Kamala Harris muss in kurzer Zeit viel schaffen: Ein Team zusammenstellen, einen Vize-Kandidaten aussuchen und sich dem Land vorstellen. Doch ihre wichtigste Aufgabe ist eine andere: Sie muss sich darüber klar werden, worum es bei dieser Wahl geht.
Die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und reproduktive Freiheit vor weiteren vier Jahren Trump zu bewahren – das hat Kamala Harris in der vergangenen Woche als zentrale Wahlkampfthemen ausgegeben. Als glühende Verfechterin des Rechts auf Abtreibung und ehemalige Staatsanwältin bringt sie ideale Voraussetzungen mit, um diese Anliegen zum Kernthema ihrer Kampagne zu machen. Genüsslich erinnert sie die Wählerinnen und Wähler daran, dass Trump ein verurteilter Straftäter ist. „Ich habe es mit Tätern aller Art aufgenommen“, erklärte bei ihrer ersten Wahlkampfkundgebung. „Glauben Sie mir: Mit Typen wie Donald Trump kenne ich mich aus.“
Doch es reicht nicht, Donald Trump Paroli zu bieten und sich für reproduktive Rechte einzusetzen. Um zu gewinnen, muss Kamala Harris den berechtigten Unmut in der Bevölkerung adressieren, den Trump ausschlachtet: das Gefühl vieler Amerikaner (insbesondere bei denen ohne Hochschulabschluss), dass ihre Stimme nicht gehört, ihre Arbeit nicht gewürdigt wird und dass die Eliten sie verachten. Sie braucht eine Botschaft, die eine neue Verbindung herstellt zwischen den Demokraten und den Wählern aus der Arbeiterschicht, welche die Partei in den vergangenen Jahrzehnten vergrault hat. Diese Botschaft zu transportieren, wird ihr als ehemaliger Senatorin für Kalifornien vielleicht nicht ganz leichtfallen, zumal Donald Trump sie bereits als „linksradikale Verrückte“ abgestempelt hat. Doch wenn sie mit einem progressiven Politikentwurf aufwarten will, mit dem sie der Make America Great Again-Bewegung für die Zukunft das Wasser abgraben kann, muss sie es versuchen, denn es könnte im November über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Wenn die Demokraten die Wut und die Polarisierung in den USA thematisieren wollen, müssen sie sich als Erstes bewusst machen, was uns in diese instabile historische Situation gebracht hat: Rund 85 Prozent der Amerikaner sind der Meinung, dass es ihrer politischen Führung egal ist, was sie denken, und dass sie die Dynamiken, die ihr Leben bestimmen, nicht nennenswert mitgestalten können. Auf diesem Gefühl der Entmachtung bauen die beiden republikanischen Wahlkampfthemen auf, die am meisten ziehen: Inflation und Einwanderung. Wenn Harris weiterhin immer die gleichen ökonomischen Fakten aufsagt und die Befindlichkeiten der meisten Wählerinnen und Wähler nicht zur Kenntnis nimmt, wird sie gegen die unzufriedene Stimmung nichts ausrichten können, die der Grund ist, warum sie in den Umfragen hinter Trump zurückliegt.
Niedrige Arbeitslosenzahlen, stabile Beschäftigungszuwächse, steigende Löhne – wirtschaftlich waren die Biden-Jahre nach den üblichen Maßstäben ein Erfolg. Trotzdem spielt für die Wählerschaft die Inflation eine so große Rolle, dass die meisten von der Wirtschaftspolitik des Präsidenten nicht viel halten. Viele Wählerinnen und Wähler erleben die Teuerung als Angriff auf ihre Handlungsmacht, der ihnen tagtäglich die eigene Machtlosigkeit vor Augen führt: Ich kann noch so hart arbeiten und noch so viel verdienen – ich komme nicht voran oder kann nicht einmal das Niveau halten.
Mit vereinten Kräften haben beide Parteien die Wall Street dereguliert.
Warum war der Anstieg der illegalen Grenzübertritte auch für Wähler, die weit von der Südgrenze der USA entfernt leben, so beunruhigend? Das lag nicht daran, dass sie Trumps ausschweifender Demagogie von einwandernden Kriminellen, Vergewaltigern und Psychiatriepatienten Glauben schenken würden, sondern weil sie der Meinung sind, dass ein Land, dass es nicht schafft, seine Grenzen zu kontrollieren, auch nicht imstande sei, seine Geschicke zu lenken – und dass es Fremde besser behandle als manchen eigenen Bürger.
Sich ein neues wirtschaftspolitisches Konzept überlegen und den Bürger- und Gemeinschaftssinn neu beleben – das sind dem Anschein nach vielleicht zwei unterschiedliche Dinge. Beim Ersteren geht es um Inflation, Steuersätze und Handelspolitik, beim Zweiteren um Identität, Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Respekt. Beide sind jedoch Teil ein und desselben politischen Projekts. Wie die Wirtschaft geregelt wird, entscheidet nicht nur über die Einkommens- und Wohlstandsverteilung, sondern auch darüber, wer welche gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung erfährt.
Um das verlorene Wählervertrauen zurückzugewinnen, müssen die Demokraten eingestehen, dass das neoliberale Globalisierungsprojekt, das sie und der republikanische Mainstream jahrzehntelang betrieben haben, „denen da oben“ riesige Gewinne beschert, der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung jedoch Arbeitsplatzverlust und stagnierende Löhne gebracht hat. Die Gewinner nutzten den Geldsegen, um sich Einfluss auf höheren Entscheidungsebenen zu kaufen. Und der Staat versuchte nicht einmal mehr, der Konzentration wirtschaftlicher Macht Einhalt zu gebieten. Mit vereinten Kräften haben beide Parteien die Wall Street dereguliert. Als 2008 die Finanzkrise das System an den Rand des Abgrunds brachte, gaben sie Milliardenbeträge für die Rettung von Banken aus, während die normalen Eigenheimbesitzer alleine zusehen mussten, wie sie zurechtkommen.
2016 hatten 40 Jahre neoliberale Regierungspolitik eine Einkommens- und Vermögensungleichheit verursacht, wie es sie seit den 1920er Jahren nicht gegeben hatte. Die Gewerkschaften waren auf dem absteigenden Ast. Die Arbeitnehmer bekamen von den Profiten, die sie erwirtschafteten, immer weniger ab. Und das Finanzkapital beanspruchte einen immer größeren Anteil der Volkswirtschaft für sich. Aber das Geld floss eher in spekulative Anlagen (etwa in risikoreiche Derivate) als in realwirtschaftliches Produktivvermögen (Fabriken, Wohnraum, Straßen, Schulen).
Statt sich mit dem von ihnen angerichteten Schaden auseinanderzusetzen, empfahlen beide Parteien der arbeitenden Bevölkerung, sie solle sich durch den Erwerb von Hochschuldiplomen selbst optimieren. Die Politiker erklärten: „Wie viel ihr verdient, richtet sich danach, was ihr lernt; wer es versucht, kann es schaffen.“ Den Eliten fiel gar nicht auf, dass ihr Ratschlag eine unausgesprochene Beleidigung enthielt: Wer in der New Economy am Hungertuch nagt, ist selber schuld. Diese unangenehme Mischung aus ökonomischer Schädigung, Diplomgläubigkeit und Herablassung war einer der Faktoren, die Donald Trump zum Präsidenten machten.
Wirtschaftspolitisch hat Trump für die arbeitenden Menschen, die ihn unterstützen, wenig bewirkt.
Wirtschaftspolitisch hat Trump für die arbeitenden Menschen, die ihn unterstützen, wenig bewirkt. Er versuchte (vergeblich), das Krankenversicherungssystem abzuschaffen, auf das viele von ihnen angewiesen waren. Er beschloss eine Steuersenkung, von der hauptsächlich Konzerne und Vermögende profitierten. Doch seine feindselige Haltung gegenüber den Eliten und ihrem Globalisierungsprojekt kam weiterhin gut an. 2020 besiegte Joe Biden ihn zwar, aber die Wählerinnen und Wähler ohne Hochschulbildung hielten weiterhin zu Donald Trump.
Der altgediente Mainstream-Demokrat Joe Biden war nie ein Radikaler. J. D. Vance erinnerte zuletzt in seiner Rede auf dem Parteitag der Republikaner daran, dass Biden für das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, für Chinas Aufnahme in die Welthandelsorganisation (WTO) und für den Irakkrieg gestimmt hat. (Dass die meisten Republikaner all dem genauso zugestimmt haben, vergaß Vance zu erwähnen; NAFTA und die Normalisierung der Handelsbeziehungen mit China fand bei den Republikanern mehr Zustimmung als bei den Demokraten, und die gedanklichen Urheber und Anführer des Irak-Debakels waren Präsident George W. Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld.) Als Präsident rückte Joe Biden allerdings ungeachtet seiner langen Karriere als Mann der Mitte von der Politik ab, die den populistischen Backlash ausgelöst und Trump groß gemacht hatte. Mit seinen ambitionierten öffentlichen Investitionen in Infrastruktur, verarbeitende Industrie, Beschäftigung und erneuerbare Energien reaktivierte Biden die Rolle des starken Staates, an die man sich aus den Zeiten des New Deal erinnert. In die gleiche Richtung gingen sein Einsatz für Tarifverhandlungen und die Wiederbelebung des Kartellrechts. Dadurch wurde er zu einem der Präsidenten der neueren Zeit, die am meisten bewirken konnten.
Trotzdem blieb er unbeliebt. Biden und seine Mannschaft hielten das Timing für das Problem: Bis aus öffentlichen Investitionen Arbeitsplätze und greifbare Nutzeffekte werden, braucht es eben Zeit. Doch das eigentliche Problem lag tiefer. Joe Biden hat nie eine grundsätzliche Regierungsvision angeboten und nie erklärt, wie und warum die von ihm betriebene Politik in der Summe ein neues demokratisches Projekt ergibt. Franklin Roosevelt hatte erkannt, dass man das große Ganze in den Vordergrund stellen muss. Er konnte der amerikanischen Bevölkerung überzeugend vermitteln, dass die von ihm geschaffenen Einflussmöglichkeiten und seine Politik ihr die Chance gab, die Macht der Konzerne zu kontrollieren. Eine solche oder ähnliche Geschichte hat Joe Biden nicht aufgeboten.
Als er den Bruch mit dem Zeitalter der neoliberalen Globalisierung vollzog und dafür sorgte, dass der Staat sich seine marktregulierende Rolle im Interesse des Gemeinwohls zurückerobert, tat er dies ohne großes Tamtam und lieferte keine Erklärungen. Er gestand nicht ein, dass seine eigene Partei die Politik, die den Graben zwischen Gewinnern und Verlieren vertieft hatte, mit zu verantworten hat. Vielleicht ließ er sich stärker von politischem Instinkt als von einer inhaltlichen Vision leiten. Vielleicht wollte er auch seine Abkehr von der marktfreundlichen Philosophie des Präsidenten, in dessen Dienst er gestanden hatte, nicht zu offensichtlich werden lassen.
Joe Biden hat nie eine grundsätzliche Regierungsvision angeboten.
Sein American Rescue Plan, das Gesetz für Infrastruktur-Investitionen und Arbeitsplätze, sein Förderprogramm für die Halbleiterforschung und -fertigung (CHIPS and Science Act), das Investitionspaket zur Inflationsbekämpfung (Inflation Reduction Act) – all das war politisch beeindruckend, aber es fehlte die politische Leitidee. Gesetzgeberisch war seine Präsidentschaft ein Triumph, aber er konnte die Massen nicht begeistern. Das machte ihn zum schwachen Gegner für Donald Trump, der politisch zwar nicht sonderlich erfolgreich war, aber mit seiner Make America Great Again-Bewegung den zu unserer Gegenwart gehörenden Nerv der Empörung traf.
Doch was bedeutet all das für den Wahlkampf von Kamala Harris? Um Donald Trump zu besiegen, muss sie die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern, die das Land polarisiert, ernst nehmen und den Unmut der arbeitenden Menschen zur Kenntnis nehmen, die das Gefühl haben, für ihre Arbeit keinen Respekt zu bekommen, von den Eliten von oben herab behandelt zu werden und wenig Einfluss auf die Dynamiken zu haben, die ihr Leben bestimmen.
Dazu gehört, dass Kamala Harris ein Thema in den Fokus stellen sollte, das während Bidens Präsidentschaft lange unausgesprochen mitschwang, aber nicht genug zur Entfaltung kam: die Würde der Arbeit. Bidens staatliche Investitionen und Arbeitsmarktreformen waren darauf ausgelegt, die durch die Globalisierung ausgelaugten Bevölkerungsgruppen wieder zu stärken und die Wirtschaft so zu gestalten, dass sie jeden auf einen grünen Zweig kommen lässt. Harris sollte in ihrer Kampagne nicht nur für diese Errungenschaften einstehen, sondern einen ambitionierteren Aufbruch wagen: ein Projekt der demokratischen Erneuerung, das mehr ist als die Rettung der Demokratie vor Donald Trump.
Die Minimalbedeutung von Demokratie ist, dass der Unterlegene aus dem Amt scheidet – und genau diesen elementaren Punkt stellt Trump mit seinem Verhalten in Frage. In ihrer Maximalbedeutung heißt Demokratie jedoch, dass die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam über Recht und Gerechtigkeit und über das Wohl der Allgemeinheit beratschlagen. Die Würde der Arbeit ist wichtig für eine intakte Demokratie, weil sie es jedem Einzelnen ermöglicht, zum Gesamtwohl beizutragen und sich dadurch Anerkennung zu verdienen.
Die Würde der Arbeit ist wichtig für eine intakte Demokratie, weil sie es jedem Einzelnen ermöglicht, zum Gesamtwohl beizutragen.
Wenn Kamala Harris mit konkreten Vorschlägen aufwartet, wie Arbeit gewürdigt – und fair entlohnt – werden kann, könnte sie Trump und Vance zwingen, sich zu entscheiden: Wollen sie die Partei der Arbeiterschicht sein, die sie zu werden hoffen, oder bleiben sie die Republikanische Partei der Konzerne, die sie nach wie vor sind? Harris sollte die Fragen stellen, die einer progressiven Politik für das 21. Jahrhundert Kraft geben würden: Wenn es uns wirklich ernst ist mit der Würde der Arbeit – warum besteuern wir dann Arbeitseinkommen höher als Kapitalgewinne und Einnahmen aus Dividenden? Sollte der US-weite Mindestlohn nicht höher sein als 7,25 Dollar? Trump hat vorgeschlagen, Trinkgelder von der Steuerpflicht auszunehmen. Wie wäre es stattdessen mit einem kühneren Vorschlag: Warum senken wir nicht die Lohnsteuer für abhängig Beschäftigte oder schaffen sie ganz ab und führen zur Gegenfinanzierung eine Finanztransaktionssteuer ein?
Über steuerliche Maßnahmen hinausgedacht: Wie wäre es, wenn der Staat in eine flächendeckende Kinderbetreuung investieren würde, um nicht nur diejenigen zu unterstützen, die außer Haus arbeiten, sondern um außerdem für eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen für das Betreuungspersonal zu sorgen? Die Demokraten könnten sich für Branchentarifverträge starkmachen, damit Fast-Food-Beschäftigte Löhne und Arbeitsbedingungen branchenweit aushandeln könnten und dies nicht für jeden Betrieb einzeln tun müssten. Die Demokraten könnten Unternehmen dazu verpflichten, dass Mitarbeiter Sitze in Führungsgremien bekommen und den Beschäftigten der Gig-Economy der Status von Angestellten zuerkannt wird.
Und wie soll mit der Automatisierung umgegangen werden? Sollen über die Frage, auf welche Ziele die künstliche Intelligenz und neue Technologien ausgerichtet werden, nur die Risikokapitalgeber des Silicon Valley entscheiden, oder sollten die Bürgerinnen und Bürger – unterstützt durch öffentliche Investitionen – mitbestimmen dürfen, in welche Richtung die Hightech-Branche sich entwickelt, und auf Innovationen drängen können, die die Arbeitnehmer stärkt und nicht ersetzt? Wie wäre es, wenn wir bei der Bewältigung des Klimawandels nicht auf von oben verordnete technokratische Lösungen setzen, sondern versuchen, denen zuzuhören, die um ihre Existenzgrundlagen fürchten? Wir könnten lokale Foren einrichten, in denen die Menschen, die in der fossilen Brennstoffindustrie und in der Landwirtschaft beschäftigt sind, den Übergang zu einer grünen Wirtschaft in Zusammenarbeit mit führenden Vertretern der Kommunen, mit Wissenschaftlern und staatlichen Funktionsträgern gemeinsam gestalten.
So könnte eine tragfähigere Auseinandersetzung über die Gestaltung unserer Zukunft aussehen, die damit ansetzt, dass sie die Unzufriedenheit in Angriff nimmt, die Donald Trump sich zu Nutze macht. Mag sein, dass Kamala Harris und ihr Team vor dieser ambitionierten Aufgabe zurückschrecken und hoffen, dass sie die Wahl gewinnen können, indem sie Angst vor Donald Trump schüren und vor Abtreibungsverboten warnen. Der Wahlkampf, so könnten sie argumentieren, sei zu kurz, und es stehe zu viel auf dem Spiel; die öffentliche Debatte auf eine höhere Ebene heben könne man später immer noch.
Das wäre jedoch ein politischer Fehler und eine vertane historische Chance. Wer Donald Trump als Straftäter schmäht, zieht damit vielleicht die Basis auf die eigene Seite, vertieft aber die Gräben noch mehr. Den Amerikanerinnen und Amerikanern ein demokratisches Projekt anzubieten, das mehr Begeisterung weckt, könnte bei manchen einen Sinneswandel bewirken und einige Wählerinnen und Wähler umstimmen – und etwas Hoffnung machen auf ein öffentliches Leben, in dem es weniger gehässig zugeht.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld