Seit der südkoreanische Geheimdienst vor wenigen Tagen erstmals darüber berichtete, werden immer mehr Details bekannt. Der Meldung zufolge befinden sich bereits Tausende nordkoreanische Soldaten in Russland. Die Auswertung von Satellitenbildern soll zeigen, dass russische Kriegsschiffe 1 500 nordkoreanische Spezialkräfte zwischen 8. und 13. Oktober in den Hafen von Wladiwostok brachten. Angeblich erhielten sie russische Uniformen und gefälschte Dokumente. Laut dem amerikanischen Verteidigungsministerium befinden sich mittlerweile 10 000 Soldaten aus Nordkorea in Russland.

Dass Nordkorea Waffen, vor allem Artilleriemunition, an Russland liefert, ist seit längerem bekannt. Schon im März erklärten die USA, dass Nordkorea 7 000 Container Waffen an Russland geliefert habe. Inzwischen meldet Südkorea die Lieferung von 13 000 Containern mit Munition, panzerbrechenden Waffen und ballistischen Raketen kurzer Reichweite seit August 2023. Nicht unwahrscheinlich also, dass zusammen mit den Waffenlieferungen nordkoreanische Rüstungstechniker die russischen Streitkräfte in deren Gebrauch eingewiesen hätten. Doch die jetzt genannten Zahlen von insgesamt bis zu 12 000 Soldaten sind eine neue Dimension.

Drei Szenarien sind denkbar: Erstens könnte es tatsächlich bei der Entsendung von Waffenspezialisten bleiben, die vorrangig technische Unterweisungen durchführen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass diese in so großer Zahl benötigt werden. Zweitens könnten nordkoreanische Soldaten in die Kämpfe eingreifen, Russland jedoch nur auf russischem Territorium und den von Russland annektierten Gebieten der Ukraine unterstützen. Nordkorea hat die von Russland beanspruchten Regionen im Donbass als unabhängig anerkannt, und Ziel wäre vor allem, gegen die überraschende Gegenoffensive der Ukraine auf russischem Gebiet zu kämpfen. Drittens könnten nordkoreanische Streitkräfte Seite an Seite mit russischen Einheiten an vorderster Front eingesetzt werden.

Was sind die Motive der Regierungen in Moskau und Pjöngjang? Auf die Frage nach dem Zweck antwortete US-Verteidigungsminister Austin schmallippig: „Das bleibt abzuwarten.“ Selbst das dritte Szenario erscheint nicht unrealistisch, wenn man die Entwicklungen der russisch-nordkoreanischen Beziehungen seit Russlands vollumfänglichem Angriff im Februar 2022 betrachtet und ebenso die russischen wie die nordkoreanischen Interessen an einem solchen Deal berücksichtigt.

Im Juni 2024 reiste der russische Präsident Putin zu einem zweitägigen Besuch nach Nordkorea. Mitte September 2023 hatte der nordkoreanische Machthaber Kim Jong-un den Fernen Osten Russlands besucht. Bei beiden Reisen hatte die Rüstungskooperation oberste Priorität. Der Bedarf an konventioneller Artilleriemunition und Raketen der russischen Streitkräfte im Krieg gegen die Ukraine ist sehr groß. Artilleriegranaten und andere konventionelle Munition sind im Reich der Kim-Dynastie offenbar reichlich vorhanden. Im Gegenzug ist Nordkorea mit seinem ehrgeizigen Atom-, Raketen- und Satellitenprogramm besonders scharf auf Russlands Technologie. Putin sprach von den „Möglichkeiten“ einer militärischen Zusammenarbeit. Man strebe eine strategische Kooperation an, die nun Realität geworden ist. Die russische Duma hat inzwischen die strategische Partnerschaft mit Nordkorea ratifiziert.

Wer glaubt schon Moskaus Versprechungen angesichts der Invasion in der Ukraine?

Kims Programm beim Besuch im September 2023 war aufschlussreich. Putin empfing Kim im Kosmodrom Wostotschny in Sibirien. Nach dem Treffen mit Putin präsentierte Russlands damaliger Verteidigungsminister Sergej Schoigu dem nordkoreanischen Diktator auf einem Militärflughafen in der Nähe von Wladiwostok moderne Überschall-Kampfjets, die Atomwaffen transportieren können. Darüber hinaus zeigte er ihm Kinzhal-Raketen, die mit konventionellen und nuklearen Sprengköpfen ausgestattet werden können. Kim besuchte auch die russische Pazifikflotte mit ihren Atom-U-Booten in Wladiwostok.

Putin machte damals keine Zusagen für Rüstungstechnologielieferungen an Nordkorea, und versprach sogar, die UN-Sanktionen einzuhalten, die unter anderem auch ein Verbot der Lieferung von Waffen und Militärtechnologie umfassen. Aber wer glaubt schon Moskaus Versprechungen angesichts der Invasion in der Ukraine? Aufgrund der nordkoreanischen militärischen Schützenhilfe kann sich Kim Jong-un sicher sein, dass jedweder Versuch im UN-Sicherheitsrat, die Sanktionen gegen Nordkorea zu verschärfen, von Russland durch ein Veto verhindert werden würde.

Russland hat im Ukrainekrieg hohe Verluste erlitten, mit Schätzungen von bis zu 600 000 verletzten oder getöteten Soldaten. Auch mit Desertationen kämpfen die russischen Streitkräfte. Die Rekrutierungsvorgaben des Kremls wurden nie erreicht, auch weil sich viele qualifizierte Fachkräfte wegen des Krieges ins Ausland abgesetzt haben. Nordkoreanische Soldaten könnten diese Lücken mit den genannten Zahlen zwar nicht schließen, wohl aber an manchen Frontabschnitten Abhilfe schaffen. Nordkorea unterhält mit knapp 1,3 Millionen aktiven Soldaten eine der größten Armeen der Welt und verfügt damit über ein großes Unterstützungspotenzial.

Für Nordkorea könnten drei Motive eine Rolle spielen. Ähnlich wie bei der regelmäßigen Entsendung nordkoreanischer Arbeitsmigranten nach Russland spielen wirtschaftliche Gründe für den Einsatz der Soldaten eine Rolle. Pjöngjang ist auf die Auslandsgelder angewiesen. Zweitens und noch bedeutsamer ist für Kim Jong-un aber, die internationale Isolierung des Landes abzumildern. Wenn Russland die vom Sicherheitsrat verhängten Sanktionen offen ignoriert, werden möglicherweise auch andere Länder dem Beispiel folgen und könnten damit die seit Jahrzehnten darnieder liegende Wirtschaft Nordkoreas ankurbeln.  Drittens, so die Befürchtung in Südkorea, würden Nordkoreas Streitkräfte während ihres Einsatzes in Russland wichtige Kriegserfahrungen sammeln, die ihnen bei einer innerkoreanischen Auseinandersetzung nützlich wären.

Die Unfähigkeit Nordkoreas, seine Handelsschulden in Moskau zu begleichen, führte zu politischen Spannungen.

Die Beziehungen zwischen Nordkorea und Russland – bzw. der ehemaligen Sowjetunion – sind von einem ständigen Auf und Ab geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion Nordkoreas engster Verbündeter, die Zusammenarbeit im Nuklearsektor reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Bis 1973 lieferte die Sowjetunion die notwendigen Brennstäbe für Atomreaktoren. Später drängte Russland zusammen mit den USA und China wiederholt auf einen Stopp des nordkoreanischen Atomprogramms. Mit Gorbatschows dramatischen politischen Reformen und dem Zusammenbruch der Sowjetunion veränderten sich die russisch-nordkoreanischen Beziehungen grundlegend. Gorbatschow reduzierte die Militärhilfe, die industrielle Zusammenarbeit, die Nahrungsmittelhilfe und die Energieversorgung auf fast Null. Die Unfähigkeit Nordkoreas, seine Handelsschulden in Moskau zu begleichen, führte wiederum zu politischen Spannungen. Dadurch verlor Nordkorea einen Eckpfeiler seiner wirtschaftlichen Existenz. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzte die Jelzin-Regierung den Sicherheitspakt mit Nordkorea aus.

Präsident Putin stattete Pjöngjang im Jahr 2000 einen viel beachteten Besuch ab und empfing 2001 und 2002 in Moskau Kim Jong-il, den damaligen Präsidenten Nordkoreas und Vater des heutigen Machthabers, um die Beziehungen zwischen den Ländern zu verbessern.

In den sogenannten Sechs-Parteien-Gesprächen zur Denuklearisierung Nordkoreas – mit China, den USA, Nord- und Südkorea, Japan und Russland – drängte Russland sowohl auf Zugeständnisse der Vereinigten Staaten als auch auf einen Stopp des nordkoreanischen Atomprogramms. Moskau machte den Rückzug Nordkoreas aus dem Atomprogramm jedoch nicht zur Bedingung für die eigene wirtschaftliche Zusammenarbeit und bot Nordkorea an, seine Energieengpässe mit Gaslieferungen zu überbrücken. Im Jahr 2006 stimmte Nordkorea zu, ein Konsortium zur Erweiterung und Modernisierung der Eisenbahnlinie zwischen Russland und Nordkorea wiederzubeleben. Diese Zusammenarbeit wurde jedoch abrupt beendet, nachdem Nordkorea im Oktober 2006 seinen ersten Atomwaffentest durchgeführt hatte. Mit der anschließenden UN-Resolution, die auch von China und Russland angenommen wurde, verhängte der UN-Sicherheitsrat umfassende Sanktionen, die bis heute in Kraft sind.

Die aktuelle Annäherung zwischen Moskau und Pjöngjang scheint für beide Seiten Perspektive zu haben. Nach der Rüstungskooperation folgt jetzt der Einsatz von Soldaten. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist ein Zermürbungskrieg, weshalb die nordkoreanischen Waffenlieferungen ebenso wie der Einsatz der Soldaten eine militärisch wichtige Unterstützung für Russland darstellen.