Auf Außenstehende wirken die aktuellen Entwicklungen in den USA womöglich verwirrend. Erst bekommt das mächtigste Land der Welt (zugleich eines der reichsten und technologisch am weitesten fortgeschrittenen Länder) die Pandemie nicht in den Griff, und dann gerät es augenscheinlich durch stürmische Proteste und gesellschaftliche Zwietracht in eine innenpolitische Zerreißprobe. Eine verbreitete Meinung aufgreifend erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin, die USA steckten in einer „tiefen inneren Krise“ – einer Krise, die manch einen an die Zeiten erinnert, als das Sowjetimperium seinem Untergang entgegentorkelte.

Die USA sind an einem entscheidenden Punkt angelangt. Am deutlichsten manifestiert sich das in den wohl massivsten Protesten der US-Geschichte. Doch anders als Putin und andere glauben (und vielleicht hoffen), sind diese Proteste nicht der Ausdruck oder die Zuspitzung einer „tiefen inneren Krise“, sondern sie werden die amerikanische Demokratie wahrscheinlich eher stärken als schwächen.

Zudem werden sie der Linken vielleicht Triumphe bescheren, die vor wenigen Wochen noch unvorstellbar waren. Ob wir die Gegenwart eines Tages im Rückblick als die Zeit verbuchen, in der die USA den Niedergang der Demokratie abgewendet, die Zwietracht überwunden und einen Wandel zum Positiven und Progressiven vollzogen haben, hängt von vielen Faktoren ab – und nicht zuletzt davon, wie die Linke sich verhält.

Protest ist in Demokratien eine legitime Form der politischen Betätigung. Protest ist für Bürgerinnen und Bürger eine Möglichkeit, außerhalb des Wahlgeschehens gemeinschaftlich ihre Stimme zu erheben. Ein häufiger Protestgrund ist eben gerade die Unzufriedenheit mit diesem Wahlgeschehen – mit den Entscheidungen und dem Verhalten der gewählten Mandatsträger. Deshalb müssen für demokratische Staatsordnungen weder die Mobilisierung der Massen noch Unzufriedenheit in der Bevölkerung unbedingt ein Problem sein. Mit ihren zahllosen Möglichkeiten, wie Bürgerinnen und Bürger ihre Forderungen rechtmäßig vorbringen können, verfügen Demokratien über friedliche Formen der Selbstkorrektur, die Diktaturen abgehen.

Gewandelt haben sich aber nicht nur die Meinungen über Floyds Ermordung, brutale Polizeigewalt und BLM. Immer mehr Bürger erkennen, dass Rassismus und Ungleichheit grundsätzliche Probleme sind.

Die treibende Kraft hinter den Protesten, die derzeit die USA erschüttern, ist die Unzufriedenheit mit gewählten Amts- und anderen Entscheidungsträgern. Auslöser war die Empörung über die Tötung von George Floyd in Minnesota Ende Mai durch einen Polizisten, der später des Mordes angeklagt wurde. Doch schon bald mischte sich in die Protestrufe auch die Forderung nach einem Ende der schon lange bestehenden Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die den Mord an Floyd erst möglich machten. Die Proteste haben alle Bundesstaaten und Städte und auch den ländlichen Raum erfasst, und die Demonstranten gehören den verschiedensten ethnischen, religiösen und sozioökonomischen Gruppen an. Diese Größenordnung und Tragweite offenbart auf überraschende Weise nicht nur Wut und Unzufriedenheit, sondern auch das Kraftpotenzial demokratischer Partizipation.

Binnen weniger Wochen hatten die Proteste dramatische Auswirkungen. Am deutlichsten zeigt sich das in der öffentlichen Meinung. Anders als nach früheren Vorfällen, bei denen afroamerikanische Bürgerinnen oder Bürger von Polizisten getötet wurden, gab es nach Floyds Ermordung keine Versuche, das Geschehene zu rechtfertigen oder schönzureden. 88 Prozent der weißen Amerikaner halten die durch Floyds Tod ausgelösten Proteste für berechtigt – sehr zum Erstaunen des Politikchefs von CNN, der daran erinnert, dass diese 88 Prozent doch „ansonsten in allen Punkten unterschiedlicher Meinung sind“.

Auch die Meinung über die Bewegung, die besonders eng mit den Protesten verbunden ist, wandelt sich rapide. Black Lives Matter (BLM) wurde bislang von vielen weißen Bürgern kritisiert oder misstrauisch beäugt, aber in den letzten Wochen wuchs die Unterstützung für BLM fast so stark wie in den vergangenen zwei Jahren.

Gewandelt haben sich aber nicht nur die Meinungen über Floyds Ermordung, brutale Polizeigewalt und BLM. Immer mehr Bürger erkennen, dass Rassismus und Ungleichheit grundsätzliche Ungerechtigkeiten sind, und fangen an, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Inzwischen halten zum Beispiel sechs von zehn weißen Amerikanern Rassismus für ein „großes Problem“ in der Gesellschaft, und für mehr als zwei Drittel ist Floyds Ermordung Ausdruck grundsätzlicher Schwierigkeiten mit der Rechtsdurchsetzung in den USA.

Nicht nur die öffentliche Meinung ist in Bewegung. Auch Unternehmen, Sportfranchises, die Unterhaltungsbranche und andere Institutionen, die bisher die Auseinandersetzung mit dem Thema Gerechtigkeit für alle Bevölkerungsgruppen scheuten, ändern ihren Kurs.

Die Tragweite der Veränderungen zeigt sich auch daran, dass in urkonservativen Medien wie dem National Review und The American Conservative neuerdings Artikel mit Überschriften wie „Sieben Gründe, warum Polizeigewalt kein Einzelfall ist, sondern System hat“ und „Amerika erkennt allmählich, was schwarze Bürgerinnen und Bürger schon immer wussten“ erscheinen. Ein Beobachter, der sich intensiv mit Rassismusfragen in den USA auseinandersetzt, erklärte: „So dramatische, urplötzliche Veränderungen haben wir in dieser Größenordnung noch nicht erlebt.“

Nicht nur die öffentliche Meinung ist in Bewegung. Auch Unternehmen, Sportfranchises, die Unterhaltungsbranche und andere Institutionen, die bisher die Auseinandersetzung mit dem Thema Gerechtigkeit für alle Bevölkerungsgruppen scheuten, ändern ihren Kurs.

Die National Football League hat – wenn auch mit Verspätung – die „Taking a Knee“-Proteste als rechtmäßig anerkannt, mit denen Colin Kaepernick und andere Athleten durch Niederknien während des Abspielens der Nationalhymne ein Zeichen gegen Polizeigewalt setzten. Mehrere Marken, die explizit oder implizit rassistische Darstellungen und Symbole verwendeten, wurden vom Markt genommen. Firmen und andere Organisationen zelebrierten auf einmal den Gedenktag „Juneteenth“, der vielen weißen Amerikanern bislang gar kein Begriff war und an den 19. Juni 1865 erinnert. An diesem Tag wurde in Texas die Abschaffung der Sklaverei verkündet. Begleitet wurde das alles von einem „rekordverdächtigen Spendenaufkommen für Initiativen in ganz Amerika, die sich für Gerechtigkeit für alle Bevölkerungsgruppen starkmachen, für ‚Bail Funds‘, die Geld für Kautionen sammeln, und von Schwarzen angeführte Interessengruppen, was den schwarzen politischen Aktivismus innerhalb weniger Wochen finanziell auf eine neue Grundlage gestellt hat.“

Um die amerikanische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung progressiv und grundlegend zu reformieren, muss man Wahlen gewinnen, an die Macht kommen und an der Macht bleiben.

Der politische Druck, der durch die Proteste aufgebaut wurde, der Sinneswandel und das Verhalten privatwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure zeigen schon jetzt Wirkung auf die Politik. In den Kommunen und Bundesstaaten, aber auch auf nationaler Ebene machen Politiker sich daran, Reformen zu diskutieren und umzusetzen. Demokratische Kongressabgeordnete haben mit dem „Justice in Policing Act“ einen Gesetzentwurf eingebracht, der „massiver in die Polizeiarbeit eingreift als alle Vorschläge der jüngsten Vergangenheit.“

Der Entwurf sieht vor, Würgegriffe zu verbieten, eine landesweite Datenbank zur Verfolgung polizeilichen Fehlverhaltens einzurichten und gewalttätige Beamten zivil- und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Postwendend brachte die Kongressfraktion der Republikaner eine eigene Vorlage für ein Reformgesetz („Justice Act“) ein. Sie schlagen deutlich weniger weitreichende Maßnahmen vor als die Demokraten, aber ihr Vorstoß zeigt immerhin, dass sie die Zeichen der Zeit erkannt haben.

Kurzum: Die Proteste machen deutlich, wie Demokratie funktionieren sollte: Die Bürger haben gemeinschaftlich ihre Forderungen zum Ausdruck gebracht, und die Politik beginnt sich darauf einzustellen. Langfristige und strukturelle Veränderungen und ihre Institutionalisierung erfordern allerdings noch weitere Schritte. Um die amerikanische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung progressiv und grundlegend zu reformieren, muss man Wahlen gewinnen, an die Macht kommen und an der Macht bleiben.

Dass ausgerechnet solche prominenten konservativen Urgesteine Trump kritisieren, könnte letztlich eine „entscheidende Trendwende“ bewirken und dazu führen, dass weitere Republikaner und republikanische Wähler sich vom America-first-Populismus des Präsidenten abwenden.

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt, der zum Hintergrund der Proteste gehört: bei der wichtigsten Wahl in der modernen Geschichte Amerikas.

Seit seinem Einzug ins Weiße Haus hat Donald Trump die hässlichsten Tendenzen der US-Gesellschaft noch zugespitzt. Er hat die Probleme verschärft, die den Nährboden für George Floyds Ermordung bildeten, und eine Aushöhlung der amerikanischen Demokratie betrieben, wie es sie in der jüngeren Geschichte noch nie gegeben hat. Obwohl er seit über drei Jahren mit seiner korrupten und reaktionären Politik das Land spaltet, hielten die republikanischen Politiker und Wähler ihm bislang die Stange.

In den vergangenen Wochen scheint sich nun aber das politische Umdenken anzudeuten, auf das Demokraten und andere progressive Kräfte seit Langem warten und hoffen. Trumps stümperhafter Umgang mit der Pandemie und seine autoritären und polarisierenden Reaktionen auf Floyds Tod haben bewirkt, dass prominente Republikaner wie James Mattis, James Miller, George W. Bush, Colin Powell und andere ihm die Gefolgschaft verweigern und sogar durchblicken lassen, dass sie im November möglicherweise seinem demokratischen Kontrahenten Joe Biden ihre Stimme geben.

Dass ausgerechnet solche prominenten konservativen Urgesteine Trump kritisieren, könnte letztlich eine „entscheidende Trendwende“ bewirken und dazu führen, dass weitere Republikaner und republikanische Wähler sich vom America-first-Populismus des Präsidenten abwenden. Eine solche Entwicklung deutet sich bereits in den Umfragen an: Nach manchen Erhebungen ist Biden gerade dabei, seinen Vorsprung massiv auszubauen.

Zunächst werden vor allem die alten Gräben innerhalb der Demokratischen Partei und unter linksgerichteten Aktivisten sichtbar. Wenn die Demokraten Wahlen gewinnen wollen, müssen sie aber Bündnisse schmieden und Kompromisse eingehen.

Wie sollte die Linke sich in dieser außerordentlichen Situation verhalten?

Wer auf diese Frage eine Antwort sucht, stellt fest, dass zunächst vor allem die alten Gräben innerhalb der Demokratischen Partei und unter linksgerichteten Aktivisten sichtbar werden. Wenn die Demokraten Wahlen gewinnen wollen, müssen sie aber Bündnisse schmieden und Kompromisse eingehen – und auf jeden Fall verhindern, dass die Republikaner von den Ungerechtigkeiten ablenken, die es zu bekämpfen gilt, oder dass die breite, aber noch wackelige Unterstützung für einen deutlichen Wandel bröckelt.

Trumps Präsidentschaft zeigt wie in einem Brennglas den Hang zur politischen Polarisierung, der seit Richard Nixons Zeiten tief in der Republikanischen Partei verwurzelt ist und immer wieder Öl ins Feuer der Rassismuskonflikte gießt. Umso dringender muss die Linke erkennen, dass Demokratie nicht heißen kann, Kompromisse und Koalitionen schlechtzumachen und den politischen Gegner niederzubrüllen, sondern dass man sich auf seine Gegner einlassen und versuchen muss, sie zu überzeugen.

In den vergangenen Tagen haben etliche Linke die Ausschreitungen verteidigt und schöngeredet. Ausführlich wurde über die Szene berichtet, in der der Bürgerrechtsanwalt Jacob Frey – das progressive und zweitjüngste Stadtoberhaupt, das Minneapolis je hatte – sich in einer Herzblutrede für „ganz grundsätzliche strukturelle Reformen“ aussprach und anschließend von Demonstranten umzingelt und teils mit drastischen Worten ausgebuht wurde, weil er sich nicht rückhaltlos der Forderung anschloss, der örtlichen Polizei die Finanzierung zu entziehen und sie abzuwickeln.

Die Forderung, der Polizei den Geldhahn zuzudrehen, spielt bei den Protesten eine zentrale Rolle und soll diejenigen mobilisieren, die sich bereits engagieren. Sie ist allerdings nicht dazu angetan, breitere Bevölkerungsschichten für die eigenen Anliegen zu gewinnen.

Die Forderung, der Polizei den Geldhahn zuzudrehen („defund the police“), spielt bei den Protesten eine zentrale Rolle und soll diejenigen mobilisieren, die sich bereits engagieren, und der Wut Ausdruck geben. Sie ist allerdings nicht dazu angetan, breitere Bevölkerungsschichten für die eigenen Anliegen zu gewinnen. Das Ziel ist natürlich, ein neues Modell von Polizeiarbeit zu entwickeln – weniger gewaltorientiert und aggressiv, mit nahtloser Einbindung in das Gemeinwesen und einer engeren Verzahnung mit sozialen Diensten, die sich besser mit psychischen und armutsbedingten Probleme auskennen als die dafür nicht ausgebildeten Polizisten.

Diese Reformen stoßen auf breite Zustimmung, aber wenn sie mit der Forderung nach finanzieller Austrocknung und Abwicklung der Polizei verknüpft werden, stoßen sie bei der Mehrheit auf konsequente Ablehnung. Wenn man Wahlen gewinnen und grundlegende strukturelle Reformen institutionell verankern will, ist man schlecht beraten, wenn man mit irritierenden und konfrontativen Slogans wie „defund the police“ hausieren geht. Anders sieht die Sache aus, wenn es in Wahrheit nicht um Wahlsiege und Machtoptionen geht, sondern nur darum, „deutlich seine Meinung zu sagen“ oder die ohnehin Unzufriedenen zu mobilisieren – wozu Teile der Linken allzu sehr neigen. Damit bieten sie den rechten Kräften, die strategischer und zielorientierter vorgehen, unnötige Angriffsflächen und machen es ihnen leicht, sich gegen sie durchzusetzen.

Die aktuelle Situation ist genau das, worauf die amerikanische Linke gewartet hat. Die Proteste der vergangenen Wochen sind ein eindrucksvoller Beweis für die Kraft der Demokratie – Bürgerinnen und Bürger aus allen Bundesstaaten und gesellschaftlichen Gruppen erheben ihre Stimme und zwingen die amerikanische Gesellschaft, sich Problemen zu stellen, die sie lange ignoriert hat. Zudem tragen die Proteste zu einem Stimmungswandel gegen einen Präsidenten bei, der für den Fortschritt und die Demokratie in den USA eine größere Gefahr darstellt als alles, was dieses Land in neuerer Zeit erlebt hat.

Um diese Chance für sich zu nutzen, muss die Linke allerdings begreifen, dass es in der Demokratie nur zwei Möglichkeiten gibt, seine Ziele zu erreichen: Entweder schließt man mit denen, die anderer Meinung sind als man selbst, Kompromisse – oder man schafft es, sie von seiner Meinung zu überzeugen. Intoleranz, Ausfälligkeiten und inquisitorische „Purity Tests“ sind von beidem das genaue Gegenteil. Dass die USA an einem entscheidenden Punkt angelangt sind, steht außer Frage – die demokratische Linke muss es nur erkennen und entsprechend handeln.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und IPS-Journal.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld