Jean Monnet, einer der Gründerväter der Union, sagte einmal: "Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird einst die Summe der Lösungen sein, die man für diese Krisen ersonnen hat." Heute nähert sich die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einem Zustand, den man als eine prägende Krise bezeichnen könnte. Denn zahlreiche internationale Konflikte und sich unerwartet abzeichnende globale Trends haben die Rolle Europas als sicherheitspolitischer Akteur unterminiert.  

Russlands Annexion der Krim, die Destabilisierung der Ostukraine und militärische Provokationen mehrerer EU-Mitgliedsstaaten stellen die nach dem Ende des Kalten Krieges etablierte europäischen Sicherheitsordnung in Frage. Und sie haben ins Bewusstsein zurück gerufen, dass Aggression mit konventionellen Waffen und territoriale Besetzungen wieder zu einer Möglichkeit der Auseinandersetzung werden können. Gleichzeitig hat sich der Syrienkonflikt entgrenzt und ist in die benachbarten Länder der Region eingesickert. Libyen versinkt zunehmend in Gewalt: Bewaffnete Schlepperbanden schleusen eine immer größere Zahl von Flüchtlingen über die lebensgefährliche Mittelmeerroute, und islamistische Terroristen planen permanent Anschläge.

Extremismus in der Nachbarschaft und Radikalisierung zu Hause lassen in der EU die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen. Anstatt von einem Ring von Freunden ist die Union heute von einem 'ring of fire‘ umgeben, der vom Sahel über das Horn von Afrika, durch den mittleren Osten, über den Kaukasus bis zu den nahen Konflikt- und Frontlinien in Osteuropa reicht. Kein anderer 'Global Player' sieht sich zur Zeit in seiner strategischen Nachbarschaft einem vergleichbaren Chaos gegenüber.

Angesichts dieser Lage wir deutlich, dass Sicherheit und Verteidigung das bei weitem schwächste Glied in der Kette der europäischen Einigung sind. Über Jahre hinweg haben un-koordinierte Einschnitte bei den Verteidigungsausgaben die außen- und sicherheitspolitische Rolle der EU in einer inzwischen multilateralen Welt untergraben. Differenzen unter den Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Einschätzung von Bedrohungslagen, unterschiedliche Zielvorstellungen und Präferenzen und, in einigen Fällen, ein Mangel an gegenseitigem Vertrauen und Solidarität verhindern das Aufkommen einer gemeinsamen strategischen Kultur und behindern die Entwicklung gemeinsamer Strukturen, Verfahren und Aktionsmöglichkeiten.

Dennoch, der Lissabon-Vertrag gebietet und erlaubt eine Menge mehr im Hinblick auf eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die politischen Eliten in den Mitgliedsländern haben aber nicht nur weitgehend die Bedrohungslagen unterschätzt. Sie haben auch die Stimmungslage in der europäischen Öffentlichkeit ignoriert, die sich im zurückliegenden Jahrzehnt bei Umfragen konstant zu über 70 Prozent für ein breit angelegtes europäisches Verteidigungsprojekt ausgesprochen hat.

Es ist daher an der Zeit, dass die EU mutige und konkrete Schritte in Richtung auf eine deutlich verbesserte sicherheitspolitische Kooperation unternimmt. Die Kosten mangelhafter Abstimmung in der Verteidigungspolitik wurden 2013 in einem Bericht des Europa-Parlaments auf jährlich circa 26 Milliarden Euro geschätzt. Sie könnten noch erheblich steigen, wenn sich die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen weiter verschlechtern. Dabei müßte eine Verbesserung der Handlungsfähigkeit der EU in der Sicherheitspolitik keine Frage des Geldes werden. Sie wird eher vom politischen Willen zu verstärkter Kooperation und der gemeinsamen Nutzung bestehender oder zu schaffender Fähigkeiten abhängen. Die Mitgliedsländer der Union könnten eine Menge mehr für die 190 Milliarden Euro bekommen, die sie jährlich für Verteidigung ausgeben, um 28 nationale Armeen mit 1,5 Millionen Soldaten zu unterhalten, die erfolglos versuchen, heute notwendige militärische Fähigkeiten zu erhalten.

Zusätzlich zu den ökonomischen Argumenten gibt es aber auch genug politische, moralische und strategische Aspekte, die die Union dazu drängen, ihre verteidigungspolitischen Anstrengungen zu erhöhen. Eine ambitionierte EU-Aussenpolitik muß darauf abzielen, Instabilität und Fragilität in den Nachbarländern abzubauen und sicherheitspolitische Verantwortung für die Rückkehr zu einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung zu übernehmen. Die EU muss damit rechnen, dass es in Zukunft Konflikte geben wird, in die die USA nicht als letzte Instanz einer militärischen Lösung (Libyen, Kosovo) eingreifen, weil ihre Interessen nicht oder nur am Rande tangiert sind.

Auf seinem Gipfel im vergangenen Juni hat der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs weitere Schritte zu einer besseren Abstimmung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschlossen. Die Union wird auf drei Feldern aktiv werden müssen: Erstens wurde die Aussenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, bereits damit betraut, eine neue Sicherheitsstrategie zu erarbeiten, die die veränderten regionalen und globalen Herausforderungen berücksichtigt. Zweitens werden institutionelle Reformen (Schaffung eines Verteidigungsausschusses, eines Europäischen Hauptquartiers etc.) sowie veränderte Verfahren und Finanzierungsmodalitäten zu entwickeln sein. Und drittens wird es darum gehen, Prioritäten hinsichtlich zukünftiger militärischer Fahigkeiten zu setzen, sich auf Verfahren für ‚pooling and sharing‘ zu einigen und die dazu notwendige Harmonisierung in der europäischen Industrie voranzutreiben. Letztlich sollte dieser Prozess in eine 'Europäische Verteidigungsunion' münden, die nicht mit der NATO konkurriert, sondern komplementär zu ihr agiert und sie gegebenenfalls auch bei der territorialen Verteidigung unterstützt. Perspektivisch sollte das Ziel sein, die Bedingungen für eine dauerhaft strukturierte Kooperation zu schaffen und, wo möglich, zur Integration der Armeen der Mitgliedsstaaten anzusetzen – ein sicherlich ambitioniertes, komplexes und langfristiges Vorhaben.

Aber, das Krisenszenario, dem sich die Union gegenüber sieht, könnte einen Wandel in der Politik möglich machen. Ohne einen starken sicherheits- und verteidigungspolitischen Arm wird die Union ihren selbst formulierten Anspruch nicht erfüllen können, im Rahmen eines umfassenden Ansatzes (comprehensive approach), Friedensmacht zu sein und zu Konfliktprävention, Krisenbewältigung und Friedensförderung beizutragen. Zwar hat sie in den letzten Jahren große Fortschritte bei ihren zivilen Beiträgen zu multidimensionalen Missionen gemacht, doch diese Fortschritte reichen bei weitem nicht aus. Denn auch als Friedensmacht wird die EU nur respektiert werden, wenn sie im Ernstfall verhandelte Konfliktlösungskonzepte durchsetzen kann (enforcement).

Die aktuelle globale und regionale Bedrohungslage hat die Grundlage für eine breite öffentliche Debatte über eine Neuausrichtung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschaffen. Und angesichts der Sensibilität und Wichtigkeit des Themas wären die Regierungen der Mitgliedsländer der Union gut beraten, die öffentliche Auseinandersetzung zu suchen. Es gäbe im Moment eine Chance für die Union, eine Zukunft in Frieden und Wohlstand besser abzusichern und dabei den Erwartungen ihrer Bürger ebenso zu entsprechen wie denen ihrer internationaler Partner.


Die Autoren sind Mitglieder einer Task Force des Center for European Policy Studies (CEPS) und des Europabüros der Friedrich Ebert Stiftung in Brüssel, die vom früheren Nato-Generalsekretär und ehemaligen Hohen Beauftragten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, geleitet wurde. Die Gruppe von europäischen Experten hat im März diesen Jahres unter dem Titel "More Union in European Defence" (http://www.fes-europe.eu/; http://www.ceps.eu/publications/more-union-european-defence)einen Bericht vorgelegt, der konkrete Vorschläge zu einer Neuausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik macht.