Kurz vor unserer Rückkehr nach fünf Jahren in den USA sah ich im Washingtoner Flughafen im Juli 2014 zwei T-Shirts. Das erste war mit vielen Symbolen der Nation bedruckt, das zweite trug die Aufschrift „Ich liebe mein Land, es ist die Regierung, die ich fürchte”.

Die Häufung der emotional aufgeladenen Symbole vermittelte mir weniger Stolz und (Selbst)vertrauen als vielmehr die Suche einer verunsicherten Gesellschaft nach Bestätigung. Der regierungskritische Ton des zweiten T-Shirts knüpfte an das für Amerika so charakteristische Misstrauen gegenüber dem „Staat“ an, dessen Agieren von vielen als Bevormundung eigenverantwortlich handelnder Bürger gesehen wird. Bei konservativen Republikanern und Tea Party Aktivisten ist diese traditionelle Skepsis vielfach umgeschlagen in eine anti-staatliche Ideologie. Auch ist sie Ausdruck von Verunsicherung und Abwehr angesichts als bedrohlich angesehener Veränderungen – von der Wahl eines „sozialistischen”, afroamerikanischen Präsidenten über die zunehmende Globalisierung der amerikanischen Gesellschaft durch Einwanderung bis zur Gleichberechtigung von Homosexuellen.

Doch nicht nur gesellschaftlicher Wandel macht der amerikanischen Gesellschaft zu schaffen. Washington erschien mir während unserer Jahre dort immer mehr wie die „Hauptstadt der Sorgen der Welt”, die sich mit „endlosen Krisen“ konfrontiert sah (so der Titel eines Buchs des US-Diplomaten Thomas Graham). Kaum ein Tag verging ohne beunruhigende Nachrichten und deprimierende Bilder von Konflikten und Leid. Die ganze Welt schien dabei unausgesprochen zu erwarten, dass „Washington“ (und besonders Präsident Obama) all dies aufnehme, Traumata quasi absorbiere und „etwas tue“ – was anschließend regelmäßig kritisiert wurde als zu viel, zu wenig, jedenfalls als nicht richtig.

 

Zwischen Niedergang und Fortbestand

Die weiter bestehende große Kluft zwischen Amerika und anderen Nationen hinsichtlich der militärischen Kapazitäten (ver)führt noch immer dazu, kaum Grenzen (an)zuerkennen hinsichtlich der Aufgaben, die Amerika übernehmen könnte oder sollte. Aber zugleich sind viele US-Bürger und Politiker höchst skeptisch und ambivalent hinsichtlich der Rolle der USA. Die Verunsicherung über Amerikas „Standing“ war u.a. daran ablesbar, dass in Washington mal Studien zum Niedergang Amerikas und mal Analysen zum Fortbestand seiner einzigartigen und dominierenden Position die Diskussion beherrschten.

Präsident Obama hat versucht, die sich verändernden globalen Realitäten nüchtern einzuschätzen und anzugehen. Seine Skepsis bezüglich militärischer Lösungen brachte ihm bei Freunden wie Gegnern bald den Vorwurf ein, die Macht Amerikas nicht wirklich zu begreifen, geschweige denn sie geschickt zu nutzen.

Der unerbittliche Druck des politischen Betriebs in Washington zwang ihn zugleich dazu, selbst immer wieder Amerikas einzigartige Rolle einschließlich seiner einmaligen militärischen Stärke anzusprechen. Aber diese wie eine rituelle Beschwörung anmutende Bestätigung amerikanischer (Militär)Macht erschwerte zugleich seine u.a. in den als „Pivot to Asia“ sichtbar gewordenen Bemühungen um eine ernste Neuvermessung amerikanischer Interessen und Macht in einer multipolaren Welt mit ihren asymmetrischen Konflikten und der gewachsenen Bedeutung nicht-staatlicher Akteure.

Die aktuellen Debatten in Washington werden durch widersprüchliche Erfahrungen von Macht und Ohnmacht beeinflusst.

Die aktuellen Debatten in Washington werden durch eine schwierige Mischung widersprüchlicher Erfahrungen von Macht und Ohnmacht beeinflusst. Noch immer prägen die 1990er Jahre mit der unerwarteten Vormachtstellung nach dem Ende des Kalten Krieges die Perspektiven. Dies verbindet sich mit der komplett konträren Erfahrung von Verwundbarkeit in Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001.

Hinzu kommt die verunsichernde Erkenntnis, dass Amerikas militärische Überlegenheit in Afghanistan und dem Irak nicht ausgereicht hat, die tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohungen zu beenden. Und schließlich sieht sich Amerika konfrontiert mit dem nur ungenau kartographierten Terrain einer zunehmend multipolaren Welt, in der die aufstrebenden Mächte in Washington wahrgenommen werden als Nutznießer der bestehenden internationalen Ordnung und zugleich als Herausforderer des Garanten dieser Ordnung, den USA. Amerikas westliche Partner hingegen gelten vielen als Trittbrettfahrer, die einen zu kleinen Anteil der Verantwortung schultern.

