Drei Wochen sind seit der TV-Debatte zwischen US-Vizepräsidentin Kamala Harris und Ex-Präsident Donald Trump ins Land gegangen und noch immer wabert der Nebel des Krieges über dem Schlachtfeld der anstehenden Präsidentschaftswahlen. Zwar liegt Harris in den meisten Umfragen in Front, dies aber selten mit mehr als drei bis vier Prozentpunkten; in den wahlentscheidenden Bundesstaaten oft sogar mit weniger. Keine allzu zuversichtlich stimmende Ausgangslage, bedenkt man, dass Trump die letzten Male jeweils besser als erwartet abgeschnitten hatte.

Der Wahlfloridianer sieht sich dafür finanziell und personell im Hintertreffen, denn während die demokratischen Spendenkassen prall gefüllt sind und Millionen Dollar in Wahlwerbespots und Kampagnenbüros investiert werden, kämpft das Bodenpersonal der Grand Old Party sichtlich mit den Mühen der Ebene. Gut einen Monat vor dem Urnengang wird also emsig nach Möglichkeiten gesucht, sich doch noch einen Vorteil zu verschaffen – oder zumindest den Eindruck zu erwecken, man habe ihn sich verschafft. Politik ist schließlich zu einem guten Teil auch Autosuggestion.

Einen besonders günstigen Anlass bot hier die dienstägliche Debatte der Aspiranten für die Vizepräsidentschaft, zu der sich mit dem demokratischen Gouverneur Tim Walz und dem republikanischen Senator J.D. Vance eine interessante Paarung einfand. Interessant auch deshalb, weil beide eher unerwartet in die Rolle des präsidialen sidekick gerutscht waren.

So galt Walz im demokratischen Machtuniversum zwar seit langem als beliebte Figur, als gemütlicher Landesvater mit progressiven Neigungen, aber weder als präsidiabel noch als jemand, der große Begeisterung entfacht. Bei Vance wiederum irritierte neben seiner Vergangenheit als Trump-Kritiker vor allem der unverhohlene Ehrgeiz des gerade Vierzigjährigen: Dass er als mäßig erfolgreicher Senatsneuling derart ungeniert an die Spitze drängt, dürfte geduldig auf ihre Chance wartenden Parteigrößen wie Marco Rubio oder Tim Scott bitter aufgestoßen sein. Zumal nicht wenige der Ansicht waren, Trump hätte besser einen Nichtweißen auswählen sollen, um seiner Kontrahentin so wertvolle Minderheitenstimmen abspenstig zu machen.

Am Ende lässt sich die Wahl beider Kandidaten wohl aus der Binnenlogik der jeweiligen Kampagne ableiten.

Am Ende lässt sich die Wahl beider Kandidaten wohl aus der Binnenlogik der jeweiligen Kampagne ableiten. Was Walz angeht, so stellt er für Harris eine Allzweckwaffe mit wenig ernsthaften Schwächen dar. Als Traditionsdemokrat aus dem Mittleren Westen setzt er mit seiner bodenständigen Art vielmehr einen Kontrapunkt zur manchmal überschäumenden Kalifornizität der Spitzenfrau. Und Trump, der sich schon im Senatswahlkampf 2022 einen Spaß daraus gemacht hatte, die unbedingte Einseitigkeit der Beziehung zu seinem Protegé herauszustellen („J.D. küsst mir den Arsch, so sehr will er meine Unterstützung“), wird in Vances fehlender Hausmacht innerhalb der Partei mehr einen loyalitätssichernden Vorteil gesehen haben.

In jedem Fall sind beide Kandidaten dem Gros der US-Amerikaner noch hinreichend fremd, was ihrem Aufeinandertreffen besondere Würze verlieh. Debattieren nämlich zwei bekannte Gegner, geht es – wie bei einer Schachpartie unter Großmeistern – in erster Linie darum, die Rolle durchzuhalten und leichtsinnige Fehler zu vermeiden. Bei Trump gegen Biden konnte man im Vorfeld etwa annehmen, dass man von Trump das zu sehen bekommen würde, was man von Trump erwartet, und von Biden das, was man von Biden erwartet. Dass man von Biden am Ende etwas anderes zu sehen bekam (nämlich einen unsicheren Senior statt eines gefestigten Staatsmannes), war dann letztlich das ausschlaggebende Moment für den dramatischen Fall des Präsidenten.

Anders verhält es sich mit Debattanten, bei denen die Erwartung noch nicht ausgereift ist oder lediglich die Form einer vagen (und daher widerlegbaren) Ahnung annimmt. Vorteil Vance also, denn der Autor von Hillbilly Elegy sieht sich seit Wochen dem Dauerfeuer des Harris-Lagers ausgesetzt, das ihn als Fanatiker mit psychopathischen Zügen darzustellen versucht. So wurde unter anderem vielfach auf seine Aussage abgestellt, Kinderlosigkeit sei nicht wünschenswert und die Politikerinnen der Gegenseite seien „ein Haufen kinderloser Katzenfrauen mit schrecklichen Leben“.

Aber auch die unwahre, von der Öffentlichkeit dennoch gern aufgegriffene Behauptung, er beschreibe in seinem Bestseller, wie er sich einmal mit zwei Sofakissen befriedigt habe, stieß auf einigen Widerhall und trug zum Bild des bigotten Sonderlings bei. Für den Senator aus Ohio ein Imageproblem, das er nun im Debattenformat aber zu seinen Gunsten umkehren konnte – denn der J.D. Vance, den die Zuschauer auf CBS zu sehen bekamen, war keinesfalls die Karikatur der demokratischen Schmährhetorik, sondern ein gut aufgelegter, wortgewandter und reaktionsstarker Jurist, dem man die Erfahrung im Wortfechten durchaus ansah.

Geschickt umschiffte er die schwierigeren Fragen der Moderatorinnen und versprühte in seinen Ausführungen einen Hauch jenes compassionate conservatism, der schon George W. Bush den Weg ins Weiße Haus geebnet hatte. Statt etwa in der Abtreibungsdebatte den Hardliner zu geben, zeigte er sich einsichtig, sprach schmeichelnd von einer Pro-Familien-Agenda, die seine Partei voranbringen und die Frauen aus schwierigen Verhältnissen die Entscheidung für Kinder erleichtern solle.

Anders als im Vorfeld erwartet, gingen beide ausgesprochen konziliant miteinander um.

Überhaupt sei er ein Freund der kleinen Leute und davon überzeugt, dass jeder Amerikaner, „ob arm oder reich, sich einen Hauskauf leisten können sollte. Dass er in der Lage sein sollte, in einer sicheren Nachbarschaft zu leben. Dass sein Umfeld nicht mit Fentanyl überschwemmt werden sollte. Das alles hat sich unter Kamala Harris zum Schlechteren gewendet.“ Kernig auch die Replik auf die langatmigen Einlassungen zur Wirtschaftspolitik von Walz: Viele Kritiker aus dem gegnerischen Lager besäßen zwar „einen Doktorgrad, aber keinen gesunden Menschenverstand [...]. Donald Trumps Plan ist nicht nur ein Plan, sondern ein record.“

Mehr noch als die ordentliche Leistung des Republikaners sorgte indes die angenehme Tonalität des Schlagabtauschs für Aufmerksamkeit. Denn anders als im Vorfeld erwartet, gingen beide ausgesprochen konziliant miteinander um, lobten wiederholt den guten Willen des anderen und machten Kritik primär am gegnerischen Ticketkopf fest. „Es ist eine Schande, Tim. Ich glaube tatsächlich, dass ich dir da zustimme. Ich denke, dass du das Problem lösen willst, aber nicht, dass das auch für Kamala Harris gilt“, gab sich Vance etwa in der Migrationspolitik milde.

Und Walz, der später erklärte, er habe den Austausch genossen und „eine Menge Gemeinsamkeiten“ festgestellt, retournierte das Lob sogleich im Frageabschnitt zur Wirtschaftspolitik: „Vielem von dem, was der Senator hier sagt, kann ich beipflichten.“ Ein fast schon freundschaftlicher Zungenschlag, der in spürbarem Kontrast zu der üblichen Wahlkampfdramatik steht, nach der die Gegenseite das Land wahlweise in den Kommunismus oder den Faschismus treiben möchte. Und mit der sich Vance bewusst von der Rhetorik seines Gönners abhebt, der erst vergangene Woche die Welt wissen ließ, Harris sei eine üble Verbrecherin und obendrein als von Geburt an „geistig beeinträchtigt“ anzusehen.

Zum Höhepunkt dieses Höflichkeitsrituals kam es schließlich, als Walz berichtete, sein 17-jähriger Sohn habe beim Volleyball eine Schießerei miterlebt, und Vance den Empathieball sogleich aufnahm. „Tim, das wusste ich nicht“, unterbrach er. „Das tut mir leid … Christus, erbarme dich. Das ist ja schrecklich!“ Eine Spur zu theatralisch vielleicht, doch in jedem Fall etwas, das man in Debatten dieser Art schon lange nicht mehr gesehen hat. Ob sich dieser wohltuend zivile Stil mittelfristig durchsetzen wird, ist freilich nicht abzusehen – für den Moment liegt die Vermutung nahe, dass Vance ihn hier mit Bedacht gebraucht hat, um sich in den Augen der Öffentlichkeit als verständiger Kronprinz in Stellung zu bringen.

Denn auch wenn er dem Immobilienmogul seinen Aufstieg zu verdanken hat: Trump geht auf die 80 zu und dürfte dieses Jahr wohl zum letzten Mal antreten. Als Mann mit Ambitionen ist man da gut beraten, frühzeitig die Wasser zu testen und die beste Mischung aus Imitation und Abgrenzung zu finden. Insbesondere für den Fall, dass die Wahl verloren gehen und der Machtkampf innerhalb der Partei aufs Neue entbrennen sollte.