Angesichts der Ereignisse der vergangenen Monate glauben nicht wenige Menschen, dass Donald Trump die Weltordnung zerstört und dabei die Sicherheit Europas, der Ukraine und des Westens untergräbt. Diese Einschätzung fußt hauptsächlich auf den harschen Äußerungen des US-amerikanischen Präsidenten gegenüber einigen Verbündeten, seiner prinzipiellen Weigerung, die Rolle des Weltpolizisten zu übernehmen, sowie auf seinen Alleingängen, beispielsweise bei der Einführung von Zöllen.
Möglicherweise werden diese Schritte tatsächlich einige der Spielregeln in der internationalen Politik verändern. Doch dies muss nicht zwangsläufig die Sicherheit untergraben – häufiger ändern sich einfach die Bedingungen, unter denen die Staats- und Regierungschefs Wege finden, die Sicherheitslage zu stärken. Trump dürfte vermutlich weniger die Weltordnung zerstören wollen als vielmehr die amerikanische Strategie an eine grundlegend veränderte Welt anpassen. Europa wird seinerseits dasselbe tun müssen.
Woher kommt der US-Revisionismus? Kurz gesagt: Er ist das Ergebnis eines langen Neu- oder Umverteilungsprozesses von Reichtum, Einfluss und Macht in der Welt, infolgedessen die USA ihre Hegemonie verlieren und die Welt bipolar wurde. Der seit mehr als 40 Jahren andauernde Aufstieg Chinas hat das Kräfteverhältnis völlig verändert. Heute ist das Reich der Mitte eine wahre Supermacht. Trump sieht die internationale Politik (wie die meisten US-Präsidenten des vergangenen Jahrhunderts) unter realistischen Gesichtspunkten: ständiger Wettbewerb, ein Anspruch auf Macht und die Interpretation einer Weltpolitik, die überwiegend als Nullsummenspiel betrachtet wird. Solange kein Staat den USA in Machtfragen ebenbürtig war, konnte die Strategie der Kooperation und des Engagements funktionieren. Angesichts der veränderten globalen Kräfteverhältnisse muss sie nun jedoch aufgegeben werden.
Was bedeutet das für Europa? Zunächst einmal sollte man sich erinnern, wie man in einer Welt des intensiven Wettbewerbs zwischen Großmächten überlebt. Einst, zum Beispiel im 19. Jahrhundert, waren es europäische Staaten, welche die Standards in Sachen Realpolitik setzten. Später, während des Kalten Krieges, bauten sie dank amerikanischer Sicherheitsgarantien ihre eigenen Volkswirtschaften auf und aus, und schafften es dabei sogar, zu ökonomischen Konkurrenten der USA zu werden. Dazu trugen die Schaffung und die Erweiterung der EU bei. Da Washington heute Verbündete braucht, die Risiken und Kosten mittragen können, müssen die Europäer ihre eigenen Sicherheitskonzepte grundlegend überdenken.
Es geht dabei nicht nur um Geld: Eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben, selbst in erheblichem Umfang, dürfte nicht ausreichen. Wir werden beispielsweise auch die Rolle der normativen Macht der EU, die Bedeutung der „europäischen Werte“ beziehungsweise von Werten im Allgemeinen überdenken, eine neue Doktrin für die Sicherheitspolitik schaffen und die strategischen Beziehungen zu anderen Machtzentren wie China oder Indien eruieren müssen. In einer Welt des erbitterten Wettbewerbs zwischen Groß- beziehungsweise Supermächten wird eine solche Politik wahrscheinlich pragmatisch – und bisweilen sogar zynisch – ausfallen müssen.
Die sich abzeichnende neue Weltarchitektur wird die Schwächen Europas deutlicher zutage treten lassen.
Die sich abzeichnende neue Weltarchitektur wird die Schwächen Europas deutlicher zutage treten lassen. Zu den wichtigsten gehören dabei die Wirtschaft – in der Europa den technologischen Wettstreit mit China und den USA verliert – und Entscheidungsprozesse im Allgemeinen. Ohne einen Ausgleich für diese Schwächen werden Entscheidungen wie die Erhöhung der Verteidigungsausgaben lediglich vorübergehende Effekte haben können.
Vielmehr muss Europa in einem grundlegend realistischen Sinne „stark“ werden. Dies ist eine äußerst große, schwierige Aufgabe, mit einem unvorhersehbaren Ausgang. Nicht nur vis-à-vis Trump, sondern mit Blick auf die gesamte internationale Politik wird in den kommenden Jahren Stärke einen hohen Stellenwert haben. Aus diesem Grund wird übrigens auch Washington nach der heißen Phase des russisch-ukrainischen Krieges den Dialog mit Moskau weiterhin brauchen.
Die Ukraine befindet sich bedauerlicherweise im Epizentrum dieser Veränderungen. Ihre Sicherheit ist nicht garantiert – und kann im Prinzip auch nicht garantiert werden. Das Überleben und das Schicksal kleiner Staaten in der entstehenden internationalen Ordnung hängen von ihrer Fähigkeit ab, das Kräfteverhältnis richtig einzuschätzen, sich an bestehende Widersprüche anzupassen und Allianzen mit stärkeren Staaten zu suchen. In diesem Sinne ist das Ziel der Ukraine, der NATO und der EU beizutreten, verständlich; es war jedoch nie realistisch. Wie Europa wird auch die Ukraine ihre eigene Sicherheitspolitik grundlegend überdenken müssen.
Es ist nicht mehr sinnvoll, sich auf die NATO-Mitgliedschaft und bedingungslose transatlantische Solidarität zu verlassen. Die ukrainischen Sicherheitskonzepte müssen pragmatischer werden, ebenso wie der Dialog mit den Partnern. Die Rolle Europas in den sicherheitspolitischen Überlegungen der Ukraine wächst. Die Schritte der US-Regierung schaffen die Grundlage für eine taktische Annäherung zwischen der Ukraine und der EU, aber es gibt auch keine Garantie dafür, dass Europa die Ukraine so lange wie nötig unterstützen wird. Der tatsächliche Indikator für eine strategische Verschiebung in den Sicherheitsberechnungen könnte die Aussicht auf eine ukrainische EU-Mitgliedschaft sein – wenn auch höchstwahrscheinlich erst nach einem Waffenstillstand.
Derweil erscheint es aktuell mit jedem Tag wahrscheinlicher, dass der Krieg auf Kosten der ukrainischen Interessen „eingefroren“ wird – Interessen, die Trump für unrealistisch hält. In Trumps persönlichem Weltbild sind Abkommen mit Moskau deutlich vielversprechender als eine fortgesetzte, womöglich zeitlich unbegrenzte Unterstützung der Ukraine. Darüber hinaus erscheinen US-amerikanische Sicherheitsgarantien für die Ukraine, in welcher zukünftigen Form auch immer, eher unrealistisch.
Die internationale Ordnung ist stets ein System formeller und informeller Regeln, die den Staaten in ihren Beziehungen zueinander als Richtschnur dienen. Wenn bis zuletzt von einer „regelbasierten Ordnung“ die Rede war, wurden gewisse Konzepte miteinander vermischt: Jede internationale Ordnung basiert auf Regeln – selbst wenn es im Extremfall nur die eine Regel gibt, „dass es keine Regeln gibt“.
Jede internationale Ordnung basiert auf Regeln – selbst, wenn es im Extremfall nur die eine Regel gibt, „dass es keine Regeln gibt“.
In der Version der internationalen Ordnung, die sich aktuell verändert, gab es bislang deutlich mehr Regeln. Zum Beispiel war es den meisten Staaten verboten, Atomwaffen zu erlangen, der Freihandel wurde gefördert und Großmächte führten keine Kriege gegeneinander. Einige dieser Regeln wurden in internationalen Regimen und Institutionen verankert, andere waren informelle, aber dennoch recht robuste und stabile Vereinbarungen. Viele dieser Regeln sind übrigens immer noch in Kraft. Die Destabilisierung der Welt, die Ohnmacht internationaler Organisationen, die Zunahme der Rüstungsausgaben oder die Anzahl sowie Intensität von Kriegen deuten nicht unbedingt auf den Zusammenbruch der internationalen Ordnung hin.
Wenn man bisher von einer „regelbasierten Ordnung“ gesprochen hat, bezog man sich dabei oft auf die besondere Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika, von denen erwartet wird, dass sie die globale Sicherheit gewährleisten und vielleicht sogar für Gerechtigkeit sorgen. Diese Rhetorik ist besonders dort verbreitet, wo man fest mit dem Engagement, den Ressourcen oder der Unterstützung der USA rechnet, sei es in Europa, wo die Menschen an eine zuverlässige und relativ günstige amerikanische Verteidigungsunterstützung gewöhnt sind, oder in der Ukraine, für die die US-Hilfe im Krieg gegen Russland von entscheidender Bedeutung ist.
Gleichzeitig haben die USA natürlich keineswegs immer auf der Seite der Schwachen in Kriege eingegriffen oder für Gerechtigkeit gesorgt. Auch haben sie nicht jedem einzelnen Menschen Sicherheit garantiert. Darüber hinaus haben Versuche, als Weltpolizei aufzutreten, oft zurückhaltende Reaktionen oder auch direkte Kritik hervorgerufen. Das bisherige Engagement der USA in der Weltpolitik war zwar ein wichtiger, aber keineswegs der einzige Faktor der internationalen Ordnung.
Trump möchte die Gesamtstrategie der USA ändern, indem er das Ausmaß dieses Engagements reduziert und sich auf Unilateralismus und das Erzielen relativer Vorteile konzentriert. Auch er sucht weiterhin nach Möglichkeiten, die Sicherheit und den Einfluss der USA zu stärken – vielleicht sogar bis hin zur Wiederherstellung der früheren Hegemonie des Landes. Dabei werden möglicherweise einige Regeln geändert oder sogar gebrochen, aber das ist im Hinblick auf die nationalen Sicherheitsinteressen der USA für ihn von untergeordneter Bedeutung.
Für die internationale Ordnung bedeuten Trumps Schritte, dass sie eine Kettenreaktion auslösen und andere einflussreiche Machtzentren in der Welt dazu veranlassen werden, ihrerseits auf konkurrenzfähige Strategien zurückzugreifen. Diejenigen, die die Signale der sich gerade verändernden Struktur richtig verstehen, werden Erfolg haben. Andere werden die Verlierer sein.
Aus dem Englischen von Tim Steins