Die Washingtoner erwarten von sich und ihrem Land ungebrochen, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Während einer Diskussion über die Ukraine Krise Anfang Mai 2014 fasste der damalige amerikanische Verteidigungsminister, Chuck Hagel, das allgemein geteilte Gefühl der „Verantwortung vor der Geschichte” wie folgt zusammen: „Dies ist unsere Epoche – wir dürfen nicht scheitern. Zukünftige Generationen werden registrieren, ob wir alles getan haben, um in unsere Bündnis zu investieren, denn [falls nicht] werden wir von zukünftigen [Generationen] hart ins Gericht genommen werden.”

Mitunter hatten diese Debatten eine alptraumhafte Qualität. Für viele Beobachter waren die sich häufenden „geopolitischen Konflikte alle miteinander verbunden“. Das Problem, so argumentierten viele, bestehe darin, dass Amerika sich eine Nicht-Intervention nicht leisten könne. Denn Freunde wie Gegner beobachteten ständig das Handeln der USA. Eine Nicht-Intervention würden sie als mangelnde Entschlossenheit werten.

In der Hoffnung auf Entlastung riefen US-Politiker folglich immer dringlicher ihre westlichen Partner (und insbesondere Deutschland) dazu auf, mehr Verantwortung zu übernehmen. Aber wenn diese Partner eigene Ansätze verfolgen (wie Deutschland während der Eurokrise), reagieren Amerikaner enttäuscht, verunsichert und mit scharfer Kritik.

 

Ein Jahrzehnt des Stresses

Es war daher nicht überraschend, dass mir das Amerika, das wir ab 2009 erlebten, erschöpft und niedergeschlagen erschien. Für über ein Jahrzehnt hat die amerikanische Bevölkerung „Megastress“ erlebt: von den Terroranschlägen über zwei blutige, ergebnislose Kriege bis zur der Finanzkrise mit der darauffolgenden Rezession, die für Teile des Landes und der Bevölkerung de facto eine große Depression war. Außenstehende haben erstaunlich wenig Gespür für das, was die US-Bevölkerung in den letzten Jahren erlebt hat. Sie sehen weiter ein (all)mächtiges, anmaßendes Amerika - eine Sicht, die ohne Frage durch den NSA Skandal, Drohnen-Einsätze und die Folterpraktiken der CIA bestärkt wurde. Innerhalb der USA fühlte sich die Situation anders an.

„9/11“ zerstörte die Jahrhunderte alte Annahme relativ großer Sicherheit dank schützender Ozeane. Normale Bürger beschäftigen sich nicht permanent mit den Terroranschlägen, aber diese Möglichkeit dominiert das politische Denken der Elite, die von der Angst vor einer Wiederholung noch immer umgetrieben wird. Doch die Erweiterung der Machtbefugnisse der NSA ist vielen Amerikanern zutiefst suspekt. In der Presse, in der Regierung, im Kongress, vor Gerichten und von US-Firmen werden die Folgen und Reformen höchst kontrovers debattiert.

Die im Anschluss an 9/11 in Afghanistan und im Irak geführten Kriege haben die gesteckten politischen Ziele nicht erreicht, im Gegenteil. Dies hat das Vertrauen in das US-Militär nicht gebrochen, aber es hat nachhaltige Zweifel an der Umsetzung politischer Ziele mit militärischen Mitteln gesät. In Washington wurde folglich diskutiert, wie man glaubwürdige Abschreckung sog. revisionistischer Mächte verbinden könnte mit ihrer Einbindung in globale Verantwortung, da sie sowohl Gegner als auch Partner sind.

Vor allem infolge einer hartnäckigen innenpolitischen Polarisierung waren die Aussichten auf Wandel in den letzten Jahren gering.

In den ersten Jahren nach „9/11“ schien es der US-Wirtschaft gut zu gehen. Doch die Finanzkrise offenbarte ein Kartenhaus, dessen Zusammenbruch die Lebensgrundlagen und Zukunftsaussichten von Millionen von Amerikanern zerstörte. Der berühmte Investor Warren Buffet beschrieb die Krise als „wirtschaftliches Pearl Harbor”. Es verschärfte die persönliche Rezession, die viele Amerikaner bereits seit Jahrzehnten durch stagnierende Löhne bei gleichzeitig steigenden Kosten für zentrale Dienstleistungen wie Krankenversicherung und Bildung erlebten. Trotz besserer Wirtschaftsdaten glaubten noch Ende 2013 laut Umfragen 53 Prozent der Amerikaner, das Land befände sich weiter in einer Rezession.

Amerikaner haben immer wieder – zuletzt mit der Reform der Krankenversicherungen – ihre Reformfähigkeit bewiesen. Die amerikanische Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten „inklusiver“ geworden: Frauen und Angehörige von Minderheiten gelangen mittlerweile in einflussreiche Positionen. Doch dies gleicht Probleme in Folge von massiv gewachsener Ungleichheit und zurückgegangener sozialer Mobilität nicht aus. Ein progressiv eingestellter Präsident voll guter Absichten allein kann den „Wandel“ nicht herbeiführen, den sich seine Wähler erhofften.

Vor allem infolge einer hartnäckigen innenpolitischen Polarisierung waren die Aussichten auf Wandel in den letzten Jahren gering. Es war, als stecke Amerika kollektiv in einer Debatte fest, in der es immer wieder (und folglich mit wachsender Bitterkeit) um die gleichen Fragen geht. Konservative Republikaner, die noch immer gern die sozial-staatlichen Neuerungen des „New Deal” aus den 1930er Jahre kippen würden, beharren auf niedrigeren Steuern und Deregulierung als Antwort auf alle Fragen. Progressive Demokraten sehen in eben dieser Politik die Gründe für die aktuelle Krise im Land. Darauf reagieren die Konservativen mit der Feststellung, dass ihre Politik noch nie wirklich konsequent implementiert worden sei und folglich an der Krise nicht schuld sein könne. Dem erwidern die Demokraten, dass Steuersenkungen und Deregulierung nur den Interessen einer kleinen Minderheit dienen.

 

Trotz allem: Gesellschaftlicher Fortschritt

Gesellschaftlichen Fortschritt hat es jedoch trotz dieser bitteren Konfrontation gegeben. So ist es z.B. gelungen, der Forderung nach Gleichberechtigung von Homosexuellen zum Durchbruch zu verhelfen, in dem die LGBT-Bewegung sie mit den Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft verknüpfte, sprich den zentralen Ideen der Unabhängigkeitserklärung von Freiheit, Gleichheit und dem Streben nach Glück.

Nicht alle anstehenden Probleme lassen sich so angehen wie die Bürgerrechte von Homosexuellen. Viele verlangen Kompromisse, doch sie sind schwer zu haben. Konservative und Progressive nehmen die Lage im Land grundverschieden wahr – sie sehen quasi verschiedene Realitäten. Die Gräben in der Gesellschaft kommen auch regional zum Ausdruck: links-liberale Bundesstaaten und Großstädte. Sie bauen die Krankenversicherung aus und erhöhen den Mindestlohn, konservative Bundesstaaten bekämpfen hingegen die Umsetzung der Krankenversicherung und beschneiden die Rechte von Gewerkschaften.

Sowohl Amerikas Kritiker als auch seine glühendsten Verteidiger bestehen oft auf schwarz-weiß Malerei, statt eine komplexe, sich widersprechende Realität zu zulassen.

Unter diesen Bedingungen die politische Mitte der Gesellschaft zu halten, stellt keine geringe Leistung von Präsident Obama dar. Er hat dabei wenig Unterstützung. Im Kongress fungierten jahrzehntelang moderate Republikaner und moderate Demokraten als Brückenbauer zwischen den politischen Lagern. Vertreter der politischen Mitte sind im Kongress derzeit eine arg geschrumpfte Minderheit – nicht aber bei den amerikanischen Bürgern. Obwohl vor allem die extrem konservativen Wähler und Politiker den Preis für Kompromisse massiv in die Höhe getrieben haben, erwarten die meisten Amerikaner weiter genau das: Kompromissfindung und pragmatisches Anpacken der unübersehbaren Probleme des Landes von reparaturbedürftiger Infrastruktur über die erdrückende Schuldenlast vieler Studierenden bis zu besseren Löhnen.

Die Mehrheit der Wähler lässt sich als „konservative Demokraten“ beschreiben. Die politischen Vorschläge der Demokraten – von neuen Waffenkontrollgesetzen über eine Einwanderungsreform bis zur Anhebung des Mindestlohns – wird von einer klaren Mehrheit (also auch von vielen Republikanern) befürwortet. Trotz dieser Mehrheiten bleiben Reformen stecken. Dazu tragen bei: die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung überproportionale Macht ländlicher, dünn besiedelter, konservativer Bundesstaaten im US-Senat; das sog „gerrymandering“, sprich die Manipulation der Wahlbezirke im Repräsentantenhaus, und die Überflutung der Wahlen mit Spendengeldern in Folge von Entscheidungen der konservativen Mehrheit des Obersten Gerichtshofs, die Geld als eine Form von „freier Rede“ definiert hat.

Oft sind aktuelle Kritiken an US-Politik Variationen altbekannter Themen. Außenstehende haben den amerikanischen Kapitalismus und Amerikas Macht schon oft als hässliche, bedrohliche Dinge beschrieben. Und sie haben oft – nicht ohne eine gewisse Selbstgefälligkeit – darauf verwiesen, dass Amerikas Lebenswirklichkeit von seinen selbstbewusst verkündeten Idealen oft erheblich abweicht. Wer Amerika aktuell beschuldigt, sich zu einer Plutokratie mit dysfunktionaler Politik zu entwickeln, befindet sich in guter Gesellschaft – viele Amerikaner prangern genau das Gleiche an. Sowohl Amerikas Kritiker als auch seine glühendsten Verteidiger bestehen oft auf schwarz-weiß Malerei, statt eine komplexe, sich widersprechende Realität zuzulassen. „Widerspreche ich mir selbst?“ fragte einmal der amerikanische Dichter Walt Whitman und fuhr fort: „Nun gut, ich widerspreche mir. Ich bin groß, ich bestehe aus Heerscharen“.