Die Demokraten gingen davon aus, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern maßgeblich zum Ausgang der Präsidentschaftswahlen beitragen würden. Laut Umfragen tendierten Frauen stark zur Demokratischen Partei, wobei das Abtreibungsrecht eine entscheidende Rolle spielte. Es wurde erwartet, dass Frauen scharenweise zu den Wahlurnen strömen würden, um ihrer Heldin dabei zu helfen, die „gläserne Decke“ zu durchbrechen.
Dies zumindest schien die Annahme von Harris’ Wahlkampfteam zu sein. Warum sollte man auch etwas anderes annehmen? In den sozialen Medien und an Hochschulen im ganzen Land waren Frauen entsetzt über Trumps Höhlenmenschen-Verhalten und das abschätzige Männer-Gerede von J.D. Vance über „kinderlose Katzen-Frauen“. Überall war von „Wut“ die Rede. Am Wahltag würde diese Wut der Frauen dem Vergewaltiger Trump doch sicherlich eine schallende Ohrfeige verpassen.
Doch es kam anders. Zwar zeigten die Umfragen vor den Wahllokalen, dass Frauen und Männer unterschiedlich wählten, doch der Unterschied war weitaus weniger ausgeprägt als erwartet. Harris’ Vorsprung bei den Wählerinnen war sogar kleiner als der von Joe Biden im Jahr 2020.
Die Ursache hierfür lag weniger bei den Frauen als vielmehr bei Kamala Harris und der Strategie ihres Wahlkampfteams. Abgesehen von dem Versprechen, das Recht auf Abtreibung zu sichern, fehlten zentrale Themen, die für Frauen relevant sind. Weder die finanzielle Belastung vieler Haushalte noch Erziehung, Bildung, Einschränkungen beim Waffenrecht, Gesundheitsversorgung, Umwelt oder Immigration spielten eine prominente Rolle. Auch die anhaltenden Auswirkungen der Corona-Pandemie wurden ignoriert.
Harris’ größter Fehler war, sich auf ein einzelnes Thema zu fokussieren.
Wenn sich fast alle Frauen in einem Punkt einig sind, dann ist es, dass sie es nicht mögen, für selbstverständlich genommen zu werden. Harris’ größter Fehler war, sich auf ein einzelnes Thema zu fokussieren und das Recht auf Abtreibung zum Schwerpunkt ihres Wahlkampfs zu machen, was eine ziemlich eingeschränkte Sicht auf das Leben von Frauen als Bürgerinnen widerspiegelt. Frauen – auch Frauen, die für das Recht auf Abtreibung sind – lassen sich in ihrer Wahlentscheidung nicht ausschließlich von einem einzelnen Thema leiten.
Zudem ist Abtreibung nicht die größte Sorge aller Frauen. Viele Frauen wollen oder können nicht schwanger werden. Und in einigen der Staaten, die fest in republikanischer Hand sind, waren Gesetze verabschiedet worden, um das Recht auf Abtreibung zu schützen. Die Mehrheit der Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, sind bereits Mütter, die ihre Schwangerschaft aus finanziellen Gründen beenden wollen. Sie machen sich Sorgen über die Versorgung und Bildung ihrer Kinder.
Das erstaunlichste Manko in Harris’ Wahlkampf war in der Tat, dass das Thema Bildung überhaupt nicht vorkam. Nur 16 Prozent der US-Bevölkerung glauben, dass sich das K-12-Bildungssystem, das vom Kindergarten bis zur Zwölften Klasse reicht, in die richtige Richtung entwickelt. Frauen (und Männer) sind verärgert über das weitgehende Scheitern der grundlegenden Bildungsstandards in den USA – ein Gefühl, das sich während der Corona-Pandemie verstärkte. Jonathan Chait wies kürzlich im New York-Magazin darauf hin, dass Bildung lange Zeit ein bestimmendes Thema für die Demokraten war. Aber unter Biden stand das K-12-Bildungssystem nicht oben auf der Tagesordnung und Harris verlor in ihrem Wahlkampf kaum ein Wort darüber. Lediglich auf ihrer Webseite wurde es kurz und lapidar erwähnt. Der Schutz von „elterlichen Rechten“ wurde abgetan: als Anliegen des rechten politischen Spektrums, als Codewort für Hass oder als Sorge konservativer Frauen. Dass auch Demokraten Eltern sind, wurde kaum zur Kenntnis genommen.
Frauen leben nicht im luftleeren Raum. Sie haben Söhne, um die sie sich sorgen, Ehemänner und Brüder, die zu kämpfen haben, Väter, die sich verloren fühlen. Frauen machen sich Gedanken um die Probleme, die ihre Männer belasten, und in der Wahlkampagne wurden die Probleme von Jungen und Männern in den USA kaum angesprochen. Frauen mögen es nicht, wenn ihre Prioritäten einfach so beiseitegeschoben werden. Und ebenso wenig mögen sie es, von oben herab behandelt zu werden.
Als Vizepräsidentin hat Harris wenig dafür getan, das Vertrauen von Frauen zu gewinnen.
Biden hat Harris seinerzeit vor ihrer Nominierung zur Vizekandidatin keinen Gefallen damit getan, als er ausdrücklich erklärte, auf jeden Fall eine Frau ernennen zu wollen. Bei keiner Frau kommt auch nur die Andeutung „Wir haben Sie eingestellt, weil wir eine Frau brauchten“ annähernd so gut an wie die Aussage „Sie sind die beste Person für diese Aufgabe“. Frauen wollen zwar nicht, dass ihnen eine Stelle aufgrund ihres Geschlechts verwehrt wird, aber sie wollen auch nicht aufgrund ihres Geschlechts eingestellt werden.
Als Vizepräsidentin hat Harris wenig dafür getan, das Vertrauen von Frauen zu gewinnen. Es ist zwar richtig, dass Biden ihr eher die undankbaren Aufgaben übertrug, aber die meisten Frauen wissen, dass man bei diesen Aufgaben doppelt so hart arbeiten muss, um keine Zweifel an den eigenen Fähigkeiten aufkommen zu lassen. Harris dagegen hat die Probleme links liegen lagen.
Auch als Präsidentschaftskandidatin ist Harris wieder ins Stolpern geraten. Auf der Bühne und in Interviews klang sie abwechselnd aalglatt und mechanisch. Mit ihrem aufgeblasenen Geschwätz erinnerte sie an die Personalmanagerin eines großen Konzerns. Sie versuchte, in Podcasts wie Call Her Daddy schlecht informierte, alleinstehende Wählerinnen für sich zu gewinnen und witzelte über das ihr verliehene Etikett, „Brat“ zu sein. Sie wirkte oft aufgesetzt und so, als habe sie ihren Text auswendig gelernt, als plappere sie einfach nur nach, was ihre politischen Beraterinnen und Berater ihr gesagt hatten.
In den ersten, euphorischen Tagen von Kamala Harris’ Wahlkampf war oft von „Freude“ die Rede. Doch für mich klang das wie Wunschdenken – eine Stimmung, die vor allem in den geschlossenen Blasen von Instagram oder unter den treuesten Anhängerinnen bei Wahlkundgebungen existierte. Vielleicht spiegelte sie auch einfach die Erleichterung darüber wider, Joe Biden nicht mehr an der Spitze zu haben. Doch bei vielen anderen linksliberalen oder demokratischen Frauen, mit denen ich während des Wahlkampfs sprach, hielt sich die Begeisterung für Harris in Grenzen.
Zwar wünschen sich viele Frauen endlich eine Präsidentin, doch sie erwarten gleichzeitig eine Führungspersönlichkeit, die diesem historischen Moment gerecht wird. Niemand möchte, dass die erste Frau im höchsten Staatsamt scheitert. Genau hier hat Kamala Harris es versäumt, Vertrauen aufzubauen. Ihr Wahlkampf bot wenig Überzeugendes, um Frauen das Gefühl zu geben, dass sie die Richtige für diese Aufgabe ist. Die demokratische Partei sollte daran denken, dass eine Frau das Vertrauen von Frauen genauso gewinnen muss wie ein Mann.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.
Aus dem Amerikanischen von Ina Goertz