Donald Trumps Verachtung gegenüber dem Establishment ist kein Geheimnis. Er provoziert, konfrontiert und untergräbt die Washingtoner Institutionen, ihre Medien, ihre Beraterschaft, ihre Euphemismen und ihren ungeschriebenen Verhaltenskodex. Dass er nun Senator J.D. Vance aus Ohio zu seinem potenziellen Vizepräsidenten auserkoren hat, beweist einmal mehr, dass der Ex-Präsident gewillt ist, sich über politische Konventionen hinwegzusetzen.
Frühere Vizepräsidentschaftskandidaten wurden ausgewählt, um die Einheit innerhalb der eigenen Partei zu stärken, einen wichtigen Swing State zu erobern oder einen Außenseiter-Präsidenten beim Navigieren durch die Washingtoner Institutionen zu unterstützen. Vance erfüllt all diese Kriterien nicht. Andererseits war Trump natürlich nie ein typischer Kandidat. Mit seiner Entscheidung für Vance hat Trump wahrscheinlich schon weitaus mehr im Blick als nur die Wahl 2024: Er dürfte an 2028 und darüber hinaus denken – und daran, wie und wohin er die Republikanische Partei bis dahin führen will.
Als Donald Trump das letzte Mal einen Vizepräsidenten benennen musste, hatte er mehr Druck als heute: 2016 war er der Außenseiter gegen Hillary Clinton. Viele Republikaner, vor allem sozialorientierte und religiöse Konservative, betrachteten ihn mit Misstrauen. Damals wählte Trump Mike Pence aus, der enge Verbindungen zur evangelikal-christlichen Wählerschaft pflegte und bereits zwölf Jahre lang im Kongress gesessen hatte. Damit wollte Trump die Befürchtungen seiner Kritiker zerstreuen. Darüber hinaus war Pence auch schon Gouverneur eines Bundesstaates im Mittleren Westen gewesen. Trumps Plan war offenbar, dass Pence ihn beim Umgang mit Insidern und anderen mächtigen Entscheidungsträgern unterstützen könnte.
Die Allianz zwischen Trump und Pence hielt bis zum 6. Januar 2021, dem Sturm auf das Kapitol. Jetzt, da er nur knapp einem Attentat entgangen ist und laut Verfassung nur noch eine weitere Amtszeit absolvieren kann, stellt Trump Loyalität zu ihm sowie sein Erbe über solche Vermittler-Qualitäten, auf die frühere Präsidenten bei der Nominierung von Vizepräsidenten geachtet haben. Trump scheint Vances persönliche Entwicklung vom einstigen Gegner zum loyalen Partner zu schätzen. Vance zeigt den Eifer eines zum Trumpismus Bekehrten und es ist unwahrscheinlich, dass sein Posten als Vizepräsident zukünftig als Einfallstor für einwanderungsfreundlichere oder interventionistische Republikaner dienen kann. Er verteidigte Trumps Verhalten nach der Wahl 2020 und sieht inzwischen die Feinde des Ex-Präsidenten als seine eigenen an.
Auch Vances Lebenslauf dürfte für Trump einen gewissen Reiz haben. Er wuchs in Armut auf, ging nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu den Marines, schrieb eine Bestseller-Autobiografie und wurde zum erfolgreichen Geschäftsmann. Vances Wurzeln in der Arbeiterklasse könnten durchaus die abgehängten Männer und Frauen in den ehemaligen Industrieregionen des Rust Belt ansprechen, auf die Trumps Wahlkampf insbesondere ausgerichtet ist. Ein weiterer potenzieller Vorteil ist Vances Alter. Die Republikaner stehen aktuell bei jungen männlichen Wählern vergleichsweise gut da und Vance könnte der Partei helfen, in dieser Bevölkerungsgruppe weiteres politisches Kapital zu schlagen. Darüber hinaus wird mit der Nominierung von Vance langfristig gedacht. Richard Nixon war beispielsweise ebenfalls 39 Jahre alt, als Dwight Eisenhower ihn 1952 zum Vizepräsidentschaftskandidaten machte. Nixon spielte in der Folge 22 Jahre lang eine zentrale Rolle in der US-amerikanischen Politik.
Trump dominiert die Republikanische Partei inzwischen so sehr, dass er es nicht einmal mehr für nötig hält, innerhalb der Partei Brücken zu bauen und neue Verbündete zu finden.
Trump dominiert die Republikanische Partei inzwischen so sehr, dass er es nicht einmal mehr für nötig hält, innerhalb der Partei Brücken zu bauen und neue Verbündete zu finden. Mit der Wahl von Vance hat er einen klaren Bruch mit den republikanischen Freihandel-Fans, vorsichtigeren Reformern und außenpolitischen Falken vollzogen, die ihm nach wie vor misstrauisch gegenüberstehen. Er ist der Ansicht, dass er deren Unterstützung schlichtweg nicht braucht, um zu gewinnen – und damit hat er vermutlich recht. Als relativ neuer Anhänger der „Make American Great Again“-Bewegung lehnte Vance die Außen- und Wirtschaftspolitik der Unterstützer der ehemaligen UN-Botschafterin Nikki Haley bei den diesjährigen Vorwahlen der Republikaner strikt ab. Seine Nominierung kann somit als ein weiterer Schritt in Trumps Plan angesehen werden, die alte Garde zu verdrängen und sich die Republikanische Partei komplett zu unterwerfen – angefangen damit, dass seine Kritiker in den Vorwahlen besiegt oder sie zum vorzeitigen Rücktritt gedrängt werden, bis hin zur Überarbeitung des Parteiprogramms, das in seiner Kürze, Knappheit und Zweideutigkeit durchaus Trumps eigene Persönlichkeit, seine Präferenzen, seine Vorliebe für das Improvisieren und seinen stets geschäftlich denkenden Ansatz widerspiegelt.
Unter Trump hat sich die „Grand Old Party“ von der Reagan‘schen Dreifaltigkeit aus religiösem Konservatismus, möglichst ungezügeltem Kapitalismus und falkischer Außenpolitik entfernt. Der neue Politikmix hat die Anziehungskraft der Partei dabei nicht geschmälert, sondern die potenzielle Wählerschaft um einige Minderheitengruppen vergrößert. Die politische Strahlkraft von Vance ist dabei noch nicht ganz klar. Aber: Ohio ist unter ihm rot geworden, Trump konnte dort sowohl 2016 als auch 2020 mit einem Vorsprung von acht Prozentpunkten gegenüber Clinton und Joe Biden gewinnen. In einer Umfrage von CBS News und YouGov, die am Vorabend des Parteitages der Republikaner veröffentlicht wurde, lag Trump in jedem Swing State vor Biden, auch in den wichtigen Rust-Belt-Staaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvania.
Zurück zu Vance: Dieser ist weitgehend ein Neuling in Washington. Er wird im August 40 Jahre alt und wäre damit einer der jüngsten Vizepräsidenten in der amerikanischen Geschichte. Mit seinen zwei Jahren im Senat wäre er außerdem einer der am wenigsten erfahrenen Vizepräsidenten überhaupt. Sollte Trump gewinnen, wäre Vance aufgrund seiner „Jugendlichkeit“ und seiner kurzen Amtszeit Kamala Harris ähnlicher als allen anderen Vizepräsidenten der letzten Zeit. Trump würde als der erfahrene Mentor auftreten, Vance als der junge Lehrling.
Die Wahl von Vance ist das bisher deutlichste Zeichen dafür, wie Trump die Zukunft der Republikanischen Partei sieht.
Trump gilt im Allgemeinen nicht als ein geduldiger Lehrmeister oder als langfristiger Planer. Seine jüngsten juristischen Probleme und das Attentat könnten bei ihm aber für das Gefühl gesorgt haben, er müsse den Einsatz bei dieser Wahl erhöhen und nicht nur gewinnen, sondern etwas Längerfristiges aufzubauen. Dabei ist die Wahl von Vance das bisher deutlichste Zeichen dafür, wie Trump die Zukunft der Republikanischen Partei sieht. Wenn Vance Vizepräsident wird, dürfte er auch der republikanische Spitzenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2028 werden. Diese Nominierung wird zwar umstritten sein, doch es zeigt sich bereits, wie sehr Trump wünscht, dass die Republikanische Partei auch nach seiner möglichen zweiten Amtszeit an Nationalismus, Populismus und „America First“ festhält.
Vance, der an der Yale Law School studiert hat, ist aktuell der wohl wortgewaltigste Verfechter der MAGA-Weltanschauung. Er gibt sich als scharfer Kritiker des Finanzsektors, der Unternehmensmonopole, des Freihandels, der globalen Interventionen der USA und der illegalen Einwanderung. Er findet andererseits lobende Worte für die organisierte Arbeiterschaft und für Industriepolitik. Er hat sich sogar progressiven Ikonen wie der demokratischen Senatorin Elizabeth Warren aus Massachusetts angeschlossen, um gegen die Macht der Wall Street vorzugehen, und er lobt die Arbeit von Lina Khan, der Vorsitzenden der Verbraucherschutzbehörde Federal Trade Commission. Derweil lehnte er das Zusatzgesetz zur nationalen Sicherheit ab, über das in diesem Jahr Militärhilfe für die Ukraine, Israel und Taiwan bereitgestellt wurde.
Vance, der an der Yale Law School studiert hat, ist aktuell der wohl wortgewaltigste Verfechter der MAGA-Weltanschauung.
Als Vance kürzlich auf der National Conservatism Conference in Washington sprach, wurde er dort wie ein Star begrüßt. Er sprach lässig und ungezwungen. Dabei vergaß er nicht, prominente Politikerinnen und Politiker im Publikum zu erwähnen, darunter Elbridge Colby, der sich für weniger Auslandseinsätze mit dem Ziel einer Eindämmung Chinas einsetzt, und Oren Cass, der eine libertäre Wirtschaftspolitik kritisiert. Vance freute sich über den wachsenden Einfluss eines nationalistischen Populismus innerhalb der Republikanischen Partei. Mit Blick auf die Unterstützung für die Ukraine sagte er: „Auch wenn wir die Debatte nicht gewonnen haben, beginnen wir gerade, diese Debatte innerhalb unserer eigenen Partei zu gewinnen. Und ich denke, das ist viel wichtiger.“ Mit Vances Ernennung zum Vizepräsidenten würde eine klare MAGA-Führungsriege im Weißen Haus aufgebaut. Außenpolitische Zurückhaltung einerseits und staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die Verteidigungsindustrie sowie zum Aufbau der heimischen Produktion andererseits würden dadurch begünstigt.
Vances schärfste Kritik auf der Konferenz galt der Migration: „Die wirkliche Bedrohung für die amerikanische Demokratie ist, dass die amerikanischen Wähler immer wieder für weniger Einwanderung stimmen und unsere Politiker uns immer wieder mit mehr belohnen.“ Vance weiter: „Die Sache mit der Einwanderung ist, dass niemand daran vorbeikommt und leugnen kann, dass sie unsere Gesellschaft ärmer, unsicherer, weniger wohlhabend und weniger fortschrittlich gemacht hat.“ Seine eigene Philosophie fasste er mit den Worten zusammen: „Amerikanische Politiker sollten sich um die Amerikaner kümmern.“
Trump hat die Weltpolitik fast ein Jahrzehnt lang in Atem gehalten. Die Nominierung seines neuen „Lehrlings“ deutet darauf hin, dass der Trump-Stil, die Trump-Politik und die Anziehungskraft des Trumpismus auf nicht akademisch gebildete Wählerinnen und Wähler jeder Herkunft und ethnischen Zugehörigkeit die Republikanische Partei auch in den kommenden Jahrzehnten prägen und bestimmen werden.
Aus dem Englischen von Tim Steins