Mit dem Labor Day – der US-Variante des Tags der Arbeit, der jährlich am ersten Montag im September begangen wird – beginnt traditionell die heiße Phase des US-Wahlkampfs. Was während der Sommerpause noch vergleichsweise milde vor sich hinplätscherte, nimmt nun mit einem Mal Fahrt auf: Die Zahl der Reportagen und Vorortberichte steigt, die Yard Signs in den Vorgärten werden größer, die Wahlwerbespots schlagen einen aggressiveren Ton an und die Auftragsbücher der Meinungsforschungsinstitute beginnen sich zu füllen. Auch für die beiden Großparteien, die den Sommer in der Regel darauf verwenden, Geld zu sammeln und sich auf ihre Kandidaten einzuschwören, beginnt nun der Endspurt. Viele Gelegenheiten haben sie nicht mehr, schwankende oder aus Prinzip zwischen den Lagern stehende Wählerinnen und Wähler an sich zu binden. Eine der wenigen ist traditionell das Format der Präsidentschaftsdebatte.
Eine solche gab es in diesem Wahlzyklus zwar schon reichlich verfrüht im Juni, damals aber noch in anderer Besetzung. Man erinnert sich: Amtsinhaber Joe Biden legte im Rededuell mit seinem Vorgänger Donald Trump einen desaströsen Auftritt inklusive Blackout hin, geriet in der Folge massiv unter Druck und musste schließlich zähneknirschend seinen Verzicht auf eine zweite Amtszeit bekanntgeben. Umso bedeutender war für seine zur Ersatzkandidatin aufgerückte Vizepräsidentin Kamala Harris der am Dienstag ausgetragene Zweitversuch, der zumindest indirekt auch mit dem Auftrag verbunden war, die bösen Geister des Sommers zu vertreiben. Schweiß wird den Funktionären im demokratischen Hauptquartier auf der Stirn gestanden haben, als die bald 60-Jährige die Rednerbühne in Philadelphia betrat, der größten Stadt im heiß umkämpften Battleground State Pennsylvania. Würde sie dem Druck standhalten oder doch eine bidenartige Bauchlandung hinlegen?
Tatsächlich bot Harris vor den Augen von fast 70 Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern einen konzentrierten und kämpferischen Auftritt. Zu Beginn noch nervös, gewann sie im Verlauf der anderthalb Stunden stetig an Souveränität und setzte ein ums andere Mal Nadelstiche gegen einen abgekämpft und frustriert wirkenden Trump. Gut aufgenommen wurden insbesondere ihre (wenn auch arg schulmeisterlich vorgetragenen) Ausführungen zum Abtreibungsrecht, das nach dem restriktiven Supreme Court-Urteil in Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization von 2022 an politischer Sprengkraft gewonnen hat und für die Demokraten immer mehr zum Gewinnerthema wird. In mehr als 20 Staaten gebe es nun von Trump veranlasste Abtreibungsverbote, setzte sie ihren Kontrahenten unter Druck. „Man muss weder seinen Glauben noch seine Überzeugungen verleugnen, um zuzustimmen, dass die Regierung – und insbesondere Donald Trump! – nicht entscheiden sollte, was eine Frau mit ihrem Körper tun darf“, gab sich die Kalifornierin forsch. Trump, der wie schon in der Debatte mit Biden einen föderalistischen Standpunkt vertrat, zugleich aber behauptete, der demokratische Ex-Gouverneur des tiefrepublikanischen „West Virginia“ (gemeint war: Virginia) wolle Babys auch nach der Geburt noch „exekutieren“, konnte kaum mehr als bedröppelt dreinsehen. Und auch sonst bot der Wahlfloridianer alles andere als eine Glanzleistung am Mikrofon.
Dabei ist es keineswegs so, dass Harris keine Schwächen hätte.
Dabei ist es keineswegs so, dass Harris keine Schwächen hätte. Es überrascht ja ohnehin, wie diese an sich unscheinbare Vizepräsidentin, die außerhalb ihres Heimatstaats nie aus eigener Kraft eine Wahl oder auch nur Vorwahl gewonnen hat (und letztlich nur durch die Wendungen des Schicksals an die Spitze des demokratischen Tickets gespült wurde), binnen Kurzem zu einem politischen Superstar avanciert ist, der über jede Kritik erhaben zu sein scheint. Tatsächlich gäbe es ausreichend Material, das sich gegen die auch von ihr mitverantwortete Regierung ins Feld führen ließe: Die nach wie vor hohen Lebenshaltungskosten, der verpatzte Afghanistan-Abzug oder der weiter anschwellende Migrationsdruck an der Südgrenze. Ein disziplinierter Kandidat hätte wohl wenig Probleme gehabt, die Vizepräsidentin hier in die Defensive zu drängen und ihr unbequeme Antworten abzunötigen. Doch mag Trump auch vieles sein, diszipliniert ist er nicht, und so tischt er lieber Geschichten über Einwanderer aus Haiti auf, die Hunde, Katzen und andere Haustiere verspeisen. Offensichtlich eine Falschmeldung – doch selbst im gegenteiligen Fall kein Thema, für das allzu viel kostbare Redezeit draufgehen sollte.
An anderer Stelle kam Trump wiederum sein Image als Flunkerer und Faktenverdreher in die Quere. Sich lautstark darüber zu echauffieren, seine Kontrahentin wolle in Haft befindlichen illegalen Einwanderern geschlechtsangleichende Eingriffe bezahlen, hat natürlich einen gewissen Meme-Charakter, ist aber gar nicht mal so weit von der Realität entfernt: Tatsächlich hat Harris noch 2019 eine entsprechende Nachfrage der American Civil Liberty Union bejaht und sich im gleichen Atemzug auch für weitreichende Kürzungen im Grenzschutz eingesetzt und das „Ende der Abschiebehaft“ als langfristiges Ziel ausgerufen. Nun kann man einwenden, dass das eben 2019 war, als man als liberale Westküstensenatorin noch andere Bedürfnisse hatte: die Basis zufriedenzustellen und einen plastischen Kontrast zur rigiden Einwanderungspolitik der Trump-Regierung zu setzen. Man kann auch darauf verweisen, dass Harris inzwischen ganz offen eingesteht, ihre Haltung in diversen Sachfragen „weiterentwickelt“ zu haben. Und doch: Die Angriffsfläche wäre dagewesen. Dass sie weitgehend verfehlt wurde, war in diesem Fall mehr dem Wer und dem Wie als dem Was geschuldet.
Je klarer Trump sich in Sprache und Auftreten vom Typus des Berufspolitikers abhebt, umso mehr kann er für sich selbst andere Standards geltend machen.
Worauf Trump bei alldem dennoch hoffen darf, ist, dass er mit seinem Auftritt erneut jene Wählerinnen und Wähler für sich gewonnen hat, denen es weniger um genormte Wahlkampfversprechen geht als darum, der politischen Elite des Landes den symbolischen Mittelfinger zu zeigen. Menschen, denen die Professionalität und das rhetorische Geschick von Harris schon deshalb aufstößt, weil sie ahnen, dass hinter jedem Professionalismus eine Form von Inauthentizität und hinter jedem gefällig vorgetragenen Argument der Verdacht steht, Zeuge eines einstudierten Schauspielauftritts zu sein. Dass diesen Menschen das sprunghafte, ignorante, großspurige, aber gerade deshalb unverstellte Gehabe Trumps lieber ist als die roboterhaft kalte Präzision seiner Gegnerinnen (Harris ähnelt in dieser Hinsicht sehr Hillary Clinton), sollte nach acht Jahren niemanden mehr überraschen. Zumal nach wie vor gilt, dass der Ex-Präsident auch deshalb auf eine so loyale Anhängerschaft bauen kann, weil er sagt, was er sagt, und es sagt, wie er es sagt. Je klarer er sich in Sprache und Auftreten vom Typus des Berufspolitikers abhebt, umso mehr kann er für sich selbst andere Standards geltend machen.
Auch vor diesem Hintergrund wäre die demokratische Seite gut beraten, der Debatte nicht zu viel Bedeutung beizumessen und insbesondere in keinen voreiligen Siegestaumel zu verfallen. Einfacher gesagt als getan, denn anders als die in dieser Hinsicht relativ kaltblütigen Republikaner trägt die Partei seit Jahren einen affektiven Überschuss in sich, der sich nicht selten in einer ruckartig umschlagenden Selbstwahrnehmung manifestiert: Heute preist man Biden noch als großen und transformativen Präsidenten, den man selbstredend für eine weitere Amtszeit nominieren möchte. Und morgen schon jagt man ihn nach seinem verpatzten Debattenauftritt vom Hof. Heute jubiliert man noch, dass Trump in seiner (für die meisten Wählerinnen und Wähler nur mäßig interessanten) Schweigegeldaffäre verurteilt wurde, und träumt von einer mehrjährigen Haftstrafe. Und morgen schon wirft man einen Blick auf die Umfragen, klagt theatralisch über die Unverständigkeit der Mitbürgerinnen und Mitbürger und denkt – diesmal wirklich! – über eine Auswanderung nach. Entweder ist man himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt, prognostiziert einen Erdrutschsieg oder den eigenen Untergang. Hilfreich ist in der Regel beides nicht.
Vielmehr erscheint es vernünftig, die Debatte als (erwartbaren) Punktsieg zu werten, nicht aber als veritablen Knockout. Als gute Präsentationsfläche für Harris, um ihre Zähigkeit unter Beweis zu stellen und der US-Öffentlichkeit zu zeigen, dass sie mehr ist als ein bloß nach Hautfarbe und Geschlecht ausgewählter Diversity Hire. Und nicht zuletzt auch als Gelegenheit, prägnantes Videomaterial für die nächste Reihe an Wahlwerbespots zu generieren. Es könnte die Einzige bleiben, denn während das Harris-Lager noch in der Nacht angekündigt hatte, man sei bereit für eine zweite Runde, reagierte Trump sichtlich verschnupft. Er sei nicht geneigt, auf solch einen Vorschlag einzugehen, schließlich habe er haushoch gewonnen und es sei ohnehin alles gesagt: „Sie haben sehr schlecht abgeschnitten und jetzt fragen sie als Erstes nach einer Debatte. Immer wollen sie ein Rematch!“ Bleibt es dabei, darf man sich aber dennoch auf einen Schlagabtausch Anfang Oktober freuen, wenn die Vizekandidaten beider Parteien – J. D. Vance und Tim Walz – in New York City gegeneinander antreten. Womöglich ist ihr Klingenkreuzen bereits das letzte Großevent des Wahljahres.