derzeit gewagt. Was allerdings das Kernanliegen der Tischrin-Bewegung angeht, nämlich die Abschaffung des Muhassassa-Systems, ist die Aussicht klarer: Diese Wahl wird den dafür erforderlichen Wandel nicht einläuten.