Am 22. Mai 2023 gab der armenische Premierminister Nikol Paschinjan auf einer Pressekonferenz einige Erklärungen ab, die für einen armenischen Staatschef beispiellos sind. Armenien ist bereit, die 86 600 Quadratmeter umfassende territoriale Integrität Aserbaidschans anzuerkennen, zu der auch Bergkarabach gehört. Allerdings müssten die Rechte und die Sicherheit der Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach im Rahmen eines Dialogs zwischen Baku und Stepanakert erörtert werden, fügte Paschinjan hinzu.
Bereits nach dem Prager Vierertreffen sowie vor kurzem im armenischen Parlament hatte er die Frage der territorialen Integrität angesprochen, wenn auch nicht derart ausdrücklich. Nikol Paschinjan zufolge ist die Unterzeichnung eines Friedensvertrags oder eines Abkommens über die Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan also nicht mehr weit entfernt. Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass solche Hoffnungen geschürt werden. Im Jahr 2022 gab es ähnliche Äußerungen, in denen betont wurde, dass der Friedensvertrag bis zum Ende des Jahres abgeschlossen werden könnte.
Aufgrund des Einmarschs Russlands in der Ukraine und aufgrund der Angriffe Aserbaidschans auf Armenien haben die EU und die USA Initiativen ergriffen, um ihre Rolle in der Region zu stärken. Sowohl Brüssel als auch Washington haben eine alternative Arena für Verhandlungen zwischen Jerewan und Baku vorgeschlagen. Und obwohl die EU sehr deutlich gemacht hat, dass es sich um einen Vermittlungsversuch handelt, der nicht mit Russland konkurriert, und dass sie kein Problem damit hat, wenn parallel Verhandlungen mit Moskau stattfinden, geht man in Armenien immer noch davon aus, dass es sich um konkurrierende Verhandlungsarenen handelt. Inzwischen hat Bergkarabach eine UN-mandatierte Friedensmission gefordert. Dies ist das ultimative Sicherheitsziel, da das Mandat der russischen Friedenstruppen in zwei Jahren ausläuft und dann erneuert werden müsste. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass Baku dem zustimmen wird.
Bis vor kurzem wurden von offizieller Stelle keine Einzelheiten zu den vorgeschlagenen Friedensvereinbarungen bekannt gegeben. Während des letzten Treffens in Brüssel gab der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel jedoch bekannt, dass „die Staats- und Regierungschefs ihr eindeutiges Bekenntnis zur Erklärung von Alma-Ata von 1991 und zur jeweiligen territorialen Integrität Armeniens (29 800 Quadratkilometer) und Aserbaidschans (86 600 Quadratkilometer) bekräftigten“. Dem Treffen in Brüssel waren viertägige intensive Verhandlungen zwischen den Außenministern Armeniens und Aserbaidschans in Washington vorausgegangen. Die Pressekonferenz von Nikol Paschinjan war ein Versuch, die allgemeine Logik der Verhandlungen zu erklären.
Im Laufe der Geschichte gab es zahlreiche Versuche zur Lösung des Konflikts.
Paschinjan begründete die Notwendigkeit harter Entscheidungen über neue Zugeständnisse nicht etwa mit einer Niederlage Armeniens unter seiner Führung, sondern mit den nicht sehr soliden rechtlichen Grundlagen, auf denen Armenien über den Bergkarabach-Konflikt verhandelt. Dies ist eher ein populistischer Vorstoß, der die mögliche Einheit der armenischen Gesellschaft noch mehr behindert. Im Laufe der Geschichte gab es zahlreiche Versuche zur Lösung des Konflikts mit unterschiedlichen Plänen, die sowohl von der Minsker Gruppe der OSZE als auch von den USA und Russland getrennt angeboten wurden.
Obwohl keiner der Pläne die Unabhängigkeit Bergkarabachs sicherstellte, sprach auch keiner von ihnen von einer direkten Kontrolle Bakus über das Gebiet. Für die armenische Regierungspartei scheint es jedoch einfacher zu sein, sich jetzt auf die Vorgängerregierungen zu berufen, um die aktuellen Zugeständnisse zu rechtfertigen. Diese Taktik schürt interne Auseinandersetzungen und führt dazu, dass sich die politische Debatte nicht auf die Gegenwart und Zukunft Armeniens, sondern auf die Vergangenheit des Konflikts konzentriert.
Die Erklärungen werden in einer Situation abgegeben, in der das wichtigste Sicherheitsproblem Armeniens die Möglichkeit einer weiteren groß angelegten Aggression durch Aserbaidschan ist. Sie könnte es dem Land ermöglichen, sein strategisches Ziel der Öffnung eines Korridors im Süden Armeniens zu erreichen. Die bedrohliche Rhetorik Aserbaidschans wird von politischen Erklärungen über den sogenannten Sangesur-Korridor begleitet, der durch Armenien führt und Aserbaidschan mit seiner exterritorialen Exklave Nachitschewan verbinden würde.
Auch Russland hat ein Interesse an der Öffnung dieses Korridors, da er Handelsverbindungen verbessern und es ermöglichen würde, die Sanktionen via Türkei zu umgehen. In der Erklärung zum Waffenstillstand vom 9. November 2020 wird der Korridor jedoch mit Ausnahme des Latschin-Korridors nicht erwähnt. In den Erklärungen wird auf die Notwendigkeit verwiesen, alle regionalen Verkehrsverbindungen zu öffnen, und Armenien hat Aserbaidschan drei Grenzpunkte angeboten, die Baku jedoch abgelehnt hatte. Für die armenischen Offiziellen sind die Gespräche über den exterritorialen Korridor eine rote Linie. Die jüngsten Gespräche unter der Schirmherrschaft der Eurasischen Wirtschaftsunion haben zudem gezeigt, dass es unterschiedliche Auffassungen über den Wortlaut und die Logik eines „Korridors“ gibt.
Natürlich hat Russland ein großes geopolitisches Interesse daran, den Transit zwischen Aserbaidschan und der Türkei zu überwachen.
Die Schlüsselfrage ist also nicht, ob die Transitroute kommt, sondern unter welchen Bedingungen und mit welchen rechtlichen Formulierungen. Natürlich hat Russland ein großes geopolitisches Interesse daran, den Transit zwischen Aserbaidschan und der Türkei zu überwachen, und in der Erklärung vom 9. November 2020 wird der russische Inlandsgeheimdienst FSB als Verantwortlicher für die Sicherheit des Transits genannt. Angesichts der anhaltenden Konfrontation mit dem Westen wird dies eine wichtige Transportroute für Russland sein, um seinen strategischen Partner Türkei unter Umgehung Georgiens zu erreichen und die Rolle Georgiens als Transitland zu untergraben.
Parallel dazu steht Bergkarabach selbst seit über vier Monaten unter aserbaidschanischer Blockade. Die russischen Friedenstruppen sind dabei nicht in der Lage, den freien Verkehr über den Latschin-Korridor zu gewährleisten, wie in der trilateralen Erklärung vom 9. November vereinbart, da dort ein neuer aserbaidschanischer Kontrollpunkt eingerichtet wurde.
Angesichts der Lage in der Ukraine und der Prioritäten des Westens im Krieg gegen Russland befürchtet die armenische Gesellschaft, dass sowohl die Invasion in Armenien als auch mögliche ethnische Säuberungen in Bergkarabach unbemerkt bleiben oder lediglich von leeren politischen Erklärungen begleitet werden könnten. Obwohl sowohl europäische als auch US-amerikanische Vertreterinnen und Vertreter betonen, wie wichtig es sei, sich mit den Sicherheitsfragen der Menschen in Bergkarabach zu befassen, wurde bisher noch kein internationaler und vertrauenswürdiger Sicherheitsmechanismus öffentlich diskutiert. Und angesichts der systematischen Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan ist es schwer vorstellbar, dass es Sicherheitsgarantien ohne internationale Beteiligung geben kann. Denn der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew spricht offen über seine Absichten einer ethnischen Säuberung.
In der Atmosphäre direkter Sicherheitsbedrohungen gibt es in der armenischen Gesellschaft ein Extrem des reinen „Erwartungsmanagements“ gegenüber dem Westen einerseits und gegenüber Russland, in Karabach und unter den oppositionellen Parteien und Gruppen Armeniens andererseits. Mit dem neuen Hoffnungsschimmer, den die Stationierung der EU-Beobachtungsmission auf der armenischen Seite der Grenze zu Aserbaidschan gebracht hat, besteht bei einigen politischen Gruppen und in der Gesellschaft insgesamt die Annahme, dass die Anerkennung der gegenseitigen territorialen Integrität unter den westlichen Erleichterungen zumindest die Sicherheit Armeniens gewährleisten wird.
Ebenso herrscht in Oppositionskreisen und auch in Bergkarabach immer noch die Illusion vor, dass Russland dem nicht anerkannten Land zu einer Anerkennung verhelfen oder zumindest die Frage seines Status aufschieben wird. Mit dieser Illusion im Hinterkopf geht man davon aus, dass die Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan in den westlichen Verhandlungsarenen mögliche Schritte Russlands in der Region behindern und den Russen ein Alibi verschaffen, ihre Verpflichtungen als Friedenstruppe nicht zu erfüllen. Diese extremen Erwartungen können den Verhandlungsprozess behindern und das Risiko einer militärischen Eskalation erhöhen.
In diesem Zusammenhang gibt es auch in westlichen Expertenkreisen die absurde Annahme und Fehleinschätzung, dass mit der Anerkennung von Bergkarabach als Teil Aserbaidschans und mit dem Abzug der russischen Friedensmission der Konflikt gelöst wäre und Russlands Bedeutung in der Region sinken würde. Das Fehlen einer angemessenen internationalen Sicherheitsgarantie für die Bevölkerung Bergkarabachs wird es Aserbaidschan jedoch ermöglichen, die ethnische Säuberung der Region durchzuführen. Damit wird der Konflikt nicht enden, sondern nur seine Geografie geändert. Die beiden Möglichkeiten – blutiger Massake oder erzwungene Deportationen – werden die Rolle Russlands in der Region sowohl militärisch als auch politisch noch weiter stärken. Russland wird auch in der neuen Phase des Konflikts die einzige Macht mit „boots on the ground“ sein und dem Image des Westens schaden, der nicht in der Lage ist, die Rechte der Bürger von Bergkarabach zu schützen.
Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer.