Verwirrung, Unmut, Rätselraten und Chaos – so stellt sich, knapp einen Monat nach Verkündung des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan die Stimmung unter Menschenrechtsaktivisten und betroffenen Afghaninnen und Afghanen dar. Das Programm der Bundesregierung sei unausgegoren, intransparent und voller Widersprüche, so die Kritik. Es bedürfe dringend der Nachbesserung. Sonst drohten wichtige Akteure der Zivilgesellschaft gar nicht erst teilzunehmen. Ohne diese aber dürfte es der Bundesregierung schwerfallen, die Aufnahme von bis zu 40 000 Afghaninnen und Afghanen wie geplant bis zum Ende der Legislaturperiode durchzuführen. Denn zivile Hilfsorganisationen und Vereine sollen der Dreh- und Angelpunkte bei der Aufnahme von bis zu 1 000 Personen im Monat sein.
Man muss kein Adept einer offenen Einwanderungspolitik sein, um festzustellen, dass das Bundesaufnahmeprogramm vor handwerklichen Fehlern strotzt, die eine Umsetzung von Anfang an erschweren dürften. Bewährt sich dabei das neue Bündnis aus Politik und Zivilgesellschaft, auf das die Bundesregierung setzt? Sollte der Pakt mit der Zivilgesellschaft nicht funktionieren, droht ein Rückschlag in Sachen Migrations- und Integrationspolitik. Über Monate vertagte Konflikte brechen bereits jetzt neu auf. Aus dem Chaos könnte ein politischer Krimi werden. Dann nämlich, wenn fehlende Transparenz und mangelnder Wille Menschen am Hindukusch erneut zu Opfern politischer Widersprüche machen.
Zurzeit zögern etwa Pro Asyl und Kabul Luftbrücke, dem Programm beizutreten, also zwei der maßgebenden Akteure bei der Aufnahme bedrohter Afghanen seit letztem Jahr. Andere Hilfsorganisationen bezweifeln, ob das Programm afghanische Aktivistinnen und Aktivisten gezielt vor der Gewalt der Taliban retten kann. Zu befürchten sei vielmehr eine Lotterie unter Zehntausenden registrierter Fälle der letzten Wochen und Monate. Chancen auf Aufnahme hätten dabei vor allem jene Afghanen, die bereits auf der Liste einer deutschen Hilfsorganisation stünden. Auch sie müssten unter Umständen aber Jahre auf eine Aufnahme warten.
Selbst die zuständigen Ministerien – das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt – gestehen die Mängel im Programm ein. Warum dann das unfertige Werk zum jetzigen Zeitpunkt? Der Schaden der politischen Kommunikation ist offensichtlich. Mehrmals wurde das Aufnahmeprogramm vor allem wegen des Ukraine-Kriegs verschoben. Nun will die Ampel beim Schutz von Migration und Menschenrechten punkten. Fraglich ist, um welchen Preis?
Zurzeit zögern etwa Pro Asyl und Kabul Luftbrücke, dem Programm beizutreten.
Im Kern sieht das Bundesaufnahmeprogramm folgendes Verfahren vor: Zielgruppe sind besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan (ohne dass die Kriterien für „Gefährdung“ ausreichend definiert worden wären): Aktivistinnen und Aktivisten für Frauen- und Menschenrechte, aus den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Kultur und Sport. Dazu Personen, die sich in Wissenschaft, Bildung oder der LGBTQI-Community besonders exponiert haben und als individuell gefährdet gelten. Oder die aufgrund ihrer Religion verfolgt werden.
Nur Menschen mit Aufenthalt in Afghanistan sollen in Betracht kommen. Eine individuelle Antragstellung, wie von Kritikern gefordert, ist nicht vorgesehen. Vielmehr vergibt der Bund das Vorschlagsrecht an meldeberechtigte Stellen der deutschen Zivilgesellschaft. Wer eine meldeberechtigte Stelle ist, definiert die Bundesregierung. Und zwar auf Basis früherer Erfahrungen mit Hilfsorganisationen, die sich seit letztem Jahr für die Rettung von Afghanen in Not engagieren. Diese sollen für den Bund die nötigen Informationen über die Personen sammeln und anschließend in ein IT-Portal der Bundesregierung einpflegen. Dieses erstellt dann, auf Grundlage eines Punktesystems und auf Basis von Algorithmen, eine Integrationsprognose für jede registrierte Person. Kritiker halten den Fragebogen, der als Grundlage für die Entscheidungen dient, allerdings in einer Reihe von Punkten für wesensfremd. Tatsächlich überprüfen lassen sich aktuelle Gefährdungslagen ohnehin in vielen Fällen kaum. So dürfte es zu intransparenten Aufnahmebescheiden und schwer nachvollziehbaren Ablehnungen kommen.
Und es gibt weitere Hindernisse. So rätseln Hilfsorganisationen und mit der Materie befasste Juristen, welche der existierenden Namens-Listen in welcher Reihenfolge bedient werden sollen. Auf dem Tisch liegen erstens ältere Fälle von Ortskräften, die unverändert auf Evakuierung warten. Zudem weitere Tausende Fälle, die vor Verkündung des Aufnahmeprogramms eingingen. Und schließlich Zehntausende neuer Fälle von Afghanen, die sich seit Verkündung des Programms am 17. Oktober online registriert haben. Die Möglichkeit dazu bieten Hilfsorganisationen wie Luftbrücke Kabul, Reporter ohne Grenzen oder Mission Lifeline auf ihren Webseiten. Der Andrang im Netz war so groß, dass die Registrierungslinks, die lediglich eine erste Evaluierung ermöglichen sollten, vorerst wieder abgeschaltet sind.
Die hohe Anzahl erschwert das Dilemma zusätzlich. Denn Organisationen wie Pro Asyl und Kabul Luftbrücke wollen, wie sie sagen, nicht die Rolle eines Gatekeepers spielen, der die große Masse von Antragstellern ablehnen muss. Problematisch dabei: Das Sammeln, Filtern und Übermitteln von Informationen durch meldeberechtigte Stellen an die Bundesregierung sind nach Auffassung von Juristen hoheitliche Aufgaben. Für deren Übertragung bedürfte es also einer rechtlichen Grundlage. Diese aber fehle bislang, so Kritiker.
Schwierige und schwerwiegende Fragen drohten komplett auf die Zivilgesellschaft abgewälzt zu werden.
Meldeberechtigte Helfer fürchten umgekehrt, für die Sammlung und Klassifizierung der personenbezogenen Daten in Haftung genommen zu werden. „Was, wenn sich herausstellt, dass jemand, der sich als schwul meldet, tatsächlich gar nicht der LGBTQI-Community angehört?“, so fragt ein Helfer. „Werden wir dann als Organisation mithaften? Was, wenn die Person in Deutschland straffällig wird?“
Es sei ihm unerklärlich, so ein Jurist, wie sich Teile der Zivilgesellschaft, auf diesen Deal mit der Bundesregierung einlassen konnten. Weitere schwierige und schwerwiegende Fragen drohten komplett auf die Zivilgesellschaft abgewälzt zu werden. Nach Ansicht von Kritikern betreibt die Bundesregierung mit dem Programm ein fragliches Outsourcing von Zuständigkeiten.
Zwar ist zur Bearbeitung aller Fälle eine Koordinierungsstelle im Programm vorgesehen, die Fördergelder von rund drei Millionen Euro und rund ein Dutzend hauptamtliche Mitarbeiter erhalten soll. Aber der Kern des Mammutprojekts lässt sich damit nicht ausreichend stemmen. „Das wird so nicht funktionieren“, so der juristische Berater eines betroffenen Vereins, der anonym bleiben möchte.
Das größte Problem bei dem geplanten Outsourcing: Vielen der Hilfsorganisationen fehlen Personal und Mittel, um die einlaufenden Anfragen über längere Zeit effektiv zu bearbeiten und zu betreuen. Schon jetzt melden viele von ihnen, sie seien bereits an den Grenzen ihrer Kapazitäten. Kommunikation und Austausch unter den Stellen müssen jedoch dauerhaft gewährleistet sein. Dafür fehlen, abgesehen von der Koordinierungsstelle, bislang die finanziellen Mittel und ein Personalplan. Betroffene fragen etwa: Müssten nicht jene Teile der Zivilgesellschaft, die der Regierung die Arbeit abnehmen, auch ein Honorar bekommen für ihre Leistung – so wie der TÜV für seine Inspektionen?
Für höchst problematisch halten Menschenrechtler außerdem den Passus, nach dem nur Aufnahme finden soll, wer sich zum Zeitpunkt der Antragstellung in Afghanistan aufhält. Afghaninnen und Afghanen, die sich aufgrund früherer (deutscher) Zusicherungen bereits in Nachbarstaaten wie Iran oder Pakistan befinden, wären damit ausgeschlossen. Diese Personen zur Rückkehr nach Afghanistan aufzufordern, ist den Betroffenen kaum zuzumuten. Die Drittstaatenregelung sei höchst problematisch, erklären Juristen folgerichtig, auch weil sie eine hohe Zahl von Personen in Not betreffe. So droht gefährdeten Afghanen, die sich zurzeit mit oder ohne Ausweisdokumente in Pakistan aufhielten, die Abschiebung zurück in ihre Heimat. Fakt ist auch, dass die De-facto-Machthaber in Afghanistan zurzeit keine Pässe ausstellen. Und falls doch, dann müssen dafür Schmiergelder in erheblicher Höhe aufgebracht werden.
Fakt ist auch, dass die De-facto-Machthaber in Afghanistan zurzeit keine Pässe ausstellen.
Hinzu kommt die zunehmend angespannte Lage im Iran. Was, wenn Deutschland von dort bald gefährdete Personen und Aktivisten aufnehmen müsste? Stünde dann die Anzahl der Afghanen im Aufnahmeprogramm womöglich zur Disposition oder wird es dann ein zusätzliches Kontingent geben? Die Bundesregierung steckt hier in einem Dilemma, für das es noch eine Lösung braucht. Je früher diese kommt, desto besser. In Kabul, so berichtete die taz, betreiben mutmaßliche Betrüger unter dem Label IOMA bereits ihr Unwesen mit dem Bundesaufnahmeprogramm. Spuren der mutmaßlichen Betrüger führen auch nach Argentinien. Die unklare Kommunikation der Bundesregierung, so die Kritik der Zivilgesellschaft, erleichtere Betrügern das Geschäft.
Grundlegend zur Verwirrung trägt auch bei: Bis heute heißt es auf der offiziellen Webseite zum Menüpunkt „Aufnahmeanordnung“, dass diese in Kürze veröffentlicht werde. Dies steht weiterhin aus. Eine Anordnung ist aber nötig, damit die Aufnahmen losgehen können, so ein Jurist: „Ohne eine Bundesaufnahme-Anordnung keine gesetzliche Grundlage, mit der das Auswahlverfahren richtig losgehen könnte.“
Aufgrund all dieser Unsicherheiten ist auch bei Afghaninnen und Afghanen die Verwirrung entsprechend groß. Helfer aus der Zivilgesellschaft entschuldigen sich bei ihnen. Etwa bei Ortskräften, die seit dem vergangenen Jahr Aufnahme gefunden haben und die gehofft hatten, das Aufnahmeprogramm würde ihre Familienzusammenführung erleichtern. Diese ist zwar – was mögliche Härtefälle angeht – möglich, allerdings kaum für Fälle auf älteren Listen, wie es vom zuständigen Ministerium heißt. Der Umgang mit Härtefällen in den letzten Monaten wirft weitere Fragen auf. So heißt es von ziviler Seite, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) habe über die Härtefälle mitentschieden. Doch die GIZ ist eine unmittelbar regierungsnahe Organisation, nicht Teil der Zivilgesellschaft im eigentlichen Sinn.
Kommende Konfrontationen zwischen Politik und Zivilgesellschaft scheinen so vorprogrammiert, die gewünschte Zusammenarbeit schon zu Beginn ein brüchiges Bündnis. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob beide ihrer Verantwortung für die Menschen in Afghanistan gerecht werden. Fakt ist: Das Quorum von 1 000 Personen, die pro Monat Aufnahme finden sollen, ist ein politischer Gnadenakt, kein Rechtsanspruch.
Für gefährdete Afghaninnen und Afghanen mit Familienangehörigen könnten Landesaufnahmeprogramme eine Alternative sein. Schleswig-Holstein, Bremen, Berlin, Thüringen und Hessen haben solche beschlossen, ergänzend zum Bundesaufnahmeprogramm. Auch hier bedarf es allerdings der Zustimmung des Bundes. Bislang ist unklar, ob und wann diese kommt.