Ein Aufatmen ging durch die Wirtschaft, als die USA und Mexiko eine Einigung über das strittige Migrationsthema erzielten und Strafzölle vorerst abgewendet waren. Die Gefahr eines Handelskrieges schien wenigstens hier abgewendet. US-Präsident Donald Trump hatte dem Nachbarland mit Strafzöllen bis zu 25 Prozent gedroht, sollte Mexiko nicht härter gegen Migranten aus Drittländern vorgehen. Über Gewinner und Verlierer des Abkommens, darüber ob US-Präsident Donald Trump geblufft oder es ernst gemeint hatte mit seiner Erpressung, oder ob die beiden zum Populismus neigenden Staatschefs lediglich ein Ablenkungs-Feuerwerk von internen Problemen gezündet hatten, entbrannte umgehend eine Debatte.
Klar ist: Die Zölle wären Harakiri gewesen. Dies gilt vor allem für Mexiko, aber auch für die Konsumenten und Unternehmen der Freihandelspartner USA und Kanada. Denn das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) hat nicht nur die aktivste Freihandelszone der Welt mit einem Warenaustausch von 1,4 Milliarden US-Dollar täglich geschaffen, sondern integrierte Produktionsketten. Firmen aus der ganzen Welt – angefangen bei deutschen Autoherstellern – haben so ihre Abläufe optimiert und nutzen die Zone von Kanada bis Mexiko als Plattform für weltweiten Export.
Erleichtert war also die Wirtschaft. Für ihre Waren wird die Grenze offen bleiben. Für Menschen hingegen wird sie undurchlässiger. Mexiko hat zugesagt, die neu geschaffene Nationalgarde – ursprünglich ein Vehikel zur Bekämpfung der Drogenkriminalität – vor allem gegen Migranten einzusetzen und deren Marsch gen Norden zu stoppen. Das Abkommen militarisiere die Grenzregion, mache Mexiko zum vorgelagerten Grenzposten der USA und kriminalisiere Migration, kritisieren deshalb Menschenrechtsorganisationen.
Mit unilateralen, humanitären Gesten alleine ist die Migrationsproblematik nicht zu lösen. Doch auch Trumps Repression ist mittelfristig zum Scheitern verurteilt.
Sie fühlen sich von Mexikos linksnationalistischem Präsidenten Andrés Manuel López Obrador vorgeführt. Der hatte noch im Wahlkampf eine humanere Migrationspolitik versprochen und nach seinem Amtsantritt im Dezember großzügig Transitvisa verteilt. Doch das ermutigte Schlepper aus der ganzen Welt. Immer vorne mit dabei, wenn es darum geht, aus dem Elend Profit zu schlagen, nutzten sie die Gelegenheit eines legalen Transits und ermutigten Auswanderungswillige. Die Zahl der Migranten verdoppelte sich, und plötzlich waren es nicht mehr nur Mittelamerikaner, sondern Menschen aus aller Welt, von Eritrea über China bis Afghanistan, die Mexiko als Plattform nutzten. Schon in den ersten sechs Monaten seit López Obradors Amtsantritt im Dezember kam eine halbe Million nach Mexiko – so viel wie sonst pro Jahr.
Schlepperringe erzielen in Mexiko mit Menschenhandel jährlich Schätzungen zufolge zwischen 32 und 36 Milliarden US-Dollar. Damit ist es der drittlukrativste illegale Geschäftszweig nach dem Drogen- und dem Waffenhandel. Je schwieriger der Weg, je höher das Risiko, umso teurer wird die Reise, und umso mehr gibt es zu verdienen. In den 80er Jahren nahm ein Schlepper für eine Grenzüberquerung in die USA ein paar hundert Dollar. Heute kostet sie bis zu 10.000 Dollar. Zunehmend steckt hinter Massenmigrationen auch politisches Kalkül. In Honduras organisierten linke Regierungsgegner aus dem Umfeld der Partei Libre seit Herbst die berüchtigten Karawanen, in der Absicht, den rechten Präsidenten Juan Orlando Hernandez bei den USA in Misskredit zu bringen oder zu stürzen. Die für freie Migration weltweit eintretende US-Organisation Pueblos sin Fronteras begleitete ihrerseits die Karawanen durch Mexiko und nahm dabei wenig Rücksicht auf Regeln und Gepflogenheiten.
Diese Gemengelage machte auch der mexikanischen Regierung klar: Mit unilateralen, humanitären Gesten alleine ist die Migrationsproblematik nicht zu lösen. Doch auch Trumps Repression ist mittelfristig zum Scheitern verurteilt. Denn sie attackiert ein Phänomen, nicht seine Ursachen, als da sind: Zum einen die sogenannten pull-Faktoren: Das Interesse der bereits in den USA residierenden Hispanos an Familienzuammenführung; das attraktive Asylrecht der USA und das Interesse der US-Wirtschaft an billigen, rechtlosen Arbeitskräften.
Am anderen Ende wirken die push-Faktoren: Der Klimawandel, der den Kleinbauern Mittelamerikas die Existenzgrundlage raubt; die hohe Gewaltkriminalität, die man sonst nur aus Kriegsgebieten kennt; ein Bevölkerungswachstum, das die Ressourcen der Länder um ein vielfaches übersteigt; und korrupte Eliten, für die Migration ein gutes Geschäft und ein willkommenes Ventil ist, um den internen Reformdruck abzulassen. 2017 überwiesen Migranten aus El Salvador, Guatemala und Honduras 4,3 Milliarden US-Dollar an Angehörige in der Heimat. Dagegen verblassen die 500 Millionen US-Hilfe. Das Geld aus den Rücküberweisungen fließt vor allem in den Konsum und damit direkt in die Shoppingmalls der Elite. Die Motivation der Elite, an dieser Situation etwas zu ändern, ist also gering, wie der salvadorianische Politologe und Ex-Guerillero Joaquín Villalobos in einem lesenswerten Essay in der Zeitschrift Nexos erläutert.
Der Freihandel ist keine Patentlösung. Für die wenig wettbewerbsfähigen mittelamerikanischen „Nachtischökonomien“ hat er nicht funktioniert.
Aber die Region ist nicht nur ein Negativbeispiel, sondern hält einige Lektionen bereit, was funktionieren könnte; so die Integration von Wirtschaftsräumen. Nafta ist ein interessantes Beispiel. Mexiko hat seit dem Abschluss des Abkommens im Jahr 1994 sein Pro-Kopf-Einkommen von durchschnittlich 5000 auf 8600 US-Dollar im Jahr und seine Exporte um über 600 Prozent gesteigert. Die Wirtschaft diversifizierte sich und differenzierte sich aus; Mexiko ist heute dank einer ganzen Reihe von Freihandelsabkommen der viertgrößte Autoexporteur weltweit. Das ging einher mit gesellschaftlichen Veränderungen. So sank die Geburtenrate von 3,2 auf heute 2,1 Kinder pro Frau, und seit 2007 ist die Migrationsrate negativ. Das heißt: jedes Jahr kehren mehr Mexikaner in die Heimat zurück (vor allem Rentnerinnen und Rentner am Ende ihres Arbeitslebens) als auswandern.
Nicht alles ist perfekt an Nafta: Die großen Lohndifferenzen, auf die Trump zu Recht hinweist, hätten längst schrittweise im Einklang mit einer gesteigerten Produktivität der mexikanischen Arbeitskräfte angehoben werden müssen – was wiederum die heimische Nachfrage und die Volkwirtschaft ankurbeln würde. Strukturschwache Regionen hätten intensiv gefördert werden müssen. Dass die mexikanische Elite dies unterlassen hat, war ein schwerer Fehler. Dass Trump nun aber ein Abkommen in Frage stellt, von dem auch US-Konsumenten und Produzenten durch niedrigere Preise profitieren und ohne das die US-Autoindustrie vermutlich gar nicht mehr existierte, ist ebenfalls fatal. Denn auch die US-Regierungen haben es unterlassen, die einheimischen Sektoren, die durch Nafta verloren, sozial abzufedern.
Der Freihandel ist aber keine Patentlösung. Für die kleineren, von den USA weiter entfernten und wenig wettbewerbsfähigen mittelamerikanischen „Nachtischökonomien“ (wegen der Hauptexportprodukte wie Bananen, Rum, Kaffee, Kakao) hat er als Strategie nicht funktioniert. Zumal Mexiko auch zeitlich die Nase vorn hatte. Was in Mittelamerika aber erste Erfolge zeitigte, war das unter US-Präsident Barack Obama verabschiedete Entwicklungsprogramm für das Nördliche Dreieck - Guatemala, El Salvador und Honduras, aus dem die meisten Migranten stammen. Dessen Grundidee war, die Korruption zu bekämpfen und einen Rechtsstaat zu etablieren – was die Eliten erstmals gegenüber ihrer Bevölkerung rechenschaftspflichtig machte.
Die USA unterstützen korrupte und durch Wahlbetrug und Drogengelder an die Macht gekommene Präsidenten, die als „antikommunistisch“ gelten.
Bestes Beispiel ist die UN-Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala (CICIG). Ihr gelangen spektakuläre Erfolge gegen die mafiösen Netzwerke der Elite und der Aufbau einer erstmals effizienten, unabhängigen heimischen Justiz. In der Folge sanken die Kriminalitätsraten, und ein wichtiger Faktor für Auswanderung verlor an Relevanz.
Ähnliche Kommissionen wurden daraufhin für El Salvador und Honduras geschaffen. Trump hat leider deren Unterstützung zurückgefahren, nachdem Lobbyisten der mittelamerikanischen Elite seinen von Falken dominierten Lateinamerika-Beratern erzählten, diese Kommissionen seien kommunistisch unterwandert. Stattdessen unterstützen die USA nun korrupte und durch Wahlbetrug und Drogengelder an die Macht gekommene Präsidenten wie Jimmy Morales in Guatemala und Juan Orlando Hernández in Honduras, die in den Augen der US-Regierung aber „antikommunistisch“ sind, linke Opposition notfalls auch gewaltsam bekämpfen und ansonsten dem US-Militär und Geheimdienst im Lande freie Hand lassen.
Diese Strategie heizt innere Spannungen an und destabilisiert die Ursprungsländer der Migration, statt sie zu stabilisieren. Erklärbar ist ein derart kontraproduktives Handeln nur durch ideologische Verblendung oder volle Absicht – nämlich dann, wenn es den USA überhaupt nicht um die Bekämpfung der Migration geht, sondern darum, sie politisch zu nutzen als Wahlkampfthema, aber auch als Vorwand, um weiterhin im lateinamerikanischen Hinterhof repressiv zu intervenieren.