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Für fast vier Jahre konnte die Welt nun das bizarre Schauspiel der Dysfunktionalität der Trump'schen Präsidentschaft betrachten. Der „Höhepunkt“ wurde in diesem Jahr erreicht als die US-Administration im Umgang mit der Covid-19-Pandemie und mit den daraus resultierenden Krisen vollständig versagte. Gefangen im primitiven America-First-Nationalismus des Präsidenten, erhob die einst stolze Führungsmacht des Westens nicht einmal den Anspruch, die globale Antwort auf Corona zu bestimmen. Das Ansehen der USA ist auf einen absoluten Tiefpunkt gesunken und die internationale Zusammenarbeit hat einen schweren Schaden genommen. Davon bleiben auch die USA selbst nicht unberührt.

Die Corona-Pandemie hat die Mängel des amerikanischen Gesundheitssystems offengelegt, so sind fast eine Viertelmillion Amerikanerinnen und Amerikaner der Krankheit erlegen. Lebensrisiken sind in den USA unzureichend durch die öffentliche Hand abgesichert, daher sind die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie immens. Hohe Arbeitslosigkeit und unzählige Geschäftsschließungen und Pleiten treffen die Arbeitnehmerschaft und die Mittelschicht der USA hart. Ein krasser Gegensatz, schaut man auf den noch immer sehr lukrativen Aktienmarkt.

Die wachsende Ungleichheit hat sehr verschiedene Lebensrealitäten in den USA geschaffen. Der daraus folgende politische Schaden für die amerikanische Demokratie, veranlasst manche Kommentatoren bereits, darüber zu spekulieren, ob nicht ein erneuter Bürgerkrieg bevorstehe. Ich halte solche Überlegungen für abwegig. Vielmehr sollten wir unser Augenmerk auf das komplette Versagen des Rechtspopulismus amerikanischer Prägung im Angesicht der Krise legen. Die Trump-Administration ist nicht in der Lage, reale Probleme zu lösen oder sich um die praktischen Bedürfnisse der Bevölkerung zu kümmern, vielmehr versucht Trump, durch seine Hetze von den realen Problemen und dem eigenen Versagen abzulenken. Er nutzt emotionale Notlagen aus, um das Land weiter zu spalten.

Heute hat Amerika die Möglichkeit, Trump abzuwählen und seinen demokratischen Herausforderer zum Präsidenten zu machen. Joe Biden mag manchen als nicht besonders inspirierender Kandidat erscheinen, dabei ist ein Präsident Biden durchaus vielversprechend. Zusammen mit Kamala Harris tritt er mit einem sehr progressiven Programm an. Es verspricht eine Politik mit Augenmaß und Verstand, die die Gesellschaft zum Besseren verändern will. Wunden sollen heilen und durch ernsthafte Führung sollen spürbare Ergebnisse erzielt werden. Konkret will er Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen massiv entlasten.

Heute hat Amerika die Möglichkeit, Trump abzuwählen und seinen demokratischen Herausforderer zum Präsidenten zu machen.

Während sich die linke Sozialdemokratie mehrheitlich enttäuscht zeigte, dass gerade Biden die Nominierung gewann, legte dieser im Wahlkampf eine steile Lernkurve hin und machte früh deutlich, dass er ein möglichst breites Bündnis schmieden wolle, um Donald Trump zu schlagen. Das Zusammenführen hält Joe Biden für unerlässlich. Entsprechend hat er alle Strömungen und Lager eingeladen und so ein zukunftsweisendes und umfangreiches Wahlprogramm für die Demokraten entwickelt. „United“, also „Gemeinsam“ lautet sein Schlachtruf.

Auch das Land will Biden zusammenführen. Er will nicht nur Würde und Anstand ins Weiße Haus zurückbringen, er steht auch für eine verlässliche sowie integre Politik. Es geht nicht mehr darum, den Status von vor 2016 wiederherzustellen, dafür haben sich die US- Gesellschaft und die internationalen Rahmenbedingungen zu sehr verändert. Die zentralen Lebensrisiken Krankheit und Arbeitslosigkeit sollen besser abgesichert werden; Zugänge zu Bildung und bezahlbarem Wohnraum sollen verbessert werden; und Pflege und frühe Erziehung sollen stark gefördert werden, damit alle Familien daran teilhaben können. Große Konjunkturprogramme sollen die USA zukunftsfähig machen und den Umbau der Industriegesellschaft voranbringen.

Die Biden-Harris-Agenda bedeutet keine Revolution, aber sie ist machbar und kann schnell Ergebnisse erzielen, was angesichts der Krise von großer Wichtigkeit ist. Insbesondere dann, wenn den Demokraten heute gelingen sollte, nicht nur die Mehrheit im Repräsentantenhaus zu verteidigen, sondern auch die Senatsmehrheit zu erobern. Biden bringt viel politische Erfahrung in seine wahrscheinliche Präsidentschaft ein und er versteht es, Politik im Gesetzgebungsprozess zu realisieren.

Aus deutscher oder europäischer Sicht ist natürlich besonders interessant, wie sich die amerikanische Außenpolitik entwickeln wird. Im Wahlkampf spielte diese eigentlich keine Rolle, aber Biden betonte immer wieder, wie sehr ihm die Stellung der USA in der Welt am Herzen liegt. Mit einer Biden-Regierung wäre ein glaubhafter Einsatz für Demokratie und eine internationale Ordnung des Rechts wieder möglich.

Die Biden-Harris-Agenda bedeutet keine Revolution, aber sie ist machbar und kann schnell Ergebnisse erzielen.

Unter Biden wird es auch Bestrebungen einer gewissen Rückwendung der USA nach Europa geben, allerdings nicht um Europa zu schützen, sondern vielmehr um mit der EU und den europäischen Staaten zusammenzuarbeiten und ein neues transatlantischen Verhältnis auszuloten. Dabei wird es Biden um die Verteidigung einer internationalen Ordnung gehen, die auf internationalen Regeln basiert und in der die Demokratien den Ton angeben. Er wird von Europa und Deutschland Vorschläge erwarten, was diese zur Stabilisierung und zum Erhalt dieser Ordnung beitragen wollen und wie gemeinsam gegen Störungen vorgegangen werden soll.

In Washington entwickelt sich ein Verständnis dafür, dass es bei den amerikanischen Beziehungen zu Europa nicht nur um militärische Beziehungen oder wirtschaftliche Interessen geht, sondern das andere, vermeintlich „weichere“ Fragen von großer Wichtigkeit sind, da sie eindeutig existenziell sind: die Klimakrise, der Umgang mit Corona und zukünftigen Pandemien sowie Arbeitsbedingungen und soziale Wohlfahrt. Ein neues transatlantisches Handelsabkommen könnte nicht nur Handelsstandards, sondern auch Sozial- und Verbraucherstandards festlegen.

Die Überholung dysfunktionaler multilateraler Institutionen, wie etwa der Weltgesundheits- oder der Welthandelsorganisation wäre ein weiterer potenzieller Bereich für die Zusammenarbeit. Stellen wir uns vor, was im Januar 2020 hätte passieren können, wenn sich die USA, die EU und China ehrlich miteinander über das neuartige Coronavirus ausgetauscht hätten und vielleicht sogar gemeinsame Lösungen zum Umgang mit der Krise entwickelt hätten.

Die letzten vier Jahre in den USA waren ein katastrophaler Flirt mit Rechtspopulismus und Extremismus. Heute bekommen wir sehr wahrscheinlich die Gelegenheit, die Wunden in der amerikanischen Demokratie und Gesellschaft zu heilen sowie die transatlantische Partnerschaft jenseits von Verteidigungskooperation und Wirtschaft neu zu erfinden. Bleibt die Frage, wer Bidens fortschrittliche europäische Gesprächspartner sein werden und wie gut sie – hoffentlich – mit dem nächsten amerikanischen Präsidenten zusammenarbeiten können